Helmut Wurm

Sokrates und im Stich gelassene Schüler

An einem großen Schulzentrum, das überwiegend als Gesamtschule organisiert ist, hatte die Schulleitung aufgrund einer Zunahme von Schülerbeschwerden bzw. von beobachteten Schülerproblemen in der Vergangenheit eine sehr gute Idee und hatte diese bald konkret und bis jetzt mit viel Erfolg umgesetzt. Es geht um Folgendes:

In jedem Schulhalbjahr wird an einem Samstag oder sonstigen unterrichtsfreien Tag (es soll kein Unterricht dafür verloren gehen, denn die Schüler haben ein Anrecht auf Unterricht, aber die Lehrer mit ihren vielen Ferientagen kein Anrecht auf einen stets freien Samstag) ein Schüler-Beschwerdetag einberufen. Die Schüler, die etwas auf dem Herzen haben, müssen bis zu diesem Termin ihre Beschwerden, Sorgen und Probleme schriftlich einreichen und dabei konkret die Namen der Lehrer, Schüler oder auch der Eltern nennen, mit denen sie ein Problem haben. Dann werden in einzelnen Gruppen die Schüler und diejenigen Personen, mit denen sie diese Probleme haben, zusammen vor das Anhörungs- und Schlichtungsteam geladen.

Das Anhörungs- und Schlichtungsteam besteht aus der Schulleitung (Schulleiter und Vertreter), dem Vertrauenslehrer, dem Schulsprecher und einem Schulpsychologen. Dann werden in jedem einzelnen Fall die Beschwerden, Sorgen und Probleme durch-gesprochen und beide Seiten sorgfältig angehört. Anschließend wird gemeinsam ein Lösungsvorschlag erarbeitet. 

Dieser Tag ist gut gefüllt, weil man sich Zeit nimmt, und oft gehen die Gespräche an einem anderen Tag weiter. Aber der Erfolg ist überzeugend. Die Schule steigt kontinuierlich im Ansehen und das schulinterne Leben ist deutlich harmonischer geworden.

Und zu solch einem Beschwerdetag ist auch Sokrates eingeladen worden. Er hat die Stelle eines Schulpsychologen übernommen, der verhindert ist. Und da Sokrates ja ohne Zweifel nicht nur Pädagoge, sondern auch Psychologe war und ist, ist das keine falsche Entscheidung. 

Der Samstag des diesjährigen 1. Schüler-Beschwerdetages ist gekommen. Sokrates sitzt im Halbkreis des Anhörungs- und Schlichtungsteams. Den anderen Halbkreis bilden der Schüler und die mit ihm eingeladenen Personen. So ist von der Sitzordnung her das Gespräch weniger ein Gegenüber-Gespräch, sondern mehr eine Diskussion oder ein Symposium. Das wirkt schon etwas entschärfend - etwas nur, denn alleine die Beschwerde als solche ist natürlich für beide Kontrahenten belastend. 

Es werden im Folgenden nicht alle Beschwerde- und Gesprächsfälle an diesem Tag wiedergegeben. Es waren derer zu viele. Nur exemplarisch sollen einige dargestellt werden. Und man hat dem bekannten Gast Sokrates die Ehre zugestanden, nach der Anhörung der Betroffenen sich zuerst zu äußern. Und auch nur seine Bemerkungen zu den ausgewählten Fällen sind hier mitgeteilt, denn das Team hat sich anschließend bemüht, in dieser Richtung Lösungsvorschläge zu finden – sofern das Schulgesetz diese Richtung erlaubt.

Exemplarischer Fall 1: Ein Schüler kommt herein, hinter ihm ein Lehrer mit einem verkniffenen und kalten Gesicht. Der Schulleiter liest die Beschwerde vor, die der Schüler eingereicht hat. Es geht darum, dass dieser Schüler Lernschwierigkeiten und daraus resultierend Aufmerksamkeits- und Verhaltensschwierigkeiten hat und dass sich der Lehrer dem Schüler gegenüber völlig gleichgültig und sogar barsch verhält.

Beide werden gebeten, noch einmal kurz die Situation darzustellen.

