Helmut Wurm

Sokrates und der Niedergang der Sprach- und Schreibkultur

Eigentlich hat alles damit angefangen, dass eine Schule schulintern für Lehrer und Schüler der höheren Klassen eine Pflicht-Fortbildung für "Erfolgreiches Bewerben" angesetzt hat, in welcher u.a. das richtige Anfertigen von Bewerbungsunterlagen behandelt werden sollte. Aber diese erste Sitzung entglitt völlig dem eigentlichen Thema, verlief in eine ganz andere Richtung und endete in heftigen Dissonanzen, an welcher Entwicklung ein unbekannter Gast nicht unerheblich beteiligt war, der, ohne  eingeladen zu sein, den Verlauf der Sitzung beeinflusste. Aber alles der Reihe nach:

Die Schule hat also intern die genannte Fortbildung angesetzt und dazu neben den Lehrern und den Schülern der höheren Klassenstufen auch Vertreter der Wirtschaft und, als Ehrengast, Sokrates eingeladen. Sokrates nahm interessiert, die Einladung an.

Sokrates (reflektiert): Das ist insofern ein interessantes Thema, als die Schüler mit ihren Bewerbungen einen guten Eindruck erzeugen müssen. Jetzt wird es sich zeigen, ob die Schule ihren Auftrag erfüllt und ihren Schülern gute Voraussetzungen für das spätere Berufsleben vermittelt hat. Aber zu guten Bewerbungsvoraussetzungen gehören neben dem nötigen Wissen auch eine in der Form gute Bewerbung und ein gutes Auftreten. Mich wird interessieren, was der Referent oder Bewerbungstrainer über Schrift und Ausdruck in Bewerbungen sagen wird. Die Schrift bei Bewerbungen kann so etwas wie eine Visitenkarte sein…

Der Nachmittag der Fortbildung (die Schule legt Wert darauf, dass keine Unterrichts-zeit für diese Veranstaltung geopfert wird) ist gekommen. Als Sokrates zu dem großen Saal der Schule die Treppen hinaufsteigt, kommt er an einer Gruppe von Lehrern im Gang vorbei, die sich gerade merkwürdig-locker begrüßen. Einer fragt:

Ein Lehrer: Na, seid ihr heute Vormittag mit den Schülern gut zurecht gekommen oder habt ihr euch unnötigen Stress aufgehalst?

Ein anderer Lehrer: Stress mit Schülern, den sollte man sich klugerweise vom Hals halten. Man will ja schließlich ohne Erschöpfung in die Ferien gehen und gesund die Rente erreichen…

Ein weiterer Lehrer: Immer geschmeidig sich den Schülern anpassen, soweit das geht - das ist doch die richtige Devise im Schulalltag… Bloß keine unnötigen Prinzipien haben und die durchsetzen wollen… Ich bin mal gespannt, was wir heute alles gesagt bekommen, zu was wir die Schüler anhalten sollen, was diese nicht wollen…

Ein dritter Lehrer: Ich weiß jetzt schon, dass das eine Fortbildung wird, die man uns hätte ersparen können… Alles nur unnötiger Stress… Ich reibe mich doch nicht unnötig mit irgendwelchen Prinzipien und mit den Schülern auf… Die sitzen ja doch immer am längeren Hebel…

Sokrates hat kurz zugehört und geht nachdenklich weiter. Er sinniert:

Sokrates: Das war ja eine interessante Begrüßung dieser Lehrer untereinander. Ich hätte erwartet, sie hätten sich gefragt, ob der Unterricht am Vormittag erfolgreich gewesen ist, was der eine dem anderen als Tipp für einen guten Unterricht geben könnte... Aber das Hauptinteresse scheint bei denen zu sein, ohne Stress und mit Schülerzufriedenheit durch den Tag  zu kommen… Nur keine unnötigen Anforderungen stellen… Lehrer müssen aber Anforderungen stellen und Ecken und Kanten haben… Und wie die da eben angezogen sind. So locker und oberflächlich-gammelig wie ihre Reden sind. Lehrerkleidung ist auch etwas Ausdruck von innerer Lehrer-Haltung, kann auch so etwas wie eine Visitenkarte sein…

Sokrates setzt sich wie üblich nach hinten. Von da kann er unauffällig den Saal überblicken. Die Schüler und Lehrer sitzen in getrennten Blöcken. Einen weiteren kleinen Sitzblock bilden die Vertreter der Wirtschaft und ein irgendwie auffälliger, drahtiger Mann mit rotem Jackett, der sich ständig nach allen Seiten hin beobachtend umdreht.

