Charlotte Sander

Brachial (6)

Mit der Zeit habe ich gelernt, mich den Gegebenheiten anzupassen… oder wie heißt es so schön? Der Mensch ist ein Gewohnheitstier…
Allerdings stelle ich neben dem, was mir täglich widerfährt, fest, dass ich es kaum noch ertragen kann, wie es in unserem Haus aussieht. Dadurch, dass gewisse Dinge nur in bestimmten Zuständen berührt werden dürfen und eine extrem penible Organisation hierfür notwendig ist, liegen und stehen überall Sachen herum, die eben dort verweilen, bis der Zeitpunkt da ist, sie zu berühren.
 
Zum Beispiel ist da die Wäsche. Es ist ein riesiger Berg, und ich weiß so langsam nicht mehr, wie ich ihn weg bekommen soll. Wenn ich schmutzige Wäsche berühre, so muss ich danach duschen; dann bin ich sauber, um dann irgendwann die Wäsche aus der Waschmaschine in den Wäschetrockner zu stecken oder sie aufzuhängen. Wenn ich danach nicht extra wieder duschen möchte, dann muss ich in einem sauberen Bereich (am besten im Wohnzimmer) darauf warten, bis dass die Wäsche fertig ist, so dass ich sie zusammen legen und in den Schrank räumen kann. Würde ich danach noch eine Wäsche machen wollen, so ginge die ganze Tortur von vorne los… Wäsche rein, duschen, warten, warten, warten – oder aber, wie Thomas es immer möchte, zwischendurch ins Büro, so dass ich dann wieder duschen muss, um die Wäsche anfassen zu können.
 
Genauso verhält es sich mit dem Müll oder Aschenbecher. Wenn man damit in Berührung kommt, ist es wahnsinnig wichtig, nichts, aber auch rein gar nichts im Haus zu berühren, denn damit könnte man den gesamten Bereich kontaminieren, so dass man schleunigst in die Badewanne kommen musste. Ich wurde dabei immer mit Argusaugen von Thomas beobachtet. Einmal hatte ich aus Versehen beim Hochgehen das Treppengeländer berührt.
Wir waren zu einer Geburtstagsparty einer Kollegin von mir eingeladen (und ich freute mich sehr, mal wieder aus dem Haus zu kommen, vor allem, weil ich dann Ruhe vor Thomas haben würde, da er ja nach außen hin immer als der Liebe und Nette, mit dem ich echtes Glück gehabt habe, galt). Im Grunde war es mir gleichgültig, was ich tat, denn eigentlich hatte ich zu gar nichts mehr Lust – dennoch war dies für mich eine willkommene Abwechslung vom Alltag.
Ich dachte also, ich denke mal praktisch und nutze die Möglichkeit, den überquellenden Mülleimer, der mich schon seit Tagen störte und der bereits zu riechen begann (was Thomas offensichtlich nicht störte), zu entleeren, da ich, bevor wir zur Party fahren würden, noch ein Bad nehmen wollte. Ich nahm also den Müllbeutel aus dem Müllbehälter und brachte ihn nach draußen. Dabei achtete ich ganz genau darauf, nichts zu berühren. Türklinken durften bei uns eh nicht mit Händen, sondern nur mit den Ellbogen berührt werden – also kontaminierte ich die der Haustür schon mal nicht. So ging ich nach draußen zum Mülleimer, warf den Müllbeutel dort hinein und war bereit für ein schönes heißes duftendes Bad.
Als ich ins Haus kam, stand Thomas schon da – mit einem großen Sicherheitsabstand, denn nun war ich in einem Zustand, den es schnell zu ändern galt. Von Müll beschmutzt ging gar nicht; deswegen musste ich so schnell wie möglich nach oben ins Bad, um mich von dieser Verunreinigung zu befreien, was bedeutete, ich musste mich zuerst einmal richtig abschrubben, um den ersten Dreck weg zu bekommen. Danach müsste ich mich noch mal mit ganz viel Duschgel reinigen. Dann ist das Wasser, in dem ich sitze, kontaminiert. Das heißt also, wenn ich aus der Badewanne steige, muss ich genau darauf achten, dies ganz langsam zu tun, denn würde ein Tropfen nach außen kommen, so wäre das ganze Bad verseucht. Nun schnell noch die Hände desinfizieren, damit ich die Tür der Duschkabine öffnen konnte, und rein in die Dusche, um mich von all dem Dreck zu befreien.
 
Doch bevor ich diese Prozedur über mich ergehen lassen konnte, war ich, weil mich Thomas’ ständige Anweisungen verängstigten und ablenkten, an das Treppengeländer gekommen. Welches Martyrium daraufhin auf mich einprasselte, möchte ich hier im Detail nicht wiedergeben. Aber ich kann eines sagen: Ich brauchte Stunden, um alles zu säubern, nachdem ich die oben beschriebene Prozedur angewandt und mich gereinigt hatte, denn so verseucht, wie ich war, würde ich ja nichts anfassen können, so dass ich nach meiner Reinigung das gesamte Treppengeländer entkeimte und im Anschluss noch mal eingehend mich selbst.
 
So kamen wir etwa drei Stunden später zu unserer Party, was mir sehr unangenehm war. Thomas hatte länger arbeiten müssen, so die Ausrede. Ich selbst war an diesem Abend sehr still, denn auf der einstündigen Fahrt hierher wurde ich von Thomas so laut beschimpft, dass mir die Ohren klingelten. Er konnte wahnsinnig laut schreien. Mitten auf der Autobahn hatte er auf dem Seitenstreifen angehalten und mir gedroht, mich raus zu schmeißen und war dort einige Minuten stehen geblieben. Ich zitterte am ganzen Körper, als er immer wieder sagte, er würde warten, bis ein Auto von hinten angerast käme und dann langsam wieder auf die Fahrspur wechseln; das würden wir beide nicht überleben. Ich sagte gar nichts mehr und hoffte, er würde weder das eine noch das andere tun, und in meiner Angst hörte ich Thomas’ Geschrei nicht mehr, sondern nur den Klang meines rasenden Herzens und spürte, wie ich keine Luft mehr und schwitzige Hände bekam. Dieser Zustand sollte mich von nun an mein ganzes Leben lang begleiten. Egal, in welcher Situation ich dann und wann bin, diese Symptome prasseln von Jetzt auf Gleich auf mich ein – und ich kann nichts dagegen tun…

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.04.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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