Tomek Zapart

In der Mitte Maurice

Kapitel 1
Es war vor über zehn Jahren. 1987 verließ Maurice seine Wohnung in Krakau-Mitte. Zu diesem Zeitpunkt dachte er noch nicht daran, dass er seine eigenen vier Wände nie wieder betreten würde. Er begab sich zum Bahnhof. Mit einem einzigen Koffer ausgestattet sollte seine Reise beginnen. Der Zug hatte Verspätung. Seine Frau war nicht dabei. Keine Abschiedsszenen. Keine von zwanzig oder dreißig Minuten. Nein. Die nette Bahnhofsstimme machte die Reisenden darauf aufmerksam, dass der Zug auf Bahnsteig 21 mit 180 Minuten Verspätung eintreffen würde. So. Was nun? Doch Maurice hatte keine Zeit zum Nachdenken. Sofort wurde er von zwei eleganten Herren in ein dunkles Zimmer eingeladen. Also er war gerade auf dem Weg nach Frankreich. Genauer gesagt zu einer Beerdigung. Den Pass hatte er erhalten, weil er seine Tante in ihrer letzten Ruhestätte beisetzen wollte. Ein üblicher Grund für die Beantragung einer Reisebewilligung in den Westen. Die Papiere stimmten. Nichts Auffälliges. Alles bürokratisch abgesichert. Man ließ ihn gehen. Wie sich später herausstellen sollte war er ab diesem Moment Gefangener der westlichen Freiheit. Warum? Das wusste er in diesem Moment noch gar nicht. Er ahnte nicht mal etwas. Die Schlüssel für die Wohnung, für das Auto, der eine Koffer und sein Geldbeutel. Alles. Alles und Nichts. Über zwanzig Jahre. Für nichts und wieder nichts. Nicht einmal ein Foto seiner Frau. Aber die wartete auf ihn in seiner Wohnung in Krakau. Wirklich? Er wollte ja nur einige Monate im Goldenen Westen die Straßen putzen um sich auch mal was leisten zu können. Er war Journalist. Trybuna war sein Arbeitgeber. Westen, Westen, Westen. Ach ja er konnte Englisch. Irgendwann in der früh wachte er kurz vor Marseille auf. Hier flossen also die Dollar. Die Franzosen mögen kein Englisch. ça ira! Wohin? Er wusste es nicht. Wie konnte er auch. Aber das war der Westen. JA. Mehr oder weniger golden. Auf der Straße lag kein Geld. Arbeit auch nicht. Vielleicht wieder zurück. Da hörte er einen Landsmann. Job, Wohnung, Geld. Er wollte zurück. Soviel Dreck, Gestank im goldenen Westen machten Appetit auf Marx. Arbeiten, arbeiten, schlafen, arbeiten, arbeiten, essen, arbeiten. Die Schreibmaschine fehlte ihm am meisten. Nach vier Wochen hatte er soviel Geld zusammen wie nach einem Jahr drüben. Nach einem Jahr stand schon das Haus. Er wollte zurück. Doch er blieb. Noch bisschen mehr von dem grünen Papier konnte nicht schaden. Meinte seine Frau. Also noch ein halbes Haus. Dann nochmals ein Ganzes. Zwei Häuser sollten reichen. Da fiel der Vorhang. Keine Reisebewilligung, keine Zensur. Keine Frau. Keine Wohnung. Wohnungen waren begehrt in Krakau. Seine Frau war nicht dumm. Ein englischer Geschäftsmann zahlte ihr das wofür Maurice ein Jahr lang malochen musste. Frankreich war die neue Heimat. Konnte er noch überhaupt schreiben? Nein. Er war am Ende. So als wäre er im Kino eingeschlafen. Im falschen Film aufgewacht. Eine bessere Zukunft. Erfüllte Liebe. Frauen? Er hatte in Frankreich keine einzige. Die Frau wartete ja. Ach ja? Tatsächlich? Dieses Mal nur zwei Jahre. Wieder für nichts und erneut nichts. Der goldene Westen. Der war jetzt für seine Frau im Osten. Für ihn an den Docks. Da gab es immer jemanden zum Reden. Und Bier aus Exportüberschuss. Arbeit? Nein keiner wollte einen Clochard. Die Wohnung in Krakau. Den Schlüssel hatte er noch. Das Auto. Das hatte sie bestimmt auch schon verkauft. Sein Konto. Ja, das war die letzte Hoffnung. Doch er hoffte nicht mehr. Zurück nach Hause. Nein, lieber nicht. Er war schon hier Fremder und dann auch noch in der Heimat fremd zu sein. Nein. Das würde nicht einmal ein Löwe verkraften. Zwei Jahre geistiger und psychischer Rekonvaleszenz. Dann riss er sich zusammen. Das Geld war noch da. Wie ein Fluch. Er musste wieder. Neuer Anfang. Er kaufte sich was anständiges zum Anziehen. Die Taschen der teuren Boutique machten zwei nette Herren auf den Clochard aufmerksam. Déjà-vu. Dunkles Zimmer. Gebrochenes Französisch. Osten. Die Rechnung. Man ließ ihn gehen. Das war so üblich in einem Rechtsstaat. Natürlich blieb ein Eintrag. Wie damals. Er kaufte sich eine Schreibmaschine. Le Monde. Nein. Trybuna. Ja. Auslandskorrespondent. Einige von der alten Garde waren noch vielleicht da. Man würde sich an ihn erinnern. Dachte er. Knapp dreißig war er jetzt. War das alles. Vielleicht? Rien ne va plus?

