Etwa die Hälfte der Einwohner dieses Landes am Rio de la Plata, geschätzte 1,5 Millionen, lebt in der Hauptstadt Montevideo .Die restlichen Uruguayer verteilen sich auf die Weiten der Landschaft, die sie mit den vielen Rinderherden teilen. Alle hier sind irgendwann eingewandert, die Mehrzahl aus Europa und aus den Ländern des Ostens.
Es geschah vor 48 Jahren auf einer abschüssigen Straße im Landesinnern.
Meine Freundin erinnert sich noch an jede Einzelheit dieses tragischen Moments, der ihr Leben für immer veränderte. Sie war erst 6 Jahre alt und mit ihrer gesamten Familie in einem klapprigen Pickup unterwegs. Der Vater am Steuer, die Mutter neben ihm mit ihrem jüngsten Brüderchen auf dem Schoß, und sie mit ihren 5 anderen Geschwistern hinten auf der Ladefläche.
Es wurde nie geklärt, ob die Bremsen des Wagens versagten oder ob der Vater in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit die Kontrolle über das Steuer verlor. Jedenfalls knallte der Pickup mit voller Wucht gegen einen Baum. Alle Kinder hinten wurden in hohem Bogen auf die Straße geschleudert. Cristina erinnert sich noch genau an die Schreie und das viele Blut überall.
Das Baby vorn war sofort tot, die Mutter lebensgefährlich verletzt mit mehreren Knochenbrüchen. Sie verbrachte mehr als zwei Jahre in einem Krankenhaus, bevor sie wieder einigermaßen hergestellt war. Cristina blieb als einzige der Familie unverletzt. Ihre Geschwister wurden auf mehrere Kliniken verteilt und später bei mehreren weitläufigen Verwandten untergebracht. Es war das Ende des Lebens als Familie, denn sie fanden nie mehr zueinander.
Cristina kam in die Obhut einer alten Frau, die sie später adoptierte, jedoch mehr oder weniger als billige Arbeitskraft benutzte. Auch konnte sie die Schule nur sporadisch besuchen, weil die Arbeit in Haus und Garten Vorrang hatte.
Als das Mädchen 16 Jahre alt war, starb die Alte. Vorher hatte sie noch veranlasst, dass das Mädchen in einem Kloster aufgenommen wurde. So begann Cristinas Vorbereitung zur Nonne. Kurz bevor sie das Gelübde ablegen wollte, tauchte eine ihrer Tanten auf, die sie lang gesucht hatte. Cristina sollte sich entscheiden für das Leben draußen oder für immer hinter den Klostermauern. Sie wählte die Freiheit und begann eine Ausbildung zur Altenpflegerin.
Dann passierte die zweite Tragödie ihres Lebens. Bei einem Ausflug an die Küste schwamm sie etwas weit ins Meer hinaus und wurde von der starken Strömung abgetrieben. Sie versuchte, die Leute am Strand auf sich aufmerksam zu machen, doch diese glaubten, sie würde ihnen nur winken. Schließlich trieb sie leblos auf dem Wasser, bis sie von einem Schwimmer entdeckt und an ihren langen Haaren an Land gezogen wurde. Sie lag fast zwei Monate lang im Koma, bevor sie wieder zu Bewusstsein gelangte. Heute sagt sie, das sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen, denn sie war weit, weit weg von allem Leid dieser Erde, wohin sie wollte nie wieder zurück kehren wollte.
Kurze Zeit später lernte sie ihren Mann kennen, einen Macho mit arabischen Wurzeln, heiratete ihn und bekam drei Kinder. Aber die Ehe hielt nicht, weil sie zu sehr unter der Willkür ihres Mannes zu leiden hatte.
Heute steht Cristina auf dem Wochenmarkt und verkauft dort allerlei Krimskrams, um sich ein kleines Einkommen zu verschaffen. Dort habe ich sie kennen und schätzen gelernt. Sie ist eine Seele von Mensch, eine Überlebenskünstlerin, immer positiv in die Zukunft schauend, trotz ihrer Armut. Sie hat es geschafft, ihren drei Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen und lebt heute wieder allein.
Ihr Glaube an die andere Welt, die sie schon einmal kennen lernen durfte, hilft ihr, die Widrigkeiten ihres Alltags mit Heiterkeit und Zuversicht zu ertragen. Ich wundere ihren Lebensmut und ihr Durchhaltevermögen. Ein lebendes Bespiel für alle hier, die weniger hart mitgenommen wurden und sich trotzdem ständig beklagen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.06.2012.
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