Der Schüler: Ich weiß nicht weshalb das so ist, aber seit einigen Monaten komme ich in den meisten Hauptfächern nicht mehr mit, obwohl ich früher wenig Schwierigkeiten gehabt habe. Ich bin auch so zerstreut und so nervös und ich habe überhaupt keinen Bock auf Schule. Der Lehrer hier, den ich in Mathematik und Physik habe, macht mich durch seine Bemerkungen noch lustloser. Der interessiert sich nicht dafür, weshalb ich so schlecht mitkomme, der teilt die Schüler nur ein in solche, die mitkommen und in  solche, die nicht mitkommen. Ich gehöre für ihn zu den „Nicht-Mitkommenden“ und meine Noten liegen deswegen generell unter ausreichend.

Der Lehrer: Die Situation ist eigentlich ziemlich einfach. Der Schüler hier ist derzeit überfordert, ob prinzipiell oder nur derzeit, das kann ich nicht beurteilen. Er macht keine Hausaufgaben mehr, er passt nicht mehr auf, er unterhält sich mit den Nachbarn oder liest irgendein billiges Heft. Oder er schaut einfach gelangweilt zum Fenster hinaus. 

Ich bin kein Hellseher, der sagen könnte, ab wann es bei diesem Schüler mit dem Verstehen und Lernen wieder besser gehen wird. Ich bin auch kein ausgebildeter Psychologe, der sich mit den möglichen psychischen Ursachen befasst. Und ich bin auch kein Sozialpädagoge, der im Umfeld des Schülers nach Gründen für dessen Probleme sucht. Ich bin ein ausgebildeter Naturwissenschaftler, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und ich halte Unterricht und verteile die Noten nach dem Erreichen des Unterrichtsziels. Das ist meine Pflicht, mehr kann man von mir nicht erwarten.  

Sokrates: Doch, man kann und man muss sogar von Ihnen mehr erwarten. Natürlich sind Sie kein ausgebildeter Psychologe und Sozialpädagoge. Aber sie haben die Pflicht, die Schüler auf mehr hin zu beobachten als auf das Erreichen der Lernziele. Sie haben Auffälligkeiten zu beobachten, mit den Schülern darüber zu sprechen, an die Klassenführung ihre Beobachtungen weiter zu leiten und mitzuhelfen, dass ein Psychologe oder Sozialpädagoge eingeschaltet wird, wenn es nötig ist. Denn reine „Fachidioten“, entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, gehören in ein Labor, aber nicht an eine Schule. Sie als Lehrer lassen den Schüler mit seinen Problemen im Stich.

Exemplarischer Fall 2 (er ist mit dem Fall 1 etwas verwandt): Ein jüngerer, sichtbar depressiv-lustlos gestimmter Schüler kommt herein, hinter ihm der Klassenlehrer mit einem ebenfalls betrübten Gesicht. Hier besteht offensichtlich kein Konflikt, sondern ein Problem. Es geht darum, dass der Schüler seit Jahren in vielen Unterrichtsfächern nicht mitkommt, regelmäßig fehlt (er schwänzt offensichtlich die Schule, wird aber von Zuhause häufig durch erfundene Entschuldigungen gedeckt), wiederholt von der Polizei in die Schule gebracht worden ist, kaum oder gar keine Hausaufgaben macht und auf Schule und Lernen nicht mehr ansprechbar ist. Der Klassenlehrer ist sehr besorgt und hat immer wieder versucht, den Schüler zu einer erträglichen Lernhaltung zurück zu bringen.  

Der Schüler:  Mein Klassenlehrer meint es zwar gut, aber er nervt mich mit seinen Gesprächen und Ermahnungen so, dass ich es nicht mehr hören kann… Ich habe einfach keine Lust mehr an Schule… Wenn mich die Polizei nicht holen und in die Schule bringen würde, käme ich überhaupt nicht mehr… Ich kann Bücher nicht mehr sehen, ohne dass es mir schlecht wird… In der Grundschule bin ich noch ganz gerne zur Schule gegangen, aber seitdem ich anschließend auf die Gesamtschule geschickt wurde, hängt mir Schule zum Hals heraus… Ich verstehe kaum etwas, alles geht mir zu schnell… Ich bin ein Versager…

Der Klassenlehrer: Kurze Zeit, nachdem er hier in die Klasse 5 der Gesamtschule kam, fingen die Probleme an. In der Grundschule war er zwar auch keine Leuchte, er hatte wohl in den meisten Fächern nur ein „ausreichend“, aber er fiel nicht negativ auf. Hier ist er entweder überfordert oder er hat große Entwicklungsstörungen oder es wurde zu Hause von ihm zu viel erwartet… Jedenfalls ist er ein Sorgenkind geworden. 

