Iris Klinge

Am Rio de la Plata

Hier sitze ich in meinem Adlernest im 10. Stock mit Rundblick auf die gesamte Bucht von Montevideo. Der Rio de la Plata, den die Leute hier liebevoll "das Meer" nennen, erstreckt sich als das größte Flußdelta der Welt etwa 40 km breit bis ans andere Ufer nach Argentinien. Es ist kein Land am Horizont zu sehen, nur die vielen Schiffe auf ihrem Weg nach Buenos Aires. Dieses unbeschreibliche Panorama inspiriert mich zu einigen Überlegungen über das Schicksal meiner neuen Wahlheimat Uruguay.

 

Als ich vor acht Jahren in meiner Traumstadt Montevideo ankam, war sie für mich das verlorene und wiedergefundene Paradies. Alles war möglich, denn nach dem gerade überstandenen  Zusammenbruch der uruguayischen Wirtschaft  konnte jeder, der wertvolle Dollars oder Euros mitbrachte, hier ein preiswertes Apartment  im besten Wohnviertel erwerben. Das habe ich glücklicherweise auch getan.

 

Damals glaubte ich noch, Montevideo sei mein zukünftiges Altersdomizil.  Die Lebensbedingungen schienen optimal zu sein.  Herrliches Obst und Gemüse auf den täglichen Wochenmärkten, der  Fisch fangfrisch direkt vom Boot, spottbillig, ebenso  das Fleisch „biologisch“ aus dem Umland,  denn die Tiere stehen das ganze Jahr auf der Weide. Die gesunde Lebensweise wurde durch den sich nebenan befindenden Sportclub unterstützt, wo ich jeden Tag Tennis spielte, sowie Yoga-, Pilates- und Aerobic-Klassen besuchte.

 

Doch die Illusion dauerte nicht allzu lang. Von Jahr zu Jahr verschlechterten sich die Lebensbedingungen, die Preise stiegen rasant, die Kriminalität ebenso.

 

Es gibt Geschichten hier, die so unglaublich klingen, und doch wahr sind. Meine Yogalehrerin verkaufte mir ihre kleine Wohnung an der Promenade , die sich ohne Weiteres mit Copacabana in Rio vergleichen lässt, denn es ist eine riesige Bucht voller Wolkenkratzer. 

 

Sie zog ins Stadtzentrum um und erwarb dort eine Altbauwohnung von 220 Quadratmeter für 60.000 Dollar. Sie machte daraus zwei getrennte Wohnungen, renovierte sie und richtete sie künstlerisch ein. Gestern erfahre ich von einem bekannten Makler, dass jetzt beide Wohnungen für jeweils 230.000 Dollar angeboten werden. Das wäre ein Zugewinn von 400.000 Dollar in wenigen Jahren. Das sind südamerikanische Zustände, von denen die Europäer mit ihren Sparmaßnahmen nur träumen können. Einer der Gründe für diese abartige Entwicklung hier scheint mir die Geldwäsche zu sein, denn sehr viel schwarzes Geld fließt ins Land durch Drogen und andere illegale Geschäfte. Und Banken und Staat schauen weg.

 

Der Bauboom ist ungebrochen. So verschwinden die letzten Stadtvillen und müssen Platz machen für Wolkenkratzer. Die Neubauwohnungen sind miserabel gebaut und erzielen horrende Preise. Noch immer gibt es Spekulanten vorwiegend aus den Nachbarländern Argentinien und Brasilien, die in solche Objekte investieren, weil sie ihrer eigenen Regierung nicht trauen und weil sie ihr Geld beiseite schaffen wollen.

 

Der Fluß hat sich in eine Jauche verwandelt, weil noch immer die meisten Abwässer unbehandelt eingeleitet werden. Auch das trägt nicht zum guten Ruf der Stadt bei.

 

Viele Einheimische ziehen inzwischen raus aus der Stadt an die Küste, weil sie die hohen Mieten und Steuern nicht mehr bezahlen können. Draußen ist das Leben noch einigermassen normal und ruhig. Doch auch dort müssen Fenster und Türen mit Eisengittern gesichert werden, um Einbrüche zumindest zu erschweren, auch wenn die Leute oftmals tagsüber in ihren Häusern überfallen werden. Entführungen passieren immer häufiger, vor allem, wenn es sich um bekannte Reiche handelt.

 

Die tägliche Lektüre der Tageszeitung mit ihren Schreckensnachrichten von Überfällen und Bandenkriegen trägt weiter zur Verunsicherung der zugewanderten Ausländer bei. Das neuste Problem sind die vielen Jugendlichen, die sich problemlos Waffen besorgen können und gnadenlos in die Geschäfte eindringen, wo sie die Kassen plündern. Niemand leistet Widerstand, und sogar das Wachpersonal wird kaltgestellt. Unter 18 Jahren können diese Kriminellen nicht eingesperrt werden, und so ist es vor allem diese Gruppe jugendlichen der Täter, die den meisten Schaden anrichtet, auch bedingt durch ihre Drogenabhängigkeit.

 

Es ist ein Albtraum, und ein Ende nicht in Sicht.

 

Viele von uns denken daran, hier wieder alle Zelte abzubrechen und sich an einem sichereren Ort niederzulassen. Vielleicht wäre Thailand eine Alternative. Dort werden die Menschen noch liebevoll gepflegt und nicht "beseitigt", weil sie dem Pflegepersonal lästig geworden sind. Dies war der Skandal hier vor einem Monat. Man munkelt, dass an die 200 Kranke auf der Intensivstation zweier Kliniken in Montevideo vom Personal ins Jenseits befördert wurden, weil die sich überfordert fühlten. Die Untersuchungen und Verhaftungen sind noch im Gang.

 

So wird vielleicht der Rio de la Plata bald nur noch eine wehmütige Erinnerung sein   - an eine Epoche, die nie mehr wieder kommt, und die doch nur 8 Jahre zurück liegt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.05.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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