Andrea G.

Es war ein trauriger Montag

Als ich nach Hause kam, war ich echt super drauf und pfiff sogar ein Lied. Es war Wochenende, meine Hausaufgaben waren schon erledigt und ein herrlicher freier Nachmittag lag vor mir. Ich trat durch die Eingangstür und schmiss meine Schuhe in die Ecke, was meine Mutter regelmäßig in Rage trieb. Mindestens einmal pro Woche musste ich mir einen Vortrag anhören, von wegen aufräumen, Ordnung im Haus und was weiß ich - das übliche BlaBla.

Auch dieses Mal kam meine Mutter auf mich zugerauscht, aber seltsamerweise fing sie nicht ihre übliche Strafpredigt an, sondern sagte nur: “Es ist etwas passiert. Mit der Kiki.“

Kiki war unsere Wellensittichdame.


Sofort verpuffte meine gute Laune und ich sprintete in mein Zimmer, wo der Käfig der beiden Vögel stand, die seit über acht Jahren mit mir zusammenlebten. Dort entdeckte ich meine Schwester, wie sie vor dem Käfig saß und ein aufgeplustertes, grüngelbes Etwas in den Händen hielt.


Kiki.


In dem Moment war ich gar nicht mal geschockt, sondern nur etwas verwundert, weil sich der normalerweise eher bissige Vogel einfach so halten ließ, sich sogar regelrecht in die Hand hineinkuschelte. Dann erzählte man mir, dass sie irgendwann an dem Tag gestürzt war und seitdem nicht mehr fliegen konnte, nicht einmal mehr richtig laufen, sondern nur auf dem Bauch lag und vor sich hinvegetierte. Wir standen vor einem Rätsel.


Es war Sonntag, und am Morgen war noch alles in Ordnung gewesen.


Was macht man mit einem Vogel, der quasi querschnittsgelähmt ist? Der unfähig ist zu fliegen? Tja, was wohl...Einschläfern. Denn solch eine Qual wollte ihr keiner zutrauen. Das war kein Leben mehr.


Einschläfern.


Oder, einfacher gesagt: umbringen.


Töten.


Meine Mutter rief beim Tierarzt an, machte für den morgigen Tag einen Termin aus, denn immerhin war ja Sonntag. Und ich?


Empfand gar nichts.


Es war das seltsamste, was ich je erlebt hatte. Ich wusste, dass ich eigentlich traurig sein sollte, ich liebte diesen Vogel immerhin, aber es war, als ob es ein ganz normaler Tag sei, als ob niemals etwas passiert sei. Verdrängung pur, nicht wahr? Das menschliche Gehirn ist doch zu den erstaunlichen Sachen fähig. Immer wiederholte ich: “Kiki wird sterben, morgen, und du wirst sie nie wieder schreien hören, sie wird nie wieder auf deinem Finger sitzen oder an deinem Kragen nagen.“


Nichts.


Ich fühlte mich wie immer.


Also entschloss ich mich, ein Buch zu lesen. Mit Kiki in meiner Hand. Weil sie nicht mehr sitzen konnte, nur noch liegen, und wir nicht wollten, dass sie irgendwie unbequem lag. Sobald sie sich nämlich irgendwo anders befand als in der Hand, fing sie an, sich fortzubewegen, ein sehr jämmerlicher Anblick. Mit Hilfe ihres Schnabels versuchte sie, ihren Körper nachzuziehen, robbte quasi auf dem Boden. Ich verstand es nicht und behielt sie schließlich in meinen Händen, wo sie sich offensichtlich wohl fühlte.


Warum scheint an solchen Tagen die Sonne?


Unser anderer Wellensittich, Charly, saß auf seiner Stange und beobachtete uns aufmerksam. Er gab keinen Mucks von sich.


Am nächsten Tag ging ich ganz normal zur Schule, und danach fuhren wir zum Tierarzt. Ich trug sie in meinen Händen, mit einem Tuch umwickelt, damit sie nicht fror. Wir wurden gleich drangenommen. Die Tierärztin redete ganz normal mit uns, während sie die Spritze aufzog, und ich streichelte Kiki beruhigend. Sie machte keinen Laut, saß nur in meinen Händen, ganz ruhig, und ließ sich streicheln. Sie fing erst an widerwillig zu strampeln, als die Ärztin sie nahm und ihr die Spritze verpasste.

