Helmut Wurm

Sokrates und dessen Traum vom idealen Schulen-System

Sokrates trifft sich am Nachmittag mit einem seiner Schüler, dem Discipulus Socratis. Sokrates kommt zu ihm  mit einem auffällig glücklichen Gesicht. Auf die Frage nach der Ursache dieser verklärten Stimmung erzählt Sokrates:

Sokrates:  Wir haben die letzte Zeit gemeinsam so viele Schulen des deutschen Schulwesens besucht und mit so vielen Leuten, jüngeren und älteren, gesprochen und dabei so viele nachdenklich machende Zustände und kleinere und größer Missstände gefunden, dass ich eigentlich ziemlich bedrückt, ja sogar niedergedrückt geworden bin. Du hast ja darüber mit meinem Einverständnis viel berichtet.

Nun habe ich mich heute Mittag in einem Park in der Nähe eines Schulzentrums, das ich heute Vormittag besuchte, wieder recht nachdenklich auf eine Bank gesetzt, mich mit dem Rücken an einen Baum gelehnt und wollte dem, was ich dort bemerkt habe, in meinen Gedanken nachhängen - da bin ich doch eingeschlafen. Und dabei hatte ich einen Traum, der mich für einige Zeit wenigstens glücklich gemacht hat.

Denn ich erlebte in diesem Traum ein für mich ideales Schulen-System, so wie es eigentlich sein sollte und wie diejenigen Menschen, die für das deutsche Schulwesen verantwortlich sind, es bisher nicht einrichten wollten oder konnten.

Discipulus Socratis: Es wird nicht leicht sein, ein solches ideales Schulen-System einzurichten, denn ich kenne Deine Ansprüche. Ein solches Schulen-System müsste  

- pluralistisch sein, also für jeden Schüler- und jeden Lerntypus etwas anbieten.

- Es müsste offen sein, also für alle Entwicklungsphasen, Lernformen und Unterrichts-probleme Verständnis haben.

- Und es müsste anspruchsvoll sein, also hohe Bildungsergebnisse bei allen Schülern und Abschlüssen anstreben, damit die Schüler am Ende ihrer Schulzeit gut vorbereitet für das Leben in die Erwachsenen-Lebensstufe entlassen werden.

Ich frage mich nun: Pluralistisch, offen und anspruchsvoll - ist das in einer Phase zunehmender pädagogischer Ideologisierungen überhaupt möglich umzusetzen?

Sokrates: In meinem Traum war es in diesem Schulen-System möglich. Eigentlich war es ein großes ideales Bildungs-Gelände, das ich in meinem Traum glücklich durchwanderte. Es lag am Rande einer Stadt in einem Gebiete mit vielen Grünflächen und Sportanlagen. Denn dort sollten nach antiker Tradition Geist und Körper gebildete werden.

Und in diesem Bildungs-Gelände gab es eine Vielzahl von kleinen, unterschiedlichen Bildungs-Eeinrichtungen mit viel einheitlichem Leben. Das scheint ein Widerspruch in sich zu sein, war es aber nicht. Das will ich genauer erklären:

- Klein waren diese unterschiedlichen Bildungseinrichtungen deshalb, weil sich jede Bildungs-Gemeinschaft als große Familie fühlen sollte und deshalb nirgends durch zu große Schulkomplexe einer Vermassung Vorschub geleistete werden sollte.

Und unterschiedlich waren sie, damit jeder Schülertypus seine ihm zusagende und für ihn passende Bildungs-Einrichtung und Lerngemeinschaft finden konnte.  

Und einheitliches Leben herrschte dort insofern, als alle am Schulleben Beteiligten möglichst einheitliche gemeinsame Bemühungen und Verhaltensformen anstrebten.

Discipulus Socratis: Das musst du mir noch genauer erklären, Sokrates, wie man klein, unterschiedlich und doch möglichst einheitlich ein Schulsystem gestalten kann. Das widerspricht sich wirklich in sich selbst, wie soll das gehen?

Sokrates: Das will ich dir gerne erklären. Fangen wir bei den Schulen-Einheiten an. Auf diesem Schulsystem-Gelände gab es eine Vielzahl von Gebäuden in bescheidener Größe. Über deren Eingang stand in unauffälliger Schrift jeweils ihr Typus und für wen sie gedacht sind.

- Ich las Gesamtschule für Schüler, die mit Schülern unterschiedlicher Lernfähigkeit zusammen lernen wollen oder sollen.

- Ich las Gymnasium für diejenigen, die direkt nach der Grundschule von Anfang an mehr Bildung erwerben möchten.

- Ich las gymnasiale Oberstufe für alle die Schüler, die erst relativ spät ehrgeizig geworden sind und jetzt recht viel lernen und anschließend möglichst studieren noch möchten.  

- Ich las Hauptschule für diejenigen Schüler, die nicht so leicht lernen oder nur ein Grundwissen anstreben, um später praktische Tätigkeiten zu beginnen. Hier fühlen sie sich unter Gleichartigen nicht verunsichert und können besser einheitlich gefördert werden.