Der Referent beginnt seine Ausführungen. Er stellt dar, dass schon die äußere Form einer Bewerbung ein erstes Kriterium ist, und hier vor allem die Schrift und die Ausdrucksweise. Es sei weiter von Vorteil, wenn die Bewerbungen mit Hand geschrieben sei und deshalb sollte man sich eine schöne Schrift angewöhnen, die man zumindest bei offiziellen Schreiben anwendet…

Schon hier beginnt Unruhe und ein Gemurmel bei der Schülergruppe. Dann kommt ein Zwischenruf aus der Schülergruppe:

Ein Schüler: Warum genügt denn nicht ein PC-Schreiben? Da gibt es neben den offiziellen Schriftformen die schönsten Handschriften, wenn es schon so etwas sein soll.

Der Referent: Eine PC-Schrift ist nichts Individuelles, zeigt keine besondere Mühe, die man sich macht, und ist völlig neutral. Mit der Handschrift drückt man persönliche Wertschätzung und Ernst an der Sache aus…

Ein anderer Schüler: Hauptsache ist doch, dass es optisch gut aussieht. Dafür gibt es doch den PC… Wenn ich mit Hand schreibe, sieht das viel schlechter aus… Ich bin auch gar nicht mehr gewöhnt, mit Hand schön zu schreiben. Ich schreibe mit Hand eigentlich nur noch Notizen und Klassenarbeiten. Und die kann dann außer mir kaum einer lesen… Sonst schreibe ich alles mit PC, auch die meisten Hausaufgaben. Die meisten Lehrer erlauben das.

Der Referent: Dann solltet ihr in der Schule mehr mit Hand schreiben, damit ihr auch über eine gute Handschrift verfügt. Eine Handschrift kann so etwas wie eine Visitenkarte sein. Eure Lehrer sollten darauf achten, dass ihr mehr mit Hand schreibt und sie sollten auch auf eine einigermaßen schöne Schrift achten. Dann lassen sich auch die schriftlichen Arbeiten besser korrigieren… Es gilt immer noch der Satz: Schreiben lernt man nur durch schreiben.

Bei diesen Worten beginnt eine Unruhe und ein Gemurmel bei den Lehrern.

Man hört Lehrer-Bemerkungen wie: Was sollen wir denn noch alles beibringen… Worauf sollen wir denn noch alles achten… Hauptsache ist doch, dass wir es lesen können, was die Schüler schreiben. Wir sind doch nicht mehr im vorigen Jahrhundert… Wer schreibt denn heute in der Schule überhaupt noch viel mit der Hand? Ich doch nur das Nötigste an die Tafel… Und ich brauche gar keine Tafel mehr. Ich werfe meine mit dem PC erstellten Folien mit dem Beamer an die Wand…Ich schreibe ja auch nicht schön, wenn ich überhaupt selbst noch mit Hand schreibe…

Da steht ein Vertreter der Wirtschaft auf und sagt:

Ein Vertreter der Wirtschaft: Wir von der Wirtschaft legen immer noch Wert auf eine möglichst handgeschriebene und schöne Form der Bewerbungsschreiben. Das ist für uns wie eine Art Visitenkarte. Man kann von der äußeren Form auf die innere Haltung schließen.