Danach wurde sie wieder in meine Hände gelegt, mit den Worten: “Sie wird jetzt müde und dann schläft sie irgendwann ein.“


Draußen schien die Sonne.


Auf einmal spürte ich heiße Tränen in meinen Augen und drehte mich mit den Rücken zu den beiden Frauen. Ich streichelte ihren gelben Kopf, während die Tränen meine Backen hinunterliefen und murmelte wirres Zeug wie “Es ist gleich vorbei“ oder “Gleich schläfst du ein und dann bist du ganz woanders“ und schließlich: “Ich hab dich lieb.“ Ein paar Tränen tropften auf den Vogel, und ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht laut loszuschluchzen. Ich hatte lange nicht mehr richtig geweint und kam mir selber etwas dämlich vor. Aber es wollte einfach nicht aufhören, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie diese Tränen verdiente.


Warum fühlen sich die Augen eigentlich immer so seltsam an, wenn man weint?


Sie lag in meiner Hand, in meiner großen Hand, und schloss langsam ihre klaren, schwarzen Augen. Ich konnte noch sehen, wie sich ihre Brust hob und senkte. Hob und senkte. Und dann...nichts mehr.


Ich streichelte ihren inzwischen leblosen, aber immer noch warmen Körper. Das flauschige Gefieder bewegte sich unter meinen Fingern, und meine Tränen waren dunkle Flecken auf dem leuchtenden Grün. Meine Kiki. Meine kleine Kiki, die ich damals bekommen hatte, als ich noch in die Grundschule ging, meine kleine Kiki, die jahrelang mit mir das Zimmer geteilt hatte, und deren Eigenarten ich so gut kannte wie meine eigenen. Meine kleine Kiki, wie sie in meinen Händen lag.


Tot.


Gestorben.


Leblos.


Als ich mich umdrehte, sah ich, dass meine Mutter auch weinte. Wie kann solch ein kleines Tier sich nur so in die Herzen von Menschen einschleichen? Wir essen Schweine, Rinder und Hühner, aber wir weinen, wenn uns ein Wellensittich stirbt...


Ich trug sie immer noch in meinen Händen, als wir nach Hause fuhren, spürte, wie ihr Körper langsam erkaltete. ich trug sie, bis meine Mutter ein Loch im Garten ausgehoben hatte. Wir begruben sie, ohne ein Wort zu sagen. Und ich weinte.


Wir häuften Erde auf ihr Grab und ich flüchtete in mein Zimmer, dann an den Computer. Ich fing an zu schreiben, wie immer, wenn mich eine Situation überforderte. Ich weinte, während meine Finger nur so über die Tastatur huschten. Was ich schrieb? Keine Ahnung. Ich glaube, irgendein Gedicht über den Tod.
Aber immer wieder tauchte diese Szene vor meinem inneren Auge auf. Wie sie in meinen Händen lag.


In meinen Händen, mich mit ihren unergründlichen schwarzen Augen anschauend.


In meinen Händen, den letzten Atemzug tätigend.


Wie sie in meinen Händen starb...




Es war ein trauriger Montag.

Naja, ich denke die Geschichte sagt alles. Ich hab sie geschrieben, nachdem unser Wellensittich gestorben ist; ist schon hart, wenn man jahrelang so ein Tier an seiner Seite hat und auf einmal stirbt es ohne Grund. Beim Tierarzt hab ich so sehr geheult, das war nicht mehr normal - und das, wo ich normalerweise nie weine. Andrea G., Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.03.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Es wurde sehr viel geschrieben über jene Jahre der unseligen Diktatur eines wahnwitzigen Politikers, der glaubte, den Menschen das Heil zu bringen. Das meiste davon beschreibt diese Zeit aus zweiter Hand! Ich war dabei, ungeschminkt und nicht vorher »gecasted«. Es ist ein Lebensabschnitt eines grünen Jahzehnts aus zeitlicher Entfernung gesehen, ein kritischer Rückblick, naturgemäß nicht immer objektiv. Dabei gab es Begegnungen mit Menschen, die mein Leben beeinflussten, positiv wie auch negativ. All das zusammen ist ein Konglomerat von Gefühlen, die mein frühes Jugendleben ausmachten. Ich will versuchen, diese Erlebnisse in verschiedenen Episoden wiederzugeben.

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