Er ist übrigens nicht der einzige, der solchermaßen Sorge macht. Er scheint Schule und Lernen abgehakt zu haben. Ich habe zwar ständig versucht, ihn zu mehr Lernen zu bewegen, aber ich habe auch keine Hoffnung mehr… Das Beste wäre, es gäbe an dieser Schule eine eigenständige Förderklasse für solche Schüler, die schwer lernen, in die er und einige andere separat gehen könnten. Wir in der Gesamtschule haben nicht die Möglichkeit, solchen Schülern dauerhaft mit einem spezifischen Betreuungs- und Lernprogramm zu helfen… So schleifen wir sie mit von Klasse zu Klasse, denn bei uns können sie ja bis zur Klassenstufe 8 nicht sitzen bleiben. Die Klassenstufe 9 wird dann in der Regel wiederholen und danach werden diese Schüler oft in eine Klasse zur Vermittlung der Berufs-Grundreife abgegeben.  

Sokrates: Dieser arme Junge ist offensichtlich wenig begabt oder lernt nur langsam und ist ein Opfer meiner Phantasterei-Kollegen, meiner Ideologie-Kollegen geworden. Ich habe in den über zweitausend Jahren, in denen ich mich mit Pädagogik und Schule beschäftige, immer wieder erlebt, dass realitätsferne, sicher gut gemeinte Schulideale nach ein bis zwei Generationen wieder irgendwie korrigiert werden mussten. Dazu gehört auch die naive Vorstellung, dass in einer Klasse, in der gute und schwache, schnell und langsam lernende Schüler gemeinsam unterrichtet werden und lernen, die Lernschwachen von den Besseren, die Langsamen von den Schnelleren profitieren und in ihren Leistungen „geliftet“ werden.

Aber wo kein großes Potential ist, kann man auch nicht viel „liften“. Man kann weniger begabten oder langsam lernenden Schülern in der Mehrzahl der Fälle sogar schaden und ihre in der Regel geringe Lernbereitschaft noch weiter absenken, wenn man sie den halben Tag mit Schülern zusammen sein lässt, gegenüber denen sie sich ihrer Lernschwächen ständig bewusst werden. Solche Schüler verlieren in der Regel für ihr ganzes leben die Freude an Fortbildung. Die Minderheit derjenigen Schüler, die sich von begabteren Mitschülern motivieren, also im Lernen „liften“ lassen, wird von den idealistischen Theoretikern gern als Vorwand genommen, dass ihre Schulideale doch erfolgreich umgesetzt werden könnten. 

Aber es ist ungerecht und gefährlich, Ungleiche gleich zu behandeln. Die Begabten werden unterfordert, die Schwachen überfordert. In den Ländern, wo das angeblich funktioniert, muss das Gesamt-Schulniveau erheblich gesenkt werden, damit die schwächeren Schüler keine gefährlichen Problemfälle werden. Dafür wird dann das Privatschulwesen ausgebaut, das wieder Differenzierung und Leistungsorientierung in das Schulwesen bringt. 

In einer Gesamtschule kann man in der Realität nicht alle verschiedenen Schülertypen so betreuen, wie es in einem gut differenzierten Schulwesen möglich wäre. In einer Gesamtschule wird eine Schülergruppe in der Regel im Stich gelassen, entweder die Begabten oder die Schwachen. 

Exemplarischer Fall 3: Eine Schülerin kommt herein, aufgetakelt, frühreif, kokette Blicke um sich werfend. Zusammen mit ihr kommen eine noch relativ junge, neutral-selbstsicher wirkende Biologie-Lehrerin und die bekümmerten Eltern. Es geht darum, dass die Schülerin, gerade 15 Jahre alt, sehr frühreif ist und die Eltern sich große Sorgen machen wegen der vielen Kontakte, die ihre Tochter zu älteren Jungen und jungen Männern anknüpft. Die Schülerin fühlt sich dadurch eingeschränkt und hat zu ihrer Unterstützung die Biologie-Lehrerin mit zu dem Gespräch gebeten.

Die Schülerin: Ich bin jetzt kein Kind mehr, sondern schon eine junge Frau. Und als solche habe ich auch das Recht, mich für Jungen und noch besser für junge Männer zu interessieren. Und außerdem habe ich auch körperlich-erotische Bedürfnisse. Das haben wir im Sexualkunde-Unterricht so gehört, das sei völlig normal. Meine Eltern haben nun die völlig verstaubte Meinung, dass der Sexualkunde-Unterricht auf eine harmonische Ehe und auf eine Familie mit Kindern hin erziehen soll. Ich will aber jetzt meinen Spaß haben, alles andere kommt vielleicht später hinzu. So haben wir das im Sexualkunde-Unterricht bei unserer Biologie-Lehrerin gehört.