Kapitel 2
In den nächsten zwei Jahren arbeitete er in einer Schreibagentur. Er konnte schnell tippen. Er lernte Französisch. Er kaufte sich eine kleine Wohnung. Damit war das Geld aufgebraucht. Doch es ging ihm wieder besser. Er hoffte.




Ich schreibe an dich
an dich und mich
nach vorne gehen
du und ich
wir müssen
wir können
wir wollen
bestehen
ich schreibe an dich
die Hoffnung.




Ein französischer Clochard-Freund meldete sich bei ihm. Maurice hatte ihm mal die Hälfte von seiner letzten Semmel geschenkt, als sie in den Docks vor sich hin vegetierten. Jetzt war dieser wieder oben. Und er erinnerte sich an Maurice. Er war der erste. Die Hoffnung wurde bestätigt. Es war nur eine Regionalzeitung. Aber er durfte wieder schreiben. Welche Erleichterung. Ja das war der Anfang. Es ging aufwärts. Er bekam sein Büro, einen Schreibcomputer, Mobiltelefon. Er zeichnete sich aus. Man wurde aufmerksam. Zentralbüro. Größere Reportagen. Trybuna rief wieder an. Man hat ihn doch nicht vergessen. Wehmut. Er fing auch dort wieder an. Man lud ihn ein zu Partys. Er wollte nicht. Er war noch nicht soweit. Die Heimat war zu weit weg und er zu nah. Er wollte Abstand gewinnen. Dann würde er vielleicht die Einladung annehmen. Er arbeitete fleißig. Man vertraute ihm immer größere Geschichten an. Das Interview mit dem Bürgermeister. Höhepunkt. Zumindest ein erster. Das Konto wurde wieder voller. Das Haus in der Heimat zum erneuten Traum. Er wurde stärker. Aber immer noch keine Frauen. Da klingelte das Telefon. Es klingelte in letzter Zeit permanent. Beruflich. Aber auch privat. Das H vom Hallo war schon weg. Er erschrak. Er hob ab. Er hörte dieses harte H. Sie war wieder da. Die Frau. Er konnte nicht auflegen. Auch nicht schreien. Er weinte. Kein Wort. Nur die Adresse. In zwei Wochen würde sie ihn besuchen. Wollte er das wirklich? Niemand weiß was Liebe eigentlich bedeutet. Also wollte er. JA. Sie sollte ihn glücklich machen. Aber konnte sie das?