Da steht der Gast mit dem roten Jackett auf und sagt:

Der Gast mit dem roten Jackett: Was höre ich denn hier für einen antiquierten Unsinn: Schreiben lernt man nur durch schreiben, in der Schule schön schreiben lernen, in Bewerbungen schön schreiben, überhaupt wieder mehr mit Hand schreiben: Wer so etwas sagt, der hat den Zug der Zeit verpasst. Die modernen Medien sollen ja gerade den Menschen von unnötigem Zeitverlust entlasten, auch vom Zeitverlust des Schreibens… Man sollte immer weniger selber schreiben müssen und Bewerbungen z.B. über Video-Konferenzen, Facebook oder zugeschickte Präsentationen auf Video abwickeln… Ich habe volles Verständnis für die gehörten Kritiken von Lehrer- und Schülerseite.

Es ist schon schlimm genug, dass die Schüler noch bei Klassenarbeiten und Tests mit der Hand schreiben müssen. Aber fortschrittliche Schulen beginnen das auch schon zu reduzieren, indem sie den Schülern Antworten zum Ankreuzen vorlegen oder sie nur noch aus vorgegebenen Antwortbruchstücken auswählen lassen. Das macht man sogar schon in den so genannten Sprachfächern wie Deutsch und Fremdsprachen. Und in der Zukunft wird jeder Schüler einen PC und ein Mikrofon vor sich haben und Klassenarbeiten nur noch per Klick und per Stimme erledigen. Das kann dann der Lehrer zu Hause irgend einem Korrekturprogramm vorspielen und dieses wirft dann das Ergebnis aus, auch per PC natürlich. Dann wird Lehrersein wieder richtig Spaß machen, ha, ha, ha.   

Lauter Beifall von Schülerseite und ebenfalls von einem Teil der jüngeren Lehrer.

Sokrates (reflektiert entsetzt): Das wäre dann das "Schulzeitalter des Lernens mit Maschinen". Das eigenständige Denken und die eigenständige Kreativität blieben dann immer mehr auf der Strecke. Und die Lehrer wären dann immer weniger Pädagogen, sondern immer mehr "Unterrichts-Maschinisten". Wie kann man nur solch eine Schul-Richtung gut finden…

Der Referent (erschrocken): Und wie sollen die Schüler dann bei diesem Bruchstück-Lernen und Maschinen-Lernen noch einen guten Sprachstil, eine gute Ausdrucksweise erlernen? Die sind nämlich auch eine Art Visitenkarte… Darauf wollte ich als nächsten Punkt bei der Anfertigung einer erfolgreichen Bewerbung kommen. Denn aus der Ausdrucksweise kann man nämlich auch auf die inneren Qualitäten und Werte schließen… Und das ist auch so mit der Kleidung, die kann bei einer Bewerbung auch als eine Art Visitenkarte eingestuft werden. Darauf wollte ich als übernächsten Punkt kommen…

Der Gast mit dem roten Jackett (unterbricht unhöflich): Auch das ist so etwas, was generell auf den Kerichthaufen der Pädagogik gehört und auch schon immer häufiger dort landet… Das Äußere ist unwichtig, es kommt nur auf den inneren Kern an. Lernt doch endlich, durch das Äußere auf das Innere zu sehen. Seht euch doch die meisten jüngeren Lehrer an, wie die angezogen sind: Locker, lässig, modern, ungepflegt, mit Jeans… Die Würde des Lehreramtes kann man an deren Kleidung nicht erkennen und soll man auch nicht erkennen… Und überhaupt ist Lehrersein keine Pflicht und keine Würde, sondern nur ein Job wie jeder andere, ein bequemere Job, wenn man es richtig macht, ha, ha, ha.

Das gilt auch für die Ausdrucksweise beim Sprechen und Schreiben. Wer von den jungen Leuten spricht mittlerweile denn noch in ganzen und längeren Sätzen? Dafür hat man doch beim ständigen Mailen, Twittern, Chatten und Telefonieren keine Zeit mehr. Kurz, im Stenogrammstil das Wesentliche gesagt, Sprachbrocken, Satzbruchstücke und eine ganz einfache Ausdrucksweise benutzt, das wird heute immer mehr modern und das ist auch richtig so… Man soll wissen, worum es geht, das genügt… Und man soll Vieles knapp sagen können und nicht Weniges in guter Form. Das ist die modernere Art der Kommunikation und wird sie künftig noch ausgeprägter sein. Passen Sie sich endlich mal der Zukunft an, ha, ha, ha.

