Jürgen Berndt-Lüders

Für meinen besten Freund: Deine Jahre seit 1992

Mein lieber, bester Freund, es werden wohl nicht Deine letzten zwanzig Jahre sein, aber Deine aktiven Jahre, während derer Du Deinen Beruf ausgeführt, während derer Du eine 17 Jahre dauernde Beziehung geführt und während derer Du zwei Kinder gezeugt und geformt hast, neigen sich dem Ende zu. Es werden wohl noch zehn Lebensjahre oder mehr hinzu kommen, aber sie werden anders geprägt sein. Das hoffen wir beide.
 
Mein Freund, Du hast mich gebeten, Deinen Zeitraum seit 1990 zusammenfassend zu schildern. Du selber seist zu involviert, emotional zu einseitig festgelegt, als dass Dir dies selber gelingen könnte. Ich versuche es also...
 
Zwei Hauptbereiche habe es gegeben, sagst Du, die Dich geprägt und beeinflusst haben: Die Mutter Deiner Kinder, Heike, und die Kinder selber.
 
Deine Beziehung war dramatisch, sowohl für Heike als auch für Dich. Ihr stammtet aus völlig unterschiedlichen Sozialisationen: sie mehr auf den rationalen Verstand geprägt und Du eher ein Suchender, der ständig auf Hintergründen achtet, wer wann weshalb was getan hat.
 
Aus dem Grund wurdest Du abhängig von ihr. Sie handelte kalt und berechnend, und Du wolltest wissen, was dahinter steckte, und Du wolltest nie aufgeben.
 
Du sagst, dass Du Dich immer nur auf einen Problembereich konzentrieren kannst, nämlich den, den Du für den wichtigsten hältst. So wie andere Männer nur für ihre berufliche Karriere existieren und die Familie lediglich schmückendes Beiwerk ist, war Heike für Dich Dein Hauptproblem. Wie kann eine Frau, die Dir in ihrer weiblichen Grundstruktur seit frühester Kindheit als der emotionalere, feinfühligere Teil der Menschheit geschildert wurde, so hart und kalt und sachbezogen denken? Das war Deine Kernfrage.
 
Du hast es nie heraus gefunden.
 
Du sagst, dass Du erst in Lage warst, Paul zu helfen, als Du Dich auch emotional von Heike getrennt hattest, als Dich ihr Verhalten nicht mehr jeden Tag aufs Neue erstaunt und zur Verzweiflung gebracht hat.
 
Eure Kinder erlebten euch beide, Heike und Dich, in eben diesem Dauerkonflikt. Das hat euren inzwischen fast volljährigen Sohn Paul gemäß seinen Anlagen zum – im gesellschaftlichen Sinne – Problemfall gemacht. Eure Tochter Grit hingegen wird anscheinend besser damit fertig. Zeigt sich hier wieder die „praktischere“ Frau?
 
Heike, mehr als zwanzig Jahre jünger als Du, hat sich von Dir getrennt, als sie beruflich und finanziell auf festen Füßen stand. Die Aussicht, Dich irgendwann einmal pflegen zu müssen, hat sie abgeschreckt. Du bist ausgezogen und hast Deinen eigenen Hausstand gegründet. Aber Du hast Heike emotional weiter begleitet und geholfen, wo Du auch immer konntest. Sie sieht und weiß dies, aber sie kann nicht zeigen, dass sie dies zu würdigen weiß.
 
Paul hingegen, von dem der größere Abschnitt meiner Zusammenfassung handelt, wurde mit Euren Konflikten nicht fertig, und weder Heike noch Du, keiner von euch beiden hat dies in ausreichendem Umfang bemerkt. Ihr habt nicht dagegen gewirkt, weil ihr zu sehr mit euch selber beschäftigt wart.
 
Diese Tatsache empfindest Du als Hypothek auf Deinem Lebensweg, und Du versuchst heute, als alter Mann, der Du ja nun mal bist, diese Scharte wieder auszuwetzen.
 
Paul ist ein hochsensibler Charakter, dem in der frühen Kindheit die Liebe und Zärtlichkeit seiner Mutter und die Orientierung an Dir als sein Vorbild für seine zukünftige Rolle als Mann gefehlt hat. Er war so völlig anders als andere Jungen und wurde bereits im Kindergarten und in der Grundschule gemobbt. Dies hat ihn dazu bewogen, sich noch mehr in sich selber zurück zu ziehen und sich abzugrenzen. Später, auf dem Gymnasium, hat er die schulischen Leistungen verweigert und ist nach der zehnten Klasse abgegangen.
 
Du hast ihn zeitweise für einen Asperger-Autisten gehalten.
 
Ein schlechtes Zeugnis, die Fünf in Mathematik, obwohl er rechnen kann und eine Vier in Englisch, obwohl Paul diese Fremdsprache gut bis sehr gut beherrscht, hat dazu geführt, dass er keine Lehrstelle fand. Da hast Du ihn selber in die Lehre genommen, in Deinem kleinen Betrieb, damit er nicht nur noch zu Hause in der Wohnung seiner Mutter am Computer spielte, während Heike beruflich oft auch über Nacht unterwegs war.
 
Eine Lehre ist ein Lebensabschnitt, in dem man ähnlich wie in der Schule etwas bisher Unbekanntes aufnehmen sollte. Wer bereits in der Schule blockiert hat, weil er sich mit den Lehrenden und dem zu Lernenden nicht identifizieren konnte, wird in der Lehre bei seinem eigenen Vater auch keine Fortschritte machen. Dies hast Du eingesehen, und deshalb hast Du versucht, Pauls Arbeitszeit dazu zu nutzen, festzustellen, wo seine Befindlichkeiten liegen. Etwas, was Du in den 17 Jahren der gemeinsam verbrachten Zeit hättest tun sollen.
 
Dein Therapieversuch an Heike hat sich bei Paul fortgesetzt. Diesmal erfolgreicher.
 
Du gabst ihn in professionelle Hände, nachdem Du Pauls Konfliktbereich einigermaßen eingrenzen konntest. Paul hat auch Probleme im biochemischen Bereich und bekommt ein Medikament*, was ihm hilft, sich im Leben zurecht zu finden. So langsam scheint sein Alltag in geordneteren Bahnen abzulaufen. Das gemeinsame Lehrverhältnis habt ihr aufgegeben und Paul hat eine Ausbildung begonnen, zu der er nach seinen Schulnoten überhaupt nicht in der Lage sein dürfte.
 
Mein Fazit, mein lieber, bester Freund, lautet, dass Dich die letzten 20 Jahre sehr viel Kraft gekostet haben. Langsam lässt Deine nervliche Kraft nach. Noch bist Du körperlich fit, was Du Deiner genetischen Struktur und Deiner gesunden Lebensweise zu verdanken hast, aber Du solltest kürzer treten, und vor allem solltest Du Dir nicht allzu viele Vorwürfe wegen Deines Versagens innerhalb der Familie machen.
 
Heike hat auch ihren Anteil daran zu tragen, denn kein Manko an charakterlicher Eignung wäscht einen von der Verantwortung frei. Nur Dein Frauenbild hat sich extrem verändert. Du kannst nicht alle Frauen an einer einzigen messen.



*Einen Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.06.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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