Kapitel 3
Der Zug hatte Verspätung. Keine 180 Minuten. Keine eleganten Herren. Feiner Anzug. Gleis 21. Sie kam. Sie hatte sich nicht verändert. Nicht für ihn. Die erste Nacht war wie ein Traum.
Realität war weit weg. Gespräche. Tage. Nächte. Alles wie die Fortsetzung eines abgebrochenen Filmes. Hollywood. Oder so ähnlich. Alles unglaublich und doch wahr. Vom Straßenkehrer zum glücklichen Mann. Oder so ähnlich. Naja. Egal. 180°-Wende. Oder noch mehr? Mathematik, Physik? Hier war es mehr die Biologie. Aber sie hatte die Wohnung wieder aufgekauft. Er wollte sie nicht mehr. Frankreich? Nein. Aber auch nicht Krakau-Mitte. Er war tatsächlich glücklich. Sie bereute. Wer würde das nicht tun? Sie vielleicht? Wie lange kann so was gut gehen? Ein halbes Jahr? Sie versuchte es am Anfang wirklich. Er war verblendet. Zehn Monate. Sie war erneut weg. Dieses Mal nicht mal Herzschaden. Keine Materialkosten. Irgendein wichtiger Mensch erschien ihr wichtiger. Doch sie hatte ihm geholfen. Kein zweiter Absturz. Er spürte den Boden. Sex-Appeal. Reich, Sexy, Berühmt. Er schrieb nur noch für die Wichtigsten. Kommunismus schult im Schreiben von Aufreißern. Anpassung. Er war jetzt mittendrin statt nur dabei. Eine neue kam. Sie ging. Es kam eine nächste. Er war jetzt äußerst kalt. Die Umgebung war kalt. Wozu sollte er etwas zum Schmelzen bewegen. Nicht er. Er hatte seins abgeleistet. Glaubte er. Geld zählte nicht mehr. Was für eine Welt! Der Zug fuhr. Wieso sollte er abspringen. Nein. Nie wieder arm. Er fuhr nach Krakau. Alle kannten ihn wieder. Ein paar Wenige wirklich. Diese sind meistens erst später von Bedeutung. Die momentan Bedeutsamen schlugen sich um ihn. Sein Buch kam raus. Millionen grüner Papiere. Autobiographie. Die Welt ist nicht zu schnell nur manche sind zu langsam. JA. Dann zwölf. Krakau-Mitte. Keine Menschen. Die letzte Probe. Er besteht. Zurück in der neuen Heimat.

Kapitel 4
Er war geladen. Großstadt. Paris. Metro. Ein Clochard sitzt ihm gegenüber. Maurice schaut nicht hin. Oder doch? Ihm wird schlecht. Ein letzter Aufmarsch. Doch er besteht. Vergangenheit. Zukunft ohne Vergangenheit. Das ist modern. JA. Dann schreit der Clochard. Es ist seine Sprache. Oder war sie es? Sie ist tot. Fast tot. Er antwortet. Konversation. Zwei gleiche Menschen. Nur eine Zeitspanne von einigen Jahren trennt sie. Déjà-vu. Maurice ist noch nicht ganz kalt. Er kommt zu spät zu seinem Termin. Betrunken. Exportbier. Sein Mobiltelefon klingelt. Es ist der Clochard. Er spricht kein Französisch. Die Gastgeber werden misstrauisch. Doch er schafft es. Er ist ein Kämpfer. Alle sind überzeugt. Der Clochard wird zum Freund. Neue Aufträge aus Paris. Neue Millionen. Neue Bücher. Der Clochard erzählt ihm Geschichten. Geschichten die viel wert sind. Es sind wahre Geschichten. Traurig. Maurice nimmt nur die mit Happy-End. Die kann man verkaufen. JA. Mehr Gespräche mit dem Clochard. Maurice erscheint nicht in der Arbeit. Aber er ist zu gut um Probleme zu bekommen. Man lässt ihn. Er schreibt Longseller. Alle sind glücklich. Der Clochard bekommt eine Bleibe und Bier. Ist das der Dank? Ist das alles? Nein. Der Clochard stirbt. Erneut ein gutes Thema. Autobiographie II. Maurice ist kalt geworden. Endgültig.


Kapitel 5
Der Kommissar erscheint. Jemand hat Maurice mit dem Clochard gesehen. Mordverdacht. Alles läuft schnell. Negative Publicity. Das kann sich der Verlag nicht leisten. Er hat ausgedient. Er hat ihn nicht umgebracht. Sagt Maurice. Aber er muss zurück. In seine Heimat. Sein Verleger will das. Gras über die Sache wachsen lassen. Kein Aufsehen. Auch nicht in der Heimat. Krakau empfängt ihn kalt. Es ist Winter. Niemand kennt ihn. Nur die paar von vorher. Das Konto ist voll. Kein Fluch. Doch Geld ist auch begrenzt. Fünf Jahre später. Es ist nichts mehr da. Nur die paar Leute. Die kannten ihn schon immer. Keine Partys. Einer von ihnen besorgt ihm einen Job bei Trybuna. Seine Artikel liest man nicht mehr gerne. Zu wenig Gras ist gewachsen. Die Leute haben gutes Gedächtnis. Nur weil er nicht verurteilt wurde, heißt das noch lange nicht, dass er nicht der Mörder ist. Mit Geld kann man viel machen. Wissen die Leute. JA. Ohne Geld muss man auf die letzten guten hoffen. Er hatte alles erlebt. High-Society und Docks-Clochards. Es lohnt sich nicht mehr. Man findet ihn in einem See. Überdosis.

Es geht und kommt
das Glück des Geldes
so auch wir.

Dieses fand man in seiner kleinen Wohnung.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.03.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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