Helmut Wurm

Sokrates und seine Reflexionen über Zeit-arme G-8-Schüler

 

Sokrates blättert in Bibliotheken gerne in neuen Ausgaben von kulturellen und pädagogischen Zeitschriften. Er hat den Eindruck, dass er oder genauer seine Methode, nämlich kritisch und neutral über alles nachzudenken, in der jüngsten Zeit wieder mehr Beachtung gefunden hat. War er früher für viele Menschen mehr ein altgriechisches Original gewesen, das dem Philosophen Plato und dem Wissenschaftler Aristoteles den Boden geebnet hat, so scheint man sich in der Gegenwart wieder mehr seines ursprünglichen Anliegens zu erinnern, das kritische eigenständige Denken der Menschen anzuregen, weil die Informationsflut und die Überschüttung der Menschen, vor allem der jungen Menschen, mit den verschiedensten Ideologien ständig und beängstigend zugenommen hat und offensichtlich weiter zunehmen wird.

 

Sokrates denkt aber auch immer häufiger darüber nach, dass zur Heranbildung von kritischem Denken auch Zeit und Muße als Voraussetzungen gehören, um nämlich über das Gehörte, Gelernte und Gelesene nachzudenken und in Ruhe eine eventuelle eigene kritische Neuorientierung zu beginnen. Aber haben die heutigen Menschen, besonders die Heranwachsenden, dafür überhaupt die notwendige Zeit? Sie sind doch immer mehr verplant, verplant durch die Schule, die Medien, die Vereine, den Beruf... Wann sollen sie sich denn kritisch mit ihrer Zeit und ihren vielfältigen Informationen auseinandersetzten? Sind Muße und Freizeit den heutigen Jugendlichen nicht schon längst fremde Begriff geworden? Müsste er, Sokrates, neben seinem Anliegen nach kritischem Denken eigentlich auch schon längst die Freizeit dafür fordern? Mehr Freizeit für die Kinder, für die Schüler, für die Studenten, die Familie...


Bei einer dieser Stöbereien in Bibliotheken fällt ihm eine kleine kultur-pädagogische Zeitschrift mit breiter thematischer Ausrichtung in die Hände, in der eine Mutter die Freizeit ihres Sohnes auf einem G-8-Gymnasium mit ihrer Freizeit in diesem Alter vergleicht. Sie kommt darin zu einem nachdenkenswerten Ergebnis. Der Artikel lautet: 

Eindrücke einer Mutter und Pfadfinderin von den Veränderungen an hessischen Schulen:

39 Wochenstunden und noch Hausaufgaben? Abmeldung vom Klavierunterricht wegen zu wenig Zeit für die Schule? Keine Familienaktivitäten an den Wochenenden mehr wegen Lernen für Klausuren? 

Das sind die Themen, die auf dem Elternabend einer hessischen G8-Klasse im achten Schuljahr im Mittelpunkt standen.

Hessen hat im Rahmen der Schulzeitverkürzung und der Einführung des Landesabiturs die Arbeitsweise in der Mittelstufe stark verändert. Die Schüler durchlaufen ein straffes Programm, das dem einzelnen Lehrer kaum Freiheit lässt, Schwerpunkte zu setzen, oder auf Interessen der Kinder einzugehen. Innerhalb der einzelnen Jahrgänge werden regelmäßig Vergleichsarbeiten geschrieben, die zur Qualitätssicherung und Evaluation des Leistungsstandes innerhalb der jeweiligen Schule dienen.

Gleichzeitig hat Hessen bis zur 7. Klasse das System der „verlässlichen Schule“, das es Eltern ermöglicht, sich auf feste Betreuungszeiten durch die Schule zu verlassen. Ausfallender Unterricht wird vertreten, die Kinder werden zuverlässig in der Schule betreut, so dass Mütter ohne Ausfälle arbeiten gehen können.

All das zeigt seine Erfolge. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird einfacher, die Schulabschlüsse werden vergleichbarer, die Arbeitswelt kann zufrieden sein.

Aber wie wirkt sich all dieses auf das Leben und die Entwicklung der Kinder aus?