Die Eltern: Wir sind sehr besorgt um unsere Tochter. Ständig hat sie neue Bekannt-schaften, regelmäßig kommen die Jungen und jungen Männer zu uns nach Hause und sie verschwindet mit ihnen auf ihr Zimmer, wann sie will. Sie habe das Recht dazu, meint sie, das habe sie so im Sexualkunde-Unterricht gehört. Unsere Tochter verliert mit diesem modernen Lebenswandel die Fähigkeit, sich an einen Mann zu binden und eine dauerhafte Familie aufzubauen. Sie macht es dieser Biologie-Lehrerin nach, die unverheiratet ist und von der man munkelt, dass sie mal den und mal den Freund eine Zeitlang hat. 

Die Biologie-Lehrerin: Ich bin kein Sittenwächter und kein Ehe-Vorbereiter. Ich kläre die Schüler nur auf und ermögliche ihnen, die antiquierte Sexualeinstellung von früher zu überwinden. Sex soll zuerst einmal Spaß machen und Kinder nur geplant, wenn überhaupt, gezeugt werden. Das ist meine persönliche Einstellung, das ist mein Unterrichtsziel. Und deshalb gebe ich dieser Schülerin in ihrem Verhalten Recht.

Sokrates: Schule soll zwar für das Leben vorbereiten und Sexualkunde-Unterricht auf die körperlichen Veränderungen während der Pubertät und auf die Sexualität. Schule darf aber kein Spaß-Vorbereitungs-Institut sein und Sexualkunde-Unterricht kein Vorbereitungsunterricht für ein ungehemmtes Ausleben der Sexualität. Es gibt noch andere, höhere Werte im Leben als der ungehemmte Spaß. Dazu gehört zum Beispiel auch die Familie, die Grundzelle einer Gesellschaft. Darauf muss letztlich die Schule in ihrem Sexualkunde-Unterricht vorbereiten und eigentlich sollte dieser ein Familien-Vorbereitungsunterricht sein. Wer die Jugend auf Familie nicht vorbereitet, lässt sie auf einem Gebiet im Stich, dass für eine Gesellschaft fundamental wichtig ist.

Exemplarischer Fall 4:  Ein hagerer, quirliger, etwas eckig-fahrig wirkender Junge kommt herein, hinter ihm der ältere Klassenlehrer, dem man anmerkt, dass er keine größeren Belastungen mehr aushält. Es geht darum, dass der Junge offensichtlich überaktiv ist, sich deswegen nicht lange ruhig verhalten kann, der schnell stört und sich nicht lange auf den Unterricht konzentrieren kann. Der Lehrer hat die Eltern dahin beeinflusst, dass sie dem Schüler ein Beruhigungsmittel vom Kinderarzt verschreiben lassen wollen. Der Schüler wehrt sich aber dagegen, weil ein Freund in der Klasse schon länger Ritalin nimmt und sehr müde und wenig unternehmungslustig geworden ist.

Der Schüler: Ich bin eben ein lebhafter Typ und bin so mit mir zufrieden. Ich esse gerne scharfe Sachen, die so richtig im Hals brennen, z.B. Pfeffersteak, ich trinke täglich einen halben Liter Milch und einen halben Liter Vitaminsaft. Das hält mich gesund, das ist gesund, das macht mich vital und man kann ja auch in der Werbung überall nachlesen, dass eine solche Ernährung Kraft und Energie gibt. Und die brauche ich. Denn ich muss täglich an die frische Luft, muss toben, Rad fahren, Fußball spielen und joggen. Schule ist für mich lästig, das stundenlange Stillsitzen halte ich nicht aus. Mein Klassenlehrer nervt mich durch seine ständigen Ermahnungen. Aber die von ihm empfohlenen Medikamente zur Beruhigung nehme ich nicht. Dann bin ich nicht mehr so fit.

Der ältere Klassenlehrer: Der Junge ist ein Nervenbündel, ist übererregt und stört die ganze Klasse. Warum das so ist, weiß ich nicht. Ich bin kein Arzt. Ich denke, das liegt bei dem Jungen in den Genen… Ich halte das auch nicht mehr aus, die vielen Störungen, die vielen Klagen der Mitschüler… Auch meine Nerven sind langsam ramponiert… Der Junge soll endlich das tun, was die moderne Medizin in solchen Fällen anbietet: Er soll die neuen Beruhigungsmittel für ADS/ADHS nehmen. Dafür sind die ja gemacht. Dann ist allen geholfen… Man nimmt  z.B. Ritalin und der ganze Spuk ist vorbei… Man braucht nur die Pille einwerfen… So einfach ist das doch...

