Manfred Bieschke-Behm

Aus dem Leben einer Tasse


Noch bevor ich über meine Reise von der bayrischen Porzellanherstellerfirma nach Berlin berichte, erzähle ich euch, was davor geschah.
Längst war mein Herstellungsprozess abgeschlossen und die Reise hätte eigentlich losgehen können. Auch meine Geschwister-Tassen warteten darauf verpackt und zum Bestimmungsort geschickt zu werden. Aber bis es soweit war, dauerte es, dauerte und dauerte es. Endlich war der Zeitpunkt gekommen. Ich und elf meiner Geschwistertasssen wurden von einem fleißigen Mitarbeiter gegriffen, einzeln in Folie gewickelt und dann geschickt in einen Karton, der in zwölf Feldern unterteilt war, verstaut. Damit uns auf dem Transportweg nicht passiert, bekamen wir einen Überkarton übergestülpt und waren so bruchsicher und reisefertig eingepackt. Natürlich war es nun sehr dunkel. Aber, ich war ja nicht alleine, und hatte deshalb auch keine sonderliche Angst. Als unser Behältnis dann allerdings mehrmals hin und her gewendet wurde, war mir doch ein bisschen komisch zumute. „Was machen die mit uns?“, fragte ich meine Tassengeschwister. Eine Tasse wusste zu berichten, dass alle Kartons, mehrmals mit Klebeband umwickelt werden und das dadurch der Zustand entsteht, als würden sich der Inhalt in einem Karussell befinden.
Ich fragte mich zwar, woher meine Geschwistertasse dieses Wissen hat, aber letztendlich schien mir die Aussage glaubwürdig und ich gab mich dem Schicksal hin.
Nachdem sich mein Schwindel gelegt hatte, ging ich davon aus, in aller Ruhe zum Bestimmungsort transportiert zu werden.
Hätte es unterwegs nicht die vielen Straßenschäden gegeben und hätte unser Transporteur nicht immer so ruckartig gebremst, hätte es eine erholsame Fahrt sein können. So aber, war mir ständig übel. ich wollte nur raus.
Endlich schien das Ziel erreicht. Das Transportauto hielt an und die Ladeluke geöffnet.
So ungeschickt der Transporteur als Autofahrer war, so sanft ging er jetzt mit uns um. Ich hatte das Gefühl, er würde mich und die anderen Tassen beim Hineintragen in das Geschäft in den Schlaf wiegen. Aber trotz aller Träumerei schlug mein Tassenherz ganz kräftig. Ich war furchtbar aufgeregt.
Mit aller Vorsicht wurde der Karton geöffnet. Vorbei war es mit der beklemmenden Dunkelheit. Helles Licht umgab uns. Behutsam wurden meine Geschwister und ich dem Karton entnommen und die Folien, die uns immer noch fest umschlossen hatten, vorsichtig entfernt. Anschließend vom Transportstaub befreit und in ein Regal, dass Platz genug für uns alle hatte, gestellt.
Hier standen wir nun glänzend, fabrikneu in Reih und Glied. 
 Meine Position war günstig. Ich stand in der zweiten Reihe links außen. Nach mir folgten noch zwei Reihen mit jeweils drei Tassen.
Nachdem ich mich akklimatisiert hatte, wagte ich einen Blick nach links. Neben uns standen wunderschöne, edle aussehende Teetassen. Sie hatten eine vornehm zarte gelbe Einfärbung, einen goldenen Abschlussrand und dezentes Streublumenmuster. Ihre Henkel waren graziös geschwungen und besaßen rechts und links einen goldenen Streifen. An Höhe waren sie uns weit unterlegen. Es waren eben Teetassen und keine Kaffeepötte wie wir. Wegen ihrer geringen Größe waren die Teetassen jeweils zu zweit übereinander gestapelt. Das heißt, die untere Tasse trug die Last der oberen Tasse und die obere Tasse konnte sich überlegen fühlen. 
Wir weiße Tassen waren in der Ansicht schlicht. Unauffällig. Was uns ausmachte, war unsere beachtliche Dimension an Höhe und eine feststellbare Robustheit. Keinerlei Verzierung schmückte unsere schlanken Körper und unsere Henkel würde ich eher zweckmäßig als elegant bezeichnen. Uns konnte man nicht stapeln. Das hatte nun wirklich den großen Vorteil, dass es keinen Druck von oben gab.
Natürlich hatten die Teetassen ihren Preis. Sie waren um ein Vielfaches teurer als wir. Aber trotz des erheblichen Preisunterschiedes fühlten wir uns nicht minderwertig. Im Gegenteil.
Stolz ,wie ausgerichtete Soldaten, die Henkel alle in die gleiche Richtung positioniert, behaupteten wir unseren Standort und warteten auf die Dinge, die vielleicht kommen würden.
Was für Tassen rechts von mir aufgereiht waren, kann ich nicht sagen. Die zwei Tassengeschwister, die neben mir standen, verwehrten mir freie Sicht. Ich vermute, dass auch die rechten Tassen, anders aussahen als wir.
Gleich am zweiten Tag nach unserem Ladeneinzug, wurden sechs von meinen Geschwistern gekauft. Zeit sich zu verabschieden, blieb nicht. Dazu ging die Herausnahme aus dem Regal viel zu schnell. Bemerkenswert war, dass die Käuferin, eine junge flott gekleidete Frau, die sechs Tassen nicht aus der ersten und zweiten Reihe nahm, sondern jeweils zwei Tassen aus der ersten, zweiten und dritten Reihe.
Nachdem sich unsere Formation entscheidend verändert hatte, war festzuhalten, dass sich jetzt in der ersten bis dritten Reihe jeweils nur noch eine Tasse befand (ich war die einzelne Tasse in der zweiten Reihe) und dass die letzte Reihe, mit drei Tassen, noch vollständig vorhanden war.
Es dauerte nicht lange bis zwei weitere Geschwistertassen uns verlasen mussten.
Nun waren wir nur noch zu viert. Wir hatten nicht die Möglichkeit unsere ursprüngliche Position zu verteidigen und mussten uns deshalb damit abfinden, dass die Verkäuferin uns so platzierte, wie sie es für richtig hielt.
Durch die starke Reduzierung war es mir nun möglich zu sehen, was für Tassen rechts von uns standen. 'Na ja! Sie sahen ganz nett aus. Aber, wenn ich ehrlich bin, fand ich uns in unserer Schlichtheit attraktiver. Die „Rechten-Tassen“ waren mir zu aufgemotzt. Zu radikal. Ja ich muss es sagen: Die rechten Tassen waren mir unsympathisch! Ich weiß ja nicht wie viele dieser Tassen ursprünglich dort standen, aber erkennbar war, dass aus der ersten Reihe nur eine Tasse fehlte. Daraus schloss ich, dass dieser Tassentyp nicht der große Renner war.
Die wunderschönen, zu unser Linken, die gestapelten Teetassen dagegen schienen bei den Käufern mehr Interesse zu wecken, denn immerhin haben uns – soweit ich es überschauen konnte - fünf mal zwei Teetassen verlassen.
Während ich so über die Gesamtsituation nachgedacht hatte, näherte sich ein blond gelockter, etwas aufgedrehter Junge. Ich hörte noch wie seine Mutter - ich nehme an, dass es seine Mutter war, denn Ähnlichkeiten zwischen den Beiden war erkennbar – also ich hörte wie die Mutter dem Junge hinterher rief: "Leon, sei vorsichtig! Ich möchte nicht, dass es Scherben gibt!“
Leon störte sich nicht an der Warnung seiner Mutter. Tollpatschig näherte er sich uns vier verwaisten Tassen und versuchte nach uns zu angeln. Auf seinen Zehenspitzen stehend, erreichten uns seine Hände nur mit allergrößter Mühe. als erstes nahm er mich. Und das sehr ungeschickt. Der Blondkopf stieß mich schmerzhaft gegen einen Regalpfeiler, dabei bekam ich einen Sprung über die ganze Länge meines Körpers. Das war es ja dann wohl, dachte ich, und war einer Ohnmacht nahe. Meine drei noch vorhandenen Geschwister beobachten die Aktion mit Argwohn und Entsetzten. Gleichzeitig hatten sie Angst, vor eigener Beschädigung. Sie blieben verschont.
Leons Begleitung hatte oder wollte nicht wahrnehmen, was soeben geschehen war. Das gerade ein Tassenleben zerstört wurde, war für sie offensichtlich von geringem Wert. Sie sagte zu Leon: „Wir nehmen doch nicht die weißen unattraktiven Tassen, sondern vier von den schrill bunten Tassen, die daneben stehen.“
Die passen auch besser zu Euch, dachte ich und merkte, wie der Sprung mir immer mehr zu schaffen machte.
Der Tag war sehr anstrengend für uns. Nur schwer überstanden wir die Nacht. Die Befürchtung, dass der neue Tag erneute Aufregung bringen könnte, ließ uns nicht zur Ruhe kommen.
Am nächsten Tag entschied sich ein freundlicher älterer Herr uns vier zu kaufen. Die aufmerksame Verkäuferin merkte sofort, dass mit mir etwas nicht stimmte. Sie machte den Käufer darauf aufmerksam, dass eine der Tassen einen Sprung hatte und deshalb nicht verkauft werden kann. Auf ihre Frage, ob der freundliche Herr denn auch mit drei Tassen zufrieden wäre, kam die Antwort: „Na, dann nehme ich eben nur die drei unbeschädigten Tassen. Eigentlich wollte ich sowieso nur drei Tassen kaufen. Die Vierte sollte eine Reservetasse sein.“
Meine drei Geschwister verließen mich allein zurücklassend. Da stand ich nun traurig mit nicht zu übersehenden Sprung abgestellt neben der Kasse. Irgendwann nahm mich die Verkäuferin, betrachtete mich mitleidsvoll und stellte mich in ein Regal, wo weiteres beschädigtes Geschirr abgelegt war.
Nachdem ich mich mit meiner Situation abgefunden hatte, sprach ich einen Teller an, dem ein Stück Porzellan herausgebrochen war. „Was passiert mit uns“ wollte ich wissen.
„Wir werden irgendwann als „Poltergeschirr“ abgegeben."
Mit dem Begriff Poltergeschirr konnte ich nichts anfangen. Ich fragte nach. Der beschädigte Teller, wusste was Poltergeschirr ist, und wofür es dient ist. Er erklärte mir, dass Poltergeschirr beschädigtes Geschirr ist, dass, wenn zwei sich Liebende heiraten, am Vorabend von Gästen, vor ihnen, vollständig zerschlagen wird. Der Brauch sagt, dass zerschlagendes Geschirr Glück bringen soll.
'Dann bringen Scherben also Glück', dachte ich laut.
 „Ja, Scherben bringen Glück!“ bestätigte mir der beschädigte Teller.
'Na dann erfülle ich ja doch noch einen Zweck, wenn gleich der eigentliche Sinn meiner Bestimmung ein anderer war', dachte ich und freute mich Glücksbringer sein zu dürfen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.05.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Do we know what home is, what does this term mean for modern nomads and cosmopolitans? Where and what exactly is home?
Haven't we all overlooked or misinterpreted signs before? Are we able to let ourselves go during hectic times, do we interpret faces correctly? Presumably, even today we still smile about certain encounters during our travels, somewhere in the world, or we are still dealing with them. Not only is travveling educating, but each travel also shapes our character, opens up our view for other people, cultures and their very unique challenges.
Streams of thoughts describes those very moments - sometimes longer, sometimes only for a short time - that are forcing us to think and letting us backpedal. It is about contemplative moments and situations that we all know.

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