Wieder Beifall-Gejohle auf Schülerseite und Applaus bei einem Teil der Lehrer.

Da steht entrüstet ein anderer Vertreter der Wirtschaft auf:

Ein Vertreter der Wirtschaft: Für mich gibt es jetzt aus dem Gehörten folgende 3 Konsequenzen:

1. Die eben gehörten und durch den Applaus bestätigten Einstellungen bei einer Reihe von Lehrern und Schülern gelten nur für diese Schule - hoffentlich. Dann werde ich von dieser Schule vermutlich keine Schüler mehr zur Ausbildung annehmen. Das wäre der günstigste Fall.

2. Wenn solche Einstellungen verbreiteter an den deutschen staatlichen Schulen sind, dann muss das Privatschulwesen mit Differenzierungen und erhöhten Leistungszielen gefördert werden. Die deutsche Wirtschaft sollte in ihrem ureigensten Interesse dazu bereit sein, ein solches breit gestreutes Privatschulwesen finanziell zu unterstützen. Ich bin sofort dazu bereit. Das wäre eine mögliche weitere Lösung.

3. Die deutsche Wirtschaft sollte verstärkt die Einwanderung aus solchen Ländern unterstützen, die ein anerkanntes anspruchsvolles Schulwesen haben, und zwar sollte besonders die Einwanderung solcher Familien gefördert werden, deren Kinder gute Abschlüsse aus diesen Schulsystemen vorlegen können. Ich denke z.B. an ehrgeizige, leistungsstarke Kinder aus Indien, Singapur, Korea, Japan usw. Von den deutschen Schülern sollten nur noch wirklich leistungsstarke Schulabgänger in eine Ausbildung übernommen werden. Das wäre die bitterste Konsequenz. Wir müssen abwarten, welche Konsequenz in der Realität die Folge sein wird.

Diesmal zustimmendes Gemurmel von Seiten der geladenen Vertreter der Wirtschaft.     

Anschließend stehen diese Vertreter auf und verlassen den Raum.

Der Referent: Ich bin hierher gekommen, um den Schulabgängern nützliche, aber vielleicht unbequeme und unmoderne Empfehlungen für erfolgreiche Bewerbungen zu geben. Ich bin nicht hierher gekommen, um mir diese Aufweichung von Sprach- und Schreibkultur anzuhören. Ich breche hiermit meine Ausführungen ab.

Damit verlässt er ebenfalls den Raum, begleitet vom Gejohle aus der Schülergruppe und Gefeixe von Seiten einiger Lehrer. Besonders laut lacht der Gast mit dem roten Jackett.

Sokrates (sinniert sehr nachdenklich): Den Mann mit dem roten Jackett sollte ich  kennen… Der weiß die Menschen anzupacken… Das ist wirklich ein planmäßiger Abbau von Sprach- und Schreibkultur. Entweder stehen dahinter naive Bildungsideologen, die phantastischen Zielen nachstreben, oder kaltplanende Bildungspolitiker, denen alle Mittel recht sind, Stimmen zu fangen... Oder es steht dahinter der Geist, der alles Anspruchsvolle verneint… Da kann ich nur sagen: Deutsche Schule - quo vadis?
Aber ich hoffe, dass dieses Stimmungsbild hauptsächlich nur für diese Schule zutrifft.

Damit verlässt Sokrates auch den Saal.

Wie es mit dieser Bildungsveranstaltung weiter gegangen ist, ob die Schulleitung oder einige vernünftige Lehrer sich nachträglich noch zu Wort gemeldet und ihr Bedauern ausgesprochen haben, ist unwichtig. Zum Nachdenken bleibt das Stimmungsbild, das  hier deutlich geworden ist.

(Verfasst von discipulus Socratis, der mit dabei saß und der hinzu fügt, dass dieses Stimmungsbild vermutlich nicht so selten und nicht nur auf diese Schule beschränkt ist)

  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.04.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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