Sabine Dobbeck

Fast wie im Film

Robin, der achtjährige Enkel meiner Freundin Melanie, ist ein kleines Schlitzohr, ein richtiger Pfiffikus. Außerdem verfügt er über einen fast unwiderstehlichen Charme, den er bei Bedarf sehr gezielt einzusetzen versteht. Sein treuherziger Augenaufschlag bringt ganze Felswände zum Einsturz und lässt auch noch die letzten Eisberge schmelzen. Die Mädchen, denen er damit später einmal das Herz brechen wird, tun mir heute schon leid.

Nun ist Robin zwar kein Wunderkind, aber hochintelligent und in Mathe ein kleines Genie. Seine Aufgaben rechnet er im Kopf schneller aus, als andere mit dem Taschenrechner, und bei Klassenarbeiten ist er in der Hälfte der Zeit fertig – oft zum Ärger der Lehrerin, weil er sich den Rest der Stunde damit vertreibt, seine Mitschüler durch Clownerien von der Arbeit abzulenken. Seine Begeisterung für dieses Fach zeigt sich auch in der Wahl seiner Spielsachen, die am besten alle geometrisch, das heißt viereckig geformt sein sollen: Playstation, Fernseher und PC. An letzterem bewirtschaftet er nicht nur seinen virtuellen Bauernhof, sondern erbaut Flughäfen und sogar ganze Städte. Zu seinen Fernsehlieblingen zählen unter anderem Captain Picard und Mister Spock, auch Tom und Jerry lässt er gern über den Bildschirm flimmern. Am liebsten würde er so den ganzen Tag im Schlafanzug, auf dem Teppich liegend, vor der Mattscheibe verbringen. Die meisten Kinder übernachten mit Vorliebe bei den Großeltern, weil sie dort meistens viel mehr Freiheiten als bei ihren Eltern haben. Doch irgendwann mus auch hier Feierabend sein. Nun gehört ein simples „Nein“ leider nicht Robins bevorzugtem Wortschatz an. Deswegen bleibt meiner Freundin oft nichts weiter übrig, als ein rigoroses Machtwort zu sprechen, in etwa so: „Entweder du machst jetzt auf der Stelle den Fernseher (wahlweise die Playstation, den Computer) aus, oder es gibt keinen Käsekuchen!“ Das zieht, wenigstens für den Moment. Aber dann genügt ein unbewachter Augenblick, beispielsweise wenn Melanie telefoniert. Das tut sie ausgiebig und oft, denn ihr großer Freundeskreis reicht weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt hinaus. Sie braucht dabei nur kurz aus dem Zimmer zu gehen, weil es manchmal auch etwas zu bereden gibt, das nicht unbedingt für Kinderohren bestimmt ist – und schon errichtet der Kleine per Mausklick neue Wolkenkratzer, verkauft Eier von seiner Hühnerfarm oder schert seine Schafe.

Auch gestern konnte und wollte er wieder kein Ende finden. Auf Melanies energisches „Robin, genug für heute!“ warf er ihr unter langen, seidigen Wimpern einen Blick zu, bei dem sämtliche romantischen Kinohelden, einschließlich Clark Gable, Rock Hudson und Gregory Peck, vor Neid erblasst wären, und schmeichelte: „Och nöö, nur noch zehn Minuten, biiiitte!“ Melanie blieb jedoch hart: „Nein, für heute reicht´s. Jetzt gibt es Abendbrot, dann wird geduscht, und danach geht es ab ins Bett!“ Vor Staunen riss der Kleine die Augen ganz weit auf, zog einen Schmollmund und meinte enttäuscht: „Komisch, im Film klappt das jedes Mal!“

„Na, und ich habe mich vielleicht gewundert, was für Streifen der Junge sich zu Hause wohl ansieht“, erzählte Melanie mir später am Telefon. „Dabei dachte ich immer, dass er nur ´Star Wars´ guckt…“
  

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