Sokrates: Natürlich ist ein Lehrer kein Mediziner. Jedoch so einfach kann man es sich auch nicht machen, nämlich eine der neuen Beruhigungspillen dem Jungen täglich oder mehrmals täglich geben. Denn ist der Sachverhalt wirklich so einfach, dass die  Gene des Jungen daran schuld sind und dass man ihn deswegen achselzuckend mit Medikamenten ruhig stellen muss? Er hat doch eben aufgezählt, was er alles isst: Viel tierisches Eiweiß, scharfe Gewürze, viel Milch und Vitaminsäfte… Wo soll der Junge mit der dadurch zugeführten Energie und der bewirkten Vitalitätssteigerung in unserer modernen Gesellschaft hin? Und hat  man schon getestet, ob der Junge eventuell eine Unverträglichkeit gegenüber Milch in Form einer Neuro-Allergie hat?

Man sollte zuerst einmal die Ernährung ändern, von einer Reizkost zu einer Schonkost übergehen. Dann kann man weiter sehen. Einfach die Ritalin-Keule anwenden, das ist wirklich zu einfach. Das hieße, den Jungen mit eventuellen anderen Ursachen im Stich zu lassen. Man kann von einem Lehrer Bereitschaft zur Beobachtung und zu Phantasie verlangen. 

Exemplarischer Fall 5: Ein traurig wirkendes Geschwisterpaar, Junge und Mädchen, kommen herein, mit ihnen die Klassenlehrerin. Der Fall liegt so, dass die Eltern infolge intensiven beruflichen Engagements tagsüber weitgehend abwesend und die beiden Geschwister sich deshalb weitgehend selbst überlassen sind. Das Essen steht im Kühlschrank, wenn sie von der Schule nach Hause kommen. Abends sind die Eltern von der Arbeit erschöpft und wenig zu Gesprächen mit ihren Kindern bereit. Den Kindern fehlt einfach familiäre Geborgenheit. Die Versuche der Kinder, an den Lehrern Bezugs-personen zu finden, ist gescheitert, weil diese sich dadurch zu sehr in ihrer Freizeit beeinträchtigt fühlen.

Die Geschwister: Wir haben niemanden, mit dem wir tagsüber etwas besprechen können, dem wir etwas erzählen können, der uns beraten könnte… Beide Großeltern wohnen weiter weg, andere Verwandte ebenfalls. Zu den Nachbarn haben wir wenige Kontakte, denn die sind ebenfalls mit Beruf und eigenen Kindern ausgelastet… Uns fehlen einfach Bezugspersonen oder wenigstens eine Bezugsperson… Wenn wir uns an Lehrer gewendet haben, haben die immer gesagt, dass das nicht zu ihren Aufgaben gehört…

Die Klassenlehrerin: Den beiden Geschwistern fehlt offensichtlich Zuwendung. Sie haben mich schon wiederholt in meiner Sprechstunde aufgesucht und von belanglosen privaten Angelegenheiten angefangen zusprechen. Ich bin aber keine Erzieherin und schon gar nicht ein Elternersatz. Ich habe zwar an einem Elternabend mit ihren Eltern darüber  gesprochen, diese haben aber die Schultern gezuckt und auf ihre berufliche Aktivität verwiesen. Das Ganze ist eigentlich eine Angelegenheit des Jugendamtes, das eine Tagesmutter besorgen sollte. Aber diesen Antrag müssten die Eltern stellen und auch finanzieren. Die Schule ist ein Ort des Lernens und kein Familienersatz.

Und außerdem wohne ich privat weiter weg, außerhalb des Einzugsbereiches dieser Schule. Nachmittags möchte ich mit Schülern nichts mehr zu tun haben… Ich habe ein Recht auf Privatleben…

Sokrates: Natürlich sind Lehrer kein Elternersatz, aber sie sind auch nicht nur Stoff-vermittler. Von Lehrern erwartet man eine gewisse „Multifunktions-Bereitschaft“. Und dazu gehört auch, dass sie sich menschlich etwas um ihre Schüler kümmern und von sich aus nach Lösungen suchen, Schülern eine Geborgenheit zu schaffen, wenn sie diese im Elternhaus nicht finden. Das betrifft nicht nur die Bereitschaft zu Gesprächen über das rein Schulische hinaus, das betrifft Erziehung allgemein – natürlich in dem Rahmen, den die Schule zu leisten vermag.

