Charlotte Sander

Brachial (8)

Auf der Arbeit hatte ich nun mein Gesicht verloren, aber viel war davon eh nicht mehr übrig geblieben, wenn man bedenkt, wie Thomas es genoss, mich als Dummchen darzustellen. Und nach dieser SMS, die an all meine Freunde,  meine Familie, Arbeitskollegen, Handwerker und an alle, die ich in meinem Handy gespeichert hatte, gesendet worden war, konnte und brauchte ich nichts mehr zu tun, um mich nochmal ins Licht zu stellen.
Ich wandelte von nun an nur noch mit rotem und gesenktem Kopf auf meiner Arbeitsstätte umher – als Vorgesetzte hatte ich seither komplett verloren. Niemand mehr würde mich jetzt noch ernst nehmen. Und das merkte ich auch. Die Leute sahen mich an, als wäre ich der letzte Abschaum, und so gut ich meine Arbeit auch machte, es würde nichts mehr bringen – nicht nach dieser Aktion. Die Leute steckten die Köpfe zusammen, wenn sie mich sahen und lachten hinter meinem Rücken. Dabei war meine Arbeit alles, was ich noch hatte, der einzige Zufluchtsort für mich, um wenigstens ein paar Stunden weg von Thomas sein zu können. Nun hatte er mit einem Mal alles zunichte gemacht und mir das Letzte, was mir noch geblieben war, genommen.
 
Was war mir denn noch geblieben? Seit ich mit Thomas zusammen war, hatte ich wirklich alles verloren, was mir lieb war. Meine Familie hatte sich von mir abgewandt. Sie waren von Anfang an dagegen gewesen, dass ich mit Thomas zusammen bleibe. Eine Mutter hat so etwas im Gefühl, da bin ich mir ganz sicher. Sie meinte bereits zu Beginn unserer Beziehung: „Nimm’ Dich in Acht, mein Schatz. Ich traue ihm nicht. Irgendwas stimmt mit dem nicht.“ Und ähnliche Worte verwendete auch mein Vater, der mich vor Thomas warnen wollte. Mein Bruder schüttelte nur mit dem Kopf, und es schien, als würde er seine eigene Schwester – und bis dahin beste Freundin – nicht mehr verstehen. Traurig sah er mir in die Augen. „Ich wollte immer, dass Du glücklich bist. Ich bin mir nicht sicher, ob Du gerade das Richtige tust, Schwesterchen, aber Du bist alt genug und musst selbst wissen, was Du tust.“ Ich habe ihn seither nicht wieder gesehen – niemanden von ihnen, denn Thomas musste ihren Missmut bemerkt haben und verlangte von mir, den Kontakt abzubrechen. Er fand tausende fadenscheinige Gründe, warum ich sie nicht mehr sehen oder mit ihnen telefonieren sollte – und ich habe ja bereits erzählt, dass er bei allen Telefonaten daneben stand und jedes einzelne Wort mithören musste. Da wurde es selbst der sanftesten Seele, die diese Erde hervor gebracht hat, meiner Mutter, zu bunt, und auch sie meldete sich nicht mehr. Ich hatte noch ein paar Mal versucht, mit ihr von meiner Arbeit aus Kontakt aufzunehmen, denn da konnte ich wenigstens ungestört mit ihr sprechen. Die Gespräche endeten immer traurig, denn meine Mutter hatte gehört, dass es mir nicht gut ging, und ich wollte auch nicht mit der Sprache heraus rücken, damit sie sich keine Sorgen und Gedanken um mich machen sollte. Ich wollte einfach, dass sie ihr unbeschwertes Leben auch weiterhin genießen konnte – ohne permanent an ihre Tochter denken zu müssen. So dachte ich mir vor jedem Telefonat irgendwelche Dinge aus, die ich erlebt habe, damit sie hörte, es ging mir richtig gut. Auch wenn sie mir nicht wirklich glauben konnte…
Leider hatte Thomas meine Handyrechnung und damit auch die Einzelnachweise überprüft und gesehen, wie oft ich mit meiner Mutter telefoniert hatte. Das war das erste Mal, dass er mir die Nase gebrochen hatte…
 
