Karin M. Gericke

Bis in den Tod

Bis in den Tod

Und doch war ich hier her gekommen. Ich wusste nicht warum. Ich wusste nicht was ich eigentlich hier wollte. Ich hatte hier nichts zu suchen.
Und trotzdem war ich da. Ich ging den langen Weg entlang. Der Tag war düster. Wie passend, dachte ich. Es regnete leicht. Wieso regnete es immer an solchen Tagen?
Zu solch einer Stimmung. Warum nur? Ich ging weiter auf den grünen Rasen entlang bis auf einen Weg mit Kieselsteinen ankam. Gut das ich keine Schuhe anhatte.
So konnte mich keiner hören. Und genau das sollte auch keiner. Ich fühlte mich eh nicht wohl in dieser Gegend, zu dieser Zeit, zu diesem Anlass.
Doch irgendwas zog mich hier her. Irgendwie wollte ich trotzdem daran teilnehmen. Schließlich war es auch ein Teil meines Lebens. Vor langer Zeit. Die anderen würden mich für verrückt erklären.
Aber sie konnten es mir nicht sagen. Ich hörte ihre Stimmen oft, wie sie zu mir sprachen. Fast jeden Abend. Aber ich konnte nicht antworten. Sie hatten von heute gehört.
Ich wusste nicht wie. Aber sie wussten, dass es passiert war. Sie wussten es. Das erzählten sie mir die letzten Nächte.

Langsam ging ich den Weg weiter und sah vom weiten das kleine Loch im sonst so wundervoll gepflegten Rasen. Die Erde lag daneben. Aufgeschüttet auf einen Haufen.
Bedenkt von zwei Schaufeln. Ich schaute mich um. Eine sehr kleine Menschengruppe versammelte sich um das Loch. Sie waren allesamt schwarz gekleidet und hielten ihren Kopf gesenkt.
Die meisten von ihnen erkannte ich wieder. Ich hatte mir so sehr gewünscht sie nie wieder zu sehen. Aber es war klar, dass sie heute da sein würden. Wenigstens sie. 
Und es war meine Entscheidung hier her zu kommen. Ich ging näher auf das Loch zu. Näher an die Menschenmenge heran. Ich spürte nix. Ich war leer. Komplett leer.
Aber das war nicht erst seit heute so. Das war schon lange Zeit so. Schon damals, als ich noch bei ihnen war.
Ich stellte mich neben die ältere Dame, die mir so bekannt war und die ich doch so verabscheute. Sie sah mich nicht. Sie konnte mich auch nicht sehen. Wie sollte sie auch?
Neben ihr stand gebeugt ihr Mann. Sein Gesicht war von Narben der Vergangenheit durchzogen. Ich hatte kein Mitleid. Er hatte es sich so ausgesucht. Genau wie der andere.
Neben dem Erdhaufen stand eine Frau mit einem Kind. Ich hatte sie nur einmal gesehen und wusste, dass wir das gleiche Schicksal teilten. Das Kind weinte nicht.
Es sah auch nicht traurig aus, es lächelte sogar. Die Augen der Frau sahen einfach leer aus. Kein Wort das man daraus lesen konnte. Kein Gefühl, dass sich deuten ließ.

Dann plötzlich nahm ich eine Stimme wahr. Sie erzählte etwas von einem jungen Leben, das zu früh aus dieser Welt geschieden war. Ich musste lachen. Gut, dass mich niemand hörte.
Es war widerlich, aber ich musste lachen. Ich ging weiter auf das kleine Loch im Rasen zu. Zwei Männer ließen das vergoldete, wunderschön bemalte Porzellangefäß bringen und ließen es in die Erde ein.
Eines dieser Porzellane, die ewig hielten. Die man dort stehen lassen konnte. Die durch die Erde nicht beschädigt werden würde. Ich sah es an. Das war nun noch von ihm übrig. Staub. Nichts mehr als Staub.
Das war das, was ihn jetzt noch ausmachte. Ich sah die ältere Dame an. Sie weinte. Und es wunderte mich, weil ich nicht geglaubt hatte, dass sie dazu fähig war. Nie hatte sie geweint.
Obwohl sie es sich genauso mit ansehen musste wie ich. Obwohl sie ihn genauso mit zum Ende seines Weges begleiten musste wie ich. Ich hasste ihn.
Obwohl er jetzt nur noch Staub war spürte ich immer noch diesen abgrundtiefen Hass.

Ich sah ihn wieder vor mir. Er der große starke. Er, der einzig wahre.
Er, der Mensch, den ich über alles liebte. Wieder kamen mir die Bilder in den Kopf, wie ich immer wieder weinend im Bett lag, nachdem ich seine Wut abbekommen hatte.
Wie ich vor ihm flehte, dass er aufhörte. Aufhörte mit dem Zeug, das ihn zu diesen Monster werden ließ. Dieses Zeug, das uns zerstört hatte. Dieses Zeug durch das ich immer wieder leiden musste.
Ich sah mich. Wie ich flehte, dass er doch bitte aufhörte. Wie ich vor Schmerz schrie. Wie ich immer wieder versuchte seine Welt zu flicken. Ihn aus jedes Loch zu holen.
Ihn immer wieder ein glückliches Leben zu bescheren. Ich hätte es nicht tun müssen. Ich hätte gehen können, ohne Leid zu hinterlassen. Ich hätte ihn zurück lassen können.
Ich hätte alles anders machen können. Aber ich bin gegangen, als es zu spät war. Ich hatte alles über mich ergehen lassen, bis es zu spät war. Bis ich daran zerbrochen war.
Bis der Schmerz mich aufgefressen und das Messer sich zu tief in den Adern meines Handgelenks geboren hatte.

Die Erde wurde aufgeschüttet, sodass das Loch verschwand. Der Mann im schwarzen Gewand legte eine weiße Blume auf den Erdhaufen.
Diese Art Blume, die es immer an solchen Tag gab. Die jeder Mensch an diesem Tag bekam. Die auch ich damals bei mir hatte. Nur waren es bei mir mehr. Viel mehr.
Es war ein Meer dieser Blumen. Ich drehte mich um und verließ den Platz. Ich war gegangen. Schon vor langer Zeit.
Und doch auch jetzt ließ er mich nicht allein in meinem Frieden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.06.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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