- Ich las Realschule für diejenigen, die nur eine mittlere gehobene Bildung wünschen und damit in die gehobene berufliche Praxis gehen möchten.   

- Ich las Förderschule für diejenigen, die einer besonderen Lern- und Verhaltens-betreuung bedürfen. In kleinen Gruppen für sich kann man sich dieser Aufgabe am besten widmen.      

- Ich las bei einem Gebäude Hochbegabten-Kurs für diejenigen, die entweder sehr leicht lernen oder die sich für noch mehr Bildungs-Inhalte interessieren als die Schüler der gymnasialen Oberstufe.

- Ich las Kursschule für alle Schüler mit unterschiedlichen Begabungs-Niveaus, die in den einzelnen Bildungsgebieten unterschiedlich gefördert werden wollen.

Ich las Schule mit Ganztages-Unterricht für Kinder berufstätiger Eltern.

Ich las Nur-Vormittagsschule für Schüler, deren Eltern ihre Kinder möglichst früh zu Hause haben möchten und sie selber gut erziehen wollen.

Ich las…, ich las…

Discipulus Sokratis: Halt ein, Sokrates! Eine solche Schulvielfalt in einem größeren Schulen-Gelände… Kann man so etwas überhaupt einrichten? Bekämpfen sich da die einzelnen Schul-Ideologen nicht heftig?

Sokrates: Man kann eine solche pluralistische Vielfalt auf einem begrenzten Gelände durchaus einrichten, wenn man das will und wenn die einzelnen Schuleinheiten klein gehalten werden. Denn es gibt nicht den Einheitsschülertypus sondern nur viele unterschiedliche Schülertypen und deswegen ist ein Einheitsunterricht unpädagogisch und unfair, wenn man für jeden Schülertyp die beste Förderung anstrebt.

Discipulus Socratis: Birgt eine solche Vielfalt nicht Gefahren, wenn man bedenkt, dass Eltern und Schüler sich bezüglich ihrer Schulen-Wahl auch irren können?

Sokrates: Ich habe bei meiner Traumwanderung durch dieses Schulgelände gehört, dass jeder Schüler am Ende eines Schulhalbjahres das Recht hat, den gerade von ihm besuchten Schulen-Typus zu wechseln - nach oben wie nach unten. Er muss sich dann aber voll dem jeweiligen Leistungsniveau anpassen - da gibt es keine Entschuldigung. Damit solche Wechsel nach oben leichter möglich sind, kann der Schüler parallel dazu 3 Monate lang einen Brücken-Kurs besuchen, der Bildungsdefizite auffüllt  und von Lehrern und Schülern aus diesem gewählten höheren Schulen-Typus angeboten wird. 

So ist eine äußere Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Schulen-Einheiten sicher gestellt.

Discipulus Socratis: Und welche dieser Schulformen würdest du nun besonders bevorzugen?

Sokrates: Meine besondere Wertschätzung gilt der Kurs-Schule, die in diesem Traum-Schulen-System in der Mitte der Anlage lag. Dort gab es überhaupt keine Klassen, sondern für alle Fächer 3 nach Anforderungen gestaffelte Kurse - also die Leistungskurse A, B, C.  Der C-Kurs hat die geringsten, der A-Kurs die höchsten Anforderungen. Das galt für alle Fächer gleichermaßen, also auch für die sonst weniger gewichteten Fächer Sport, Musik und Kunst.

Denn fast jeder Mensch hat Stärken und Schwächen, Interessen und Desinteressen. In jeder seiner Stärken hat jeder Schüler das Recht, besonders gefördert zu werden. Und in jeder seiner Schwächen hat jeder Schüler das Recht, besonders geholfen zu bekommen. Und das versucht man in diesen homogenen Kursen. Die Lehrer können sich dann besser auf diese Aufgabe einstellen.

Und auch hier kann jeder Schüler am Ende eines Halbjahres den Kurs wechseln und auch hier gibt es zur Erleichterung für einen Wechsel nach oben Brückenkurse. So ist eine innere Durchlässigkeit gewährleistet.

Und als Folge davon gibt es in dieser Kurs-Schule keinen Schul-Dünkel bzw. Schulart-Scham, denn jeder Schüler ist irgendwo in einem A- oder B-Kurs und jeder auch in einem B- oder C-Kurs. Die Eltern erzählen nicht mehr stolz, dass ihre Kinder auf das Gymnasium gehen, sondern sie erzählen sich nur noch, in welchen Schwerpunkten ihre Kinder im A-Kurs sind…

Discipulus Socratis: Wenn es in dieser Kurs-Schule keine Klassen mehr gibt, dann gibt es auch keine Klassenlehrer mehr. Fehlt dann nicht die persönliche Betreuung der Schüler?