Wie wirkt es sich aus auf Kinder, die von der ersten Klasse an daran gewöhnt sind, dass ihre Nachmittage mit Hobbies fremdverplant werden?

Es sind durchaus interessante Angebote, die in den Schulen gemacht werden. Bis zur Oberstufe hin bietet nahezu jede Schule ein umfangreiches Programm vielfältiger Arbeitsgemeinschaften an, an denen die Kinder zusätzlich zum Unterricht kostenlos teilnehmen können.

Auch diese Angebote erleichtern das Leben der Mütter, die versuchen, neben der eigenen Berufstätigkeit ihre Kinder nicht nur zu versorgen, sondern breitgefächert zu fördern, ihnen alle Möglichkeiten zu geben, ihr Potential zu entfalten.

Mütter tun dies einerseits aus Liebe zu ihren Kindern, aus dem Wunsch heraus, ihnen Möglichkeiten zu eröffnen, die Talente der Kinder zu fördern, andererseits aber auch aus Angst, Angst, das eigene Kind könne nicht mithalten, wenn etwas versäumt wird, Angst, selbst ihrem eigenen Anspruch als gute Mutter nicht zu genügen. 

Welche Kinder erzieht dieses System? Kinder, die daran gewöhnt sind, die Planungen anderer zu erfüllen? Kinder, die Aktivitäten absolvieren, montags Schach, dienstags Konfirmandenunterricht, mittwochs Klavierstunde, donnerstags Klarinettenstunde, freitags Schulorchester.

So sieht der Wochenablauf eines Vierzehnjährigen aus der eingangs erwähnten Klasse aus. Neben Schulstunden und Hausaufgaben.

Er macht all das gerne, hat sich selbst seine Aktivitäten ausgewählt. Er ist gut organisiert, hat seinen Terminkalender im Griff. Sein Freund geht Rudern, hat sich also nur für eine Aktivität entschieden, das aber im Lei­stungskader, also fünfmal pro Woche. Auch er hat seine Termine und Wettkämpfe im Griff.

Diese Schüler sind Leistungsträger.

Die Eltern, die auf diesem Elternabend diskutierten, haben für ihre Kinder bewusst dieses Gymnasium mit dem guten Ruf und dem hohen Anspruch gewählt. Die Bedenken, ob man das Kind vom Klavierunterricht abmelden müsse, galten der Sorge, ob das Kind dem Lernstoff zeitlich gewachsen sei. 

Das Unbehagen der Eltern während dieser Diskussion beim Elternabend hatte aber auch eine andere Ursache: die Erinnerung an die eigene Kindheit und Jugend, die doch sehr anders war, freier und vor allem selbstbestimmter. Die Diskussion wurde auch nicht zum ersten Mal geführt, sie fand in den vergangen Jahren immer wieder auf den Elternabenden statt. Oft schwingt eine Mischung aus Bewunderung für all das, was die Kinder leisten, mit, aber auch Bedauern über das, was sie nie gehabt haben und nicht kennen. Viele Eltern sagen, sie erzählen gar nicht von hitzefrei damals und dass die ganze Klasse sich im Schwimmbad traf. Sie erzählen gar nicht von Sommerferien, die weder mit Sprachaufenthalten noch mit Praktika karrierevorbereitend gefüllt waren, sondern am See und mit Freunden verlebt wurden. 

Und das ist es, was das System der Optimierung für die Arbeitswelt diese Generation kostet: die Freiräume des eigenbestimmten Lebens als Kinder und Jugendliche. Das eigene Träumen und sich selbst finden, das zur Persönlichkeitsentwicklung so notwendig und unersetzlich ist, das geht verloren unter dem Wahrnehmen der ach so vielen Angebote, dem dauernden Vergleichen und Evaluieren.