Meine beste Freundin Sandra, mit der ich, seit ich 14 war, durch dick und dünn gegangen bin, hatte wirklich sehr viel Geduld mit mir. Sie kannte mich in- und auswendig und roch den Braten bereits als Erste, denke ich. In einem ruhigen Moment nahm sie mich an ihrer Hochzeit, zu der Thomas und ich eingeladen waren, zur Seite, während Thomas bei den anderen Gästen mit seinem Allgemeinwissen brillieren konnte und demnach abgelenkt war, weil er sich nun in seinem Element befand.
In ihrem weißen Kleid stand sie da und sah mich aus ihren freundlichen, strahlend blauen Augen an. „Ist bei Dir alles in Ordnung?“, meinte sie und musterte mich mit gerunzelter Stirn. Ich entgegnete, alles sei gut. Ich brauchte jetzt nicht noch jemanden, der sich um mich Sorgen machen sollte. Alle sollten denken, es ginge mir gut, denn ich möchte nicht, dass jemand etwas anderes denken könnte. Nun, gut, seit der SMS, die Thomas verschickt hat, bin ich mir ziemlich sicher, dass bei Sandra sofort die Alarmsirenen angingen, doch ich denke, sie meldet sich nicht, da sie mich schützen möchte. Sie weiß bescheid – dessen bin ich mir im Klaren…
 
„Du wirkst manchmal so geistesabwesend und in Dich gekehrt. So kenne ich Dich gar nicht.“ Sie nahm mich an den Schultern. „Sag’ mir, was los ist, bitte.“ Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Ich stand hier vor meiner besten Freundin, und sie kannte jeden Gedanken von mir. Sie wollte mir helfen, doch ich konnte ihr nichts sagen. Ich wollte sie schützen – einmal vor Thomas und dann vor mir selbst, denn meines Erachtens ist es doch schöner, eine Freundin zu haben, der es gut geht und um die ich mir keine Sorgen machen muss, als eine wie ich es bin, bei der ich ständig nur nach Lösungen suchen muss. Nein, ich wollte keine Belastung für Sandra sein – weder für sie noch für irgendjemand anderen – und wie schon gesagt: Ich schäme mich unendlich für all das Unfassbare, was  bei Thomas und mir passiert. Und auch deshalb schaffte ich es in diesem Moment nicht, mich Sandra anzuvertrauen.
 
Sie nickte und blickte mir traurig in die Augen. „Du möchtest es mir nicht sagen, hmh?“ Ich musste nichts entgegnen und ließ langsam den Kopf sinken, so dass sie nicht merken würde, dass aus meinen feuchten Augen nun schon die ersten Tränen kullerten. Doch sie merkte es. Und sie ließ mich allein, aus Vorsicht vor Thomas, der uns bereits vermissen und nach uns schauen könnte. Würde ich allein hier draußen stehen, würde er mir sicher glauben, dass ich einfach mal frische Luft schnappen musste.
 
Sandra habe ich seither nicht wieder gesehen, doch ich erinnere mich sehr oft daran, wie ihre lieben und wissenden Augen mich traurig angesehen haben. Wir haben oftmals versucht, miteinander zu telefonieren. Sandra stellte keine Fragen und erzählte immer total oberflächliche Dinge, denn sie musste bemerkt haben, dass Thomas mithörte. Sie wusste, dass er immer und überall bei mir war. Sie ahnte, was ich durchmachte, und ich liebte sie so sehr dafür, dass sie mir zumindest auf die Entfernung sagen wollte: Ich bin da… wann immer Du mich brauchst…
Doch irgendwann lässt die Geduld auch nach, nämlich dann, wenn man immer und immer wieder den gleichen Mist am Telefon bequatscht. Sandra wusste genau, dass ich log, wenn ich ihr erzählte, wie toll doch alles war und was ich heute wieder Schönes gemacht hatte… und sie hatte sicher gemerkt, dass es mir gar nicht gut dabei ging, vor allem da ich Angst hatte, sie könnte doch irgendwann mal was Falsches sagen…
Und irgendwann kamen keine Anrufe mehr… und irgendwann hörte ich auch von Sandra nichts mehr… Ich denke, es hatte sie zu sehr belastet… ich weiß es nicht, doch ich hoffe von Herzen, sie wird irgendwann wieder für mich da sein, denn ich denke jeden Tag an sie – und genau dann, wenn es mir am schlechtesten geht und ich die schlimmsten Dinge ertragen muss, sehe ich ihr schönes Gesicht vor mir, erinnere mich, wie wir zusammen gelacht haben.
Vielleicht wird diese Hölle irgendwann ein Ende haben, und ich werde meine Eltern, meinen Bruder, Sandra und so viele andere, die ich ewig nicht gesehen habe, wiedersehen. Und wenn diese Hölle kein Ende nehmen wird, dann werde ich sie nie wiedersehen.
 
Der Mensch, den ich abgrundtief hasse, hat mir alles genommen, was ich liebe – in der Hoffnung, ich liebe nur noch ihn…

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.04.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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