Aber viele Lehrer weichen dieser „Multifunktions-Bereitschaft“ als Aufgabe geschickt aus, indem sie weiter weg ziehen und gewissermaßen ein zweites Leben unabhängig von ihren Schülern führen. Im Grund lassen sie dadurch Schüler mit Zuwendungs- und Erziehungsdefiziten im Stich.

Exemplarischer Fall 6 (er ist mit dem Beispiel 5 verwandt): Ein Schüler kommt herein, der nach kurzer Zeit dadurch auffällt, das er spontan gerade das macht, war er für richtig hält und keinerlei Manieren zeigt. Mit ihm zusammen ist sein Klassen-lehrer geladen. Es geht darum, dass der Schüler in der Schule ein Verhalten zeigt, dass man als "unerzogen" oder sogar als „erziehungslos“ bezeichnen kann. Der Klassenlehrer will ihn deshalb nicht auf eine Klassenfahrt mitnehmen.

Der Schüler: Meine Lehrer nerven mich allgemein wegen meines Verhaltens. Ich darf mich nicht setzen, wie ich will, ich darf nicht die Ausdrücke verwenden, wie ich will, ich darf nicht essen wie ich will, ich darf nicht jeden ansprechen, wie ich will… Meinen Eltern ist das alles egal. Die sagen zu meinem Verhalten nichts... Und jetzt will mich mein Klassenlehrer nicht auf die Klassenfahrt mitnehmen.

Der Klassenlehrer: Dieser Junge ist ohne jegliche Erziehung bei seinen Eltern aufgewachsen. In einem Elterngespräch haben sie mal angedeutet, sie hätten gehört, dass ein völlig freies Aufwachsen ohne jegliche Vorschriften psychisch für die Kinder am besten sei. Dementsprechend verhält sich der Junge auch. Er redet, wann er will und mit wem er will, er grüßt nicht, er schmatzt beim Essen, ist völlig unpünktlich, er rüpst und pupt, wie es bei ihm Bedarf ist... Kurz: Er ist völlig unerzogen im wörtlichen Sinn. Ich werde ihn nicht auf die Klassenfahrt mitnehmen, denn sein spontanes Fehl-verhalten fällt auf die Klasse und die Schule zurück. Seinen Unmut soll er mit seinen Eltern ausmachen. Wir als Schule sind keine Erziehungsanstalt und wir Lehrer sind keine Erzieher. Für Erziehung sind wir nicht zuständig.

Sokrates: Ich kann einerseits verstehen, dass man diesen Jungen nicht mit auf eine Klassenfahrt nehmen möchte. Ich kann aber nicht verstehen, dass Schule nicht für Erziehung verantwortlich sein soll. Denn Erziehung ist eine elementare soziologische Aufgabe, die man nicht allein an die Eltern delegieren kann. Alle Teile einer Gesell-schaft müssen neben den Eltern mit erziehen, besonders die Schule. Die Lehrer und besonders die Klassenlehrer müssen ständig auch "Erziehungsunterricht" halten - in welcher Form, das ist organisatorisch und von Fall zu Fall klären. Die Schule kann nicht mit dem Argument, Erziehung sei Elternsache, schlecht bzw. nicht erzogene Kinder im Stich lassen.

Soweit einige exemplarische Beispiele aus diesem Schüler-Beschwerdetag. Sie decken eine Bandbreite ab, in der sich viele solcher Gespräche bewegen. Und sie lassen auch erkennen, dass manche gängige Lehrereinstellung nicht haltbar ist. Von den Lehrern wird mit Recht eine Multifunktions-Bereitschaft erwartet. Reines Unterrichten ist eine Unterforderung von Lehrern und Schule. Dass Lehrer keine Multi-Talente sein sollen und Schule kein Institut zur Beseitigung der Mängel einer Gesellschaft, darüber braucht nicht diskutiert zu werden. Aber eine Lehrerstelle ist mehr als nur ein sicherer Arbeitsplatz mit viel Freizeit und als ein Betätigungsfeld für Fach-Spezialisten. 

 

(Verfasst von discipulus Socratis, der Einsicht in die Gesprächsprotokolle dieses Tages nehmen durfte)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.04.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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