Andre Klein

Traurig aber Wahr

I. Die Vorlesung
II. Der Mutterleib
III. Ein Traum
IV. Es ist erwacht
V. Die Krankheit des Wissens
VI. Die Unterwerfung
VII. Das verlorene Gesicht
VIII. Der Bahnhof


I.
Professor Gryfuß betrat den Saal und humpelte auf sein Pult zu, während hunderte von Augenpaaren seinem ungleichmäßigen Weg folgten und ihre zugehörigen Münder langsam verstummten.
"Meine Schüler, meine Nachfolger:
Ich möchte Ihnen heute eine kleine Einführung in meine neue Theorie geben, die übrigens in wenigen Tagen auf meinem Verlag erscheinen wird.
Ich nenne sie -"
Professor Gryfuß rückte seine Brille zurecht und schrieb mit bröckelnder Kreide auf die grüne Wandtafel: "Traurig aber Wahr.
Der Geräuschpegel im Hörsaal stieg für kurze Zeit zu einem aufgeregten Murmeln an.
"Ohne mich selbst loben zu wollen, muss ich zugeben, dass diese Theorie das Potential bestizt, einen Großteil bisher ungelöster Probleme begreifen und erklären zu können."
"Ich bin auf diesen gänzlich neuen Ansatz gestoßen, als ich letztes Jahr bei meiner Mutter...."
Der alte Professor hustete und gestikulierte mit der Kreide in der Luft herum.
"Es geht mir heute um die unerforschten Seiten unserer Psyche;
Hoffnung und Glaube."
Das Murmeln im Saal wurde lauter, verstummte jedoch, als sich der Professor erneut räusperte.
"In der Tat war es schwierig, eindeutige wissenschaftliche Daten aus diesen schwammigen Gebieten zu extrahieren. Dennoch lässt sich vieles beweisen."
"Wer von ihnen glaubt zum Beispiel an Gott?"
Die Studenten in und zwischen den Bänken schauten sich vorsichtig um.
Hunderte von Augenpaaren suchten nach erhobenen Zeigefingern.
In der ersten Reihe tauchte eine Hand auf, in der Mitte der Tribüne zwei weitere und auch auf der obersten Bank schwebte ein einsamer Arm in der stickigen Luft des Hörsaals.
Doch kurz bevor sich die schadenfrohe Mehrheit auf die aufzeigende Minderheit stürzen konnte, sprach Professor Gryfuß:
"Ich muss sie enttäuschen. Gott ist nichts weiter als ein Wunschtraum.
Wie Sie sehen, ist sich ein Großteil der Studenten dieses Faktums wohl bewusst."
Ein blondes Mädchen, dem der Arm in der letzten Reihe gehörte, sprang auf und schrie etwas, das jedoch nicht bis zu den Ohren des Professors vordrang.
Ihre unmittelbaren Sitznachbarn hatten es jedoch sehr gut verstanden.
Sie kicherten und verbreiteten die Nachricht flüsternd weiter, bis der gesamte Saal mit unterdrücktem Gelächter bemitleidend in die Richtung des Mädchens spähte.
Der Professor schien der einzige zu sein, der sie nicht verstanden hatte.
Er räusperte sich und sprach:
"Alles nur Wunschträume. Wir können uns nicht mit der Realität abfinden, deswegen erfinden wir Götter und Geister am laufenden Band.
Jüngste Experimente zeigen zum Beispiel, dass die Tätigkeit des Betens bestimmte Hormone ausschüttet, die in unserem Hirn eine illusionäre Geborgenheit hervorruft.
Es mag traurig für wenige sein, doch die meisten erkennen: Es ist wahr.
Wer sich nicht damit abfinden kann, dass Übersinnliches nur eine Illusion, zugegebenermaßen eine recht eindrucksvolle, aber dennoch eine Einbildung ist, der rennt gegen Axiome an.
Jahrtausendelang sind wir diesen Schatten gefolgt, haben Hab und Gut dem Nichts geopfert, hoffend gehungert für ein Wunder.
Der Volksmund sagt, der Mensch braucht Hoffnung.
Doch was ist Hoffnung?
Experimente zeigen, dass der Akt des Hoffens bestimmte Stoffe in uns freisetzt, die uns die Welt besser erscheinen lassen, als sie wirklich ist.
Wir brauchen diese Illusion nicht mehr.
Wir haben die Psychologie und die moderne Gehirnforschung, die klar und steril unsere Köpfe durchleuchten kann und..."
Plötzlich kam ein elektronisches Piepen aus der Richtung des Professors.
Er zog einen Pager aus seiner Hosentasche, schien kurz nachzudenken und sagte dann:
"Entschuldigung. Ich muss dringend weg. Wir machen morgen weiter."
Während der Saal vor Beifall hallte und sich vereinzelte Lobrufe langsam zu Chören formten, packte Carl Gryfuß seine Tasche und humpelte zur Hintertür hinaus.



II.