Wir Pfadfinder und Wandervögel wissen um den Wert des selbstbestimmten Lebens in der Natur und unter Gleichgesinnten. Wir finden ihn nicht in einer Schule, die so sehr das Leben bestimmt, dass Freiräume, um die eigene Kreativität und die eigene Lust am Leben zu entwickeln, kaum noch Platz im verplanten Schüleralltag des 21. Jahrhunderts finden. Und so sind die Kinder der G8- und Pisazeit wieder da angekommen, wo Karl Fischer mit seinen ersten Wandervögeln vom Steglitzer Gymnasium einmal losging.                                      

(Aus: Idee und Bewegung, Heft 98, Jahrgang 2012, S. 80; mit freundl. Genehmigung des Herausgebers) 


Sokrates legt den Artikel wieder fort und beginnt selber nachzudenken, sehr ernsthaft nachzudenken. Da sollen nun besonders begabte Jugendliche schneller zum Abitur und Studium gebracht werden und man macht das auf Kosten ihrer kreativen freien Zeit. Man verkürzt gerade Jugendlichen, die besonders geeignet wären zum kritischen Denken, die Zeit und die Muße für ein solches kritisches Nachdenken.

 

Ich hatte damals in Athen, so murmelt Sokrates vor sich hin, gerade die begabten
Söhne der Wohlhabenden um mich gesammelt, weil diese die nötige Zeit hatten für meine Gespräche. Diese begabten G-8-Schüler dürften ihnen in der Gegenwart entsprechen. Sie werden später als Erwachsene an den Schaltstellen der Gesellschaft wichtige Funktionen ausüben – so wie es damals Alkibiades, Xenophon und Platon getan haben. Gerade die heutigen begabten Schüler müssten Zeit und Muße für kritische Reflexionen haben... Stattdessen werden sie mit den Inhalten und Ideen „gefüllt“, die die modernen Lehrpläne ihnen vorplanen und aufbürden. Eigentlich ist das der Beginn einer Geistesprägung gerade der Elite durch diejenigen, die solche Lehrpläne machen. Es ist ja bekannt, dass eine intensive Denkprägung in der Jugend das Denken auch im Erwachsenenalter beeinflusst - wenn keine Muße für ein anderes kritisches Denken vorhanden war. Ist das der kleine, unbemerkte Anfang vom Ende einer wirklich geistig freien modernen Gesellschaft?

 

Welche Konsequenzen ziehe ich aus diesem Konflikt? Die Zeit des Gymnasiums zu verkürzen ist richtig. Man muss dann aber auch den Lehrstoff kürzen und gleichmäßig verteilen. Denn Abiturienten müssen nicht in allen Fächern die Studienreife erklangt haben. Sie sollen nur eine erweiterte, gute Allgemeinbildung vermittelt bekommen – und zwar in allen Stoffbereichen, nicht nur in den gewählten Leistungskursen. Das Leistungskurssystem müsste in einem 8-jährigen Gymnasium also zu Gunsten einer gleichmäßigen Bildung in allen Stoffbereichen völlig abgeschafft werden.

  

Wenn ein Studium nach dem Abitur gewünscht wird, dann genügt ein 3-monatiger Brückenkurs an einer Universität, um die Schüler an die Studienreife in diesem Fach heranzuführen. Oder anders ausgedrückt: Es muss nicht jeder Abiturient in Chemie, Englisch, Deutsch, Mathematik, Biologie... bis zur Studienreife „getrimmt “ worden sein. Denn wenn sich ein Abiturient z.B. für ein Studium der Germanistik entscheidet, hat er eigentlich umsonst eine Menge Naturwissenschaften gelernt, die er später als Deutschlehrer nicht mehr braucht.

 

Weniger wäre mehr, d.h. ein Jahr weniger Gymnasium, gekürzte Stoffpläne und dafür gleichmäßige Anforderungen in allen Stoffgebieten, aber mehr Zeit und Muße für das kritisches Denken und die selbstverantwortliche eigene Ich-Formung – das wäre die richtige gymnasiale Bildung für mich. Als Sokrates habe ich nie die überfordernde, Freizeit-fressende Pauk- und Stress-Schule gewünscht. Kritische Menschenbildung, nicht Wissens-Programmierung, das sind meine Ziele. Wenn ich wieder einmal einen Kultusminister oder eine Kultusministerin treffe, werde ich mit ihm/ihr darüber mal intensiver nachdenken.

 

(Niedergeschrieben vom discipulus Sokratis, mit dem Sokrates diesen Artikel besprach)   

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.06.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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