Sokrates: Damit die persönlich-menschliche Betreuung der Schüler nicht zu kurz kommt, muss jeder Lehrer für eine wöchentliche Beratungs-Sprechstunde und für einen wöchentlichen Betreuungs-Kurs zur Verfügung stehen. Die Zugehörigkeit zu solchen Betreuungs-Kursen erfolgt teils über eine freie Lehrerwahl durch die Schüler und teils durch eine Zuweisung von Schülern an Lehrer durch die Schulleitung - damit eine etwa gleichmäßige Verteilung der Schüler auf die einzelnen Lehrer gegeben ist.

Dieser Schultypus ist für mich der pädagogischste und damit beste Schul-Typus. Er vermeidet die Schwächen des gegliederten Schulsystems und der Gesamtschule und berücksichtigt gleichzeitig die Unterschiede in den Schülertypen.

Discipulus Socratis: Das ist für die Lehrer aber eine sehr anstrengende Schulwelt. Können diese sich darin überhaupt orientieren, behaupten und optimal wirken?   

Sokrates: Als ich im Traum durch diese Schulen-Landschaft ging und mit dem einen und anderen sprach, erfuhr ich, dass alle Lehrer einheitlich die jeweiligen Schulregeln umsetzen und einheitlich die Bildungsziele erreichen müssen. Keiner darf durch individuelle besondere Milde, Nachsicht oder Stoffkürzungen andere Lehrer vor den Schülern ausspielen. Vor den Schülern treten alle Lehrer wie ein Block auf. Darauf hat die jeweilige Schulleitung streng zu achten. Gerade diese Einheitlichkeit gegenüber den Schülern erleichtert die Arbeit der Lehrer sehr und gibt ihnen die Möglichkeit, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren.

Discipulus Socratis: Und wie ist das Verhalten der Schüler in diesem schulischen Traumland gewesen? Vermutlich sehr viel anders als in der Realität bei uns.

Sokrates: Ja, die Schüler waren anders als an den realen Schulen in Deutschland. Ruhig gingen sie morgens in Scharen zu diesem Schulen-Zentrum hin und verteilten sich dann fächerförmig auf die einzelnen Schulen-Einheiten. Als ich mich über diese Ruhe, Disziplin und Rücksichtnahme wunderte, wurde mir mitgeteilt, das seien die Folgen des Faches "Gutes Benehmen", das alle Schüler mindestens über 3 Jahre besuchen müssen. Wer irgendwann einmal schlecht auffällt, muss ein weiteres halbes Jahr dieses Fach zusätzlich zu seinem normalen Unterricht besuchen… Ich finde das eine sehr sinnvolle Maßnahme und Strafe…

Discipulus Socratis: Du sagest zu Anfang, dass an dieser Schule Körper und Geist gleichmäßig ausgebildete werden – ähnlich wie im alten Griechenland. Wie soll das praktisch geschehen?

Sokrates: Alle Schüler müssen täglich mindestens 1 Stunde Sport treiben. Und zwar die Nur-Vormittagsschüler etwa zwischen 10 und 11 Uhr und die Ganztages-Schüler noch einmal nach der Mittagszeit. So ist ein gleichmäßiger Rhythmus zwischen der Geistesbildung und der Körperbildung gewährleistet.

Discipulus Socratis: Und wie sind die Eltern in dieses System integriert? Melden sie ihre Kinder nur an der jeweiligen Schule an bzw. ab und sind sonst nicht weiter in das System eingebunden?

Sokrates: Gerade weil Erziehung heutzutage immer weniger ernsthaft und gründlich von Elternseite erfolgt, werden regelmäßig speziell für die Eltern Erziehungs-Seminare angeboten. Diese werden jeweils von Erziehungswissenschaftlern, Sozialpädagogen und Entwicklungspsychologen durchgeführt. Und man erwartet von Seiten der Leitung dieses Schulen-Zentrums, dass alle Eltern auch einmal einen solchen Erziehungs-Kurs besuchen und wirbt deswegen ganz intensiv für diese Erziehungs-Kurse…

Discipulus Socratis: Wie ich dich kenne, Sokrates, hättest du dich am liebsten noch lange in diesem Schulen-Zentrum im Traum aufgehalten.

Sokrates: Ja, gerne hätte ich noch mehr erfahren und gesehen und gerne würde ich noch weitere Details von diesem idealen Schulen-System berichten können. Aber leider bin ich bald wieder aufgewacht - als nämlich eine Gruppe junger Schüler mit viel Lärm nach dem Ende des Nachmittags-Unterrichts an meiner Bank vorbei zog und einer sogar an meinem Umhang zupfte…

Da hatte mich die Realität wieder eingeholt. Aber man darf ja mal träumen, wenn die Verantwortlichen für das deutsche Schulsystem zu phantasielos, zu bequem, zu mutlos oder zu ideologisch-verkrustet sind, um ein solches ideales Schulen-System einzurichten. Möglich wäre es…  

(Niedergeschrieben von discipulus Socratis nach diesem Bericht des Sokrates über seinen glücklichen Traum)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.05.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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