Der Himmel war mit dunklen Wolken überzeugen und ein schwerer Regen fiel in trägen Tropfen auf Sanevas Kopf und rannte über ihr vernarbtes Gesicht.
Sie schüttelte ihre langen, schwarzen Haare und hielt sich die Hände über den Kopf.
In der Ferne hörte sie ein dumpfes Wummern.
Ihr Magen knurrte.
Sie hatte schon seit Tagen nichts Ordentliches mehr gegessen.
Hungrig verschränkte sie die Hände über ihrem runden Bauch und spürte ein zartes Beben, das sie die Leere sofort vergessen ließ.
Es war tiefste Nacht, doch die Lichter der Stadt erleuchteten die Straßen wie am hellichten Tage.
Die orangenen Lampen der Laternen färbten den Regen in ihrem diffusen Schein, der sich in den Pfützen des Asphalts brach und die Dunkelheit der Nacht in ein geheimisvolles, orangenes Leuchten tauchte.
Saneva schob ein kleines Wägelchen vor sich her, das sie mit alten Plastiktüten abgedeckt hatte, um die gesammelten Dosen vor dem Regen zu schützen.
Denn der Automat im Supermarkt, der das Pfand ausschließlich in vielen kleinen Münzen ausspuckte, wollte nur völlig trockene Dosen annehmen.
Sobald auch nur ein winziger Rest Flüssigkeit in der zerknitterten Blechhülle zurückkblieb, erlosch das grüne Lichtlein und wich einem Roten.
Saneva hatte sogar schon probiert, Pfand für rostende und zerfallende Dosen zu verlangen.
Doch der Automat hatte ihr immer nur hämisch sein rotes Lämpchen gezeigt.
Wie sie sich so durch den Regen vorwärts kämpfte, bemerkte sie, dass die Plastiktüten bei diesem Unwetter nicht helfen würden, da das Wasser aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien.
Ab und zu fuhren glänzende Autos an ihr vorbei, so schnell, als flüchteten sogar die metallenen Wägen samt ihren halblebendigen Insassen vor dem sintflutartigen Sturm, der immer mehr Wasser in die betonierten Straßen schüttete.
An einigen Stellen waren die Pfützen sogar auf dem Gehweg so tief, dass Saneva ihre Schuhe ausziehen und das Wägelchen hinübertragen musste.
Es waren nicht viele Menschen unterwegs.
Einsam schob sie ihren Besitz durch freischwebende Wasserfälle und kniff jedesmal die Lider zusammen, wenn ein Flutlicht eines entgegenkommenden Autos ihre müden Augen blendete.
Der Regen schien nicht aufhören zu wollen, sondern ergoss sich immer weiter, immer heftiger aus dem pechschwarzen, wolkenverhangenen Himmel über ihr und peitschte wie tausend winzige Nadeln in ihr vernarbtes Gesicht.
Da spürte sie wieder, wie es in ihrem Bauch bebte und strampelte.
Eine Träne entwich ihren dunklen Augen, vermischte sich mit dem strömenden Regen und wurde vom Wind davongetragen.
Sie hatte nicht einmal die Verantwortung für ihr eigenes Schicksal übernehmen können und nun sollte sie auch noch die Last eines weiteren Lebens auf ihren Schultern schleppen?
Sollte auch ihr Kind einmal mit gierigen Blicken Mülltonnen nach Dosen durchwühlen und den entwürdigenden Blicken der Anderen ausgesetzt werden?
Als spürte der heranwachsende Mensch in ihrem Bauch, dass ihm in diesem Moment Gedanken und Gefühle der Mutter zuteil wurden, strampelte und klopfte es stärker in ihr.
Es schien gar nicht mehr aufhören zu wollen, immer kräftiger pochte und hämmerte es.
Plötzlich ließ Saneva die Stange des Wagens los und verzog ihr Gesicht im Schein einer Straßenlaterne zu einer gequälten, schmerzenden Grimasse.
Der Regen schien nun erst richtig aufzukommen, ein aufbrausender Sturm fegte alte Zeitungspapiere über den Boden, Blitze schossen in allen Richtungen aus den Wolken, Donner bebte und klang in den Stahlträgern der Häuser, hallte in den Hohlräumen der leeren Aluminiumdosen wieder, während Sanevas Körper in eine orangene Pfütze fiel, dort regungslos liegenblieb und ab und zu von einem vorbeiflitzenden Scheinwerfer bestrahlt wurde.


III.

Carl dehnte sich und vor ihm schwebte ein warmes, dunkelblaues Licht.
Karawanen von Gabeln, Löffeln und Messern spazierten am Horizont entlang, dessen Ränder sich unnahbar konkav nach außen bogen und in quirligen Spiralen immer wieder in ihren Mittelpunkt trieben.
Der unsichtbare Wind malte eine Melodie, die irgendwo ein Glöckchen klingen ließ.
Die Sonne und der Mond schwebten an entgegengesetzten Punkten über Carl auf einer schwarzen Scheibe und spiegelten sich in dem unergründlich tiefen Gewässer wieder, durch das seine viel zu kurzen Beine wateten.
Ein Ritter in voller Rüstung preschte mit gezogenem Schwert auf einem dreibeinigen Pferd an ihm vorbei und verzog sich scheppernd in undenkbