Hans-Juergen Ketteler

Eine bemerkenswertige Personalie

Franz! Er war in unserer Klasse so etwas wie ein Musterjunge. Übermut, Streiche oder Rangeleien waren ihm von Natur aus fremd. Er kam jeden Morgen- und das war für
seine Mutter bei der etwas kakeligen Figur garnicht so einfach- adrett gekleidet zur Schule.
Franz fiel nicht auf. Er mischte sich unter die Schüler und hörte überall zu, ohne seine Meinung zum Besten zu geben. Die Lehrer beurteilten ihn als guten Schüler, sein Verhalten
war -objektiv betrachtet- mustergültig. Er machte halt nichts kaputt.
Wenn da nicht auch eine andere Seite an ihm gewesen wäre, die einem angeboren sein muss, um sie so vollendet zu beherrschen wie er. Er saß, so weit ich mich erinnern kann,
immer auf demselben Platz: In der zweiten Reihe rechts zum Fenster. Er war Weltmeister der Täuschung, der Beherrscher des Pons. Es muss schon Intuition gewesen sein, dass er zu jeder Klassenarbeit in Latein, Englisch und Griechisch immer die richtige Übersetzung zur Hand hatte.Die Raffinesse, mit der er sich Vorteile in seinen schwächeren Fächern
verschaffte, war genial und unnachahmlich. Dieser von Statur her große Schüler konnte sich so verrenken, dass in Hemdtaschen, Ärmeln, Schuhen oder auf Armen und Hand-
flächen immer die richtigen Hilfen zur richtigen Zeit abrufbereit waren.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass  Franz jemals ertappt wurde. Dieser Sachverhalt bescherte ihm bei uns Klassenkameraden Respekt und Anerkennung. Mit der Zeit
lockerte unser Trickgenie seine Zurückhaltung und gab ausgewählten Sympathisanten Einblicke in seine Geheimnisse. Während fast alle von uns nach den Schularbeiten die frische Luft suchten, zum Schwimmen oder zum Fußballspielen gingen, saß Franz brav zu Hause und lernte und lernte und lernte.
So dachten wenigstens seine Eltern. In Wirklichkeit beschäftigte er sich mit der Beschaffung der Übersetzungen für die anstehenden Klassenarbeiten in den Sprachen.
Er nahm Verbindung zu den anderen Schulen und Schülern auf, nachdem er gehört hatte, dass nach Stand des Lehrstoffes in gleichgelagerten Gymnasien dieselben Klassenarbeiten geschrieben wurden. So hatte unser Franz immer die richtige Spürnase, die auch im echten Leben nicht zu übersehen war. Die persönliche "Leibwache",
die sich besonders vor den Klassenarbeiten um ihn herum bildete, kam in den Genuss von Tips und Anregungen. Er musste jedoch aufpassen, dass der Kreis der Informierten
nicht zu groß wurde. Es hätte fatale Folgen gehabt, wenn in der halben Klasse dieselben Textpassagen aufgetaucht wären.
So lief das Spielchen viele Jahre störungsfrei. Alle Lehrer sahen in Franz einen fähigen Schüler, der über jeden Zweifel erhaben war. Mit dem zeitlichen Abstand weiß ich
heute auch, weshalb Franz immer auf demselben Platz sitzen wollte. In seiner akribischen Vorstellungskraft hatte er herausbekommen, dass nahezu alle Lehrer beim Überwachen der Klassenarbeiten über die ersten Reihen hinwegsahen. Es gab sogar Lehrer, die auf den Stuhl kletterten, um den Klassenraum besser überschauen zu können. Da fiel natürlich ein Schüler in der zweiten Reihe aus dem Blickfeld.
Doch irgendwann stand dann die Matura, die Abiturprüfung, an. Franz wäre nicht Franz gewesen,wenn er nicht alleRegister seines Schülerdoppellebens gezogen hätte.
Mit einer angeblichen Blasenentzündung machte er schon einige Tage vor der schriftlichen Prüfung darauf aufmerksam, dass er öfters als üblich die Toilette aufsuchen
und somit den Prüfungsraum verlassen musste.
Mit System waren- für uneingeweihte selbstverständlich verborgen- unter Klodeckeln, selbst auf Toilettenpapier abrufbare Informationen  versteckt, die ihm eine unver-
zichtbare Unterstützung bei der Bewältigung seiner Abituraufgaben bescherte. 
So war es kaum verwunderlich, dass Franz auf seine Art ein passables Abitur hinlegt. Auf der Abiturfeier lüftete er nach dem Genuss einer hochprozentiger Spirituosen,
die er aufgrund seiner asketischen  Lebensweise nicht gewohnt war, den Schleier seiner Wissensquellen.
Die Lehrer waren teils erstaunt, teils schockiert, dass Franz doch kein so großer Musterschüler war. Auf dem Abiturball tanzte Franz unverdrossen mit seiner Schwester,
da er in den letzten Jahren keine Gelegenheiten hatte, mit der holden Weiblichkeit Kontakte zu knüpfen.
Dieses Handicap sollte ihn sein ganzes Leben begleiten. Meines Wissens nach hat er nie geheiratet. Doch wie ging es mit Franzens Karriereleiter weiter?
Auf der bisherigen Täuschungsbasis konnte es beim Studium nicht weitergehen. Er beschloss - welch Ironie des Schicksals - den Weg der Jurisprudenz zu bestreiten. Als  Rechtsanwalt, Staatsanwalt oder Richter, dachte er wohl, würde ihm ein krisensicheres Leben beschert. Womit er vom Grundsatz durchaus Recht hatte.
Franz wurde, notgedrungen zu einem paukenden Studenten. Sein Eifer und seine Fähigkeiten wurden von den Hochschullehrern gerühmt, so dass man durchaus den Eindruck haben konnte, er hätte seine schulischen Leistungen bis zum Abitur mit Lernen und nicht mit Täuschungsstress   bestritten. Franz bestand auf Anhieb sein juristisches Staatsexamen und strebte das Richteramt an.Und Franz wurde aus der Sicht der Angeklagten ein guter Richter. Die kleinen Leute und das Strandgut der Gesellschaft, die Klein-Ganoven hatten bei ihm gute Karten. Lag das vielleicht daran, dass er sich erinnerte, wie stark in seiner Schulzeit Wahrheit und Ehrlichkeit von ihm selbst gebeugt
worden waren?
Die von ihm gefällten Urteile brachten zahllose Kläger, aber auch Berufskollegen auf die berühmte Palme. Keinem anderen Richter wurden in der Berufungsinstanz
soviele Urteile gekänzelt, also umgeändert.
Soll man sagen: Er ist in seinen Handlungen  zu human gewesen? Ich weiß es nicht.Vielleicht war er ja mit seinen Entscheidungen zufrieden und es ließen ihn die Attacken von draußen kalt. Franz ist immer ein Einzelgänger geblieben. Zu Frauen hielt er zeitlebens eine respektierliche Distanz. Im Laufe seiner Amtszeit machte er sich einen guten Namen als netter, liebenswerter Singl.  In den Delikatessengeschäften und Bekleidungsläden der Stadt schlichen sich mit der Zeit Anreden wie: "Guten Tag, Herr Gerichtsrat", "Guten
Morgen Herr Dr."usw. in sein Alltagsleben ein. Franz widersprach  und korrigierte nicht. Ihm gefielen die als Kompliment aufgefassten Bezeichnungen Mit diesen Titeln, die er nie besaß, die ihm aber sehr schmeichelten, ging er in den Ruhestand. Möglicherweise daran denkend, dass sein Lebensabend einer ähnlichen Lebenslüge aufgelaufen war wie seine Schulzeit.
Übrigens....  In den letzten Wochen sah ich Franz nach langer Zeit wieder. Dieses animierte mich auch zu dieser Erzählung. Das Rentnerdasein schien ihm gut zu bekommen.
Adrett gekleidet, im feinsten Zwirn, rank und schlank, stakselig wie früher, mit gestyltem Haarschnitt und gepflegtem Oberlippenbart stolzierte er duch unsere Innenstadt, als wenn er sagen wollte: "Schaut her ich bins."
Ehrlich, Franz: Lassen wir die Moral mal kurz außen vor.  Auf  Deine Art bist Du ein Großer!
              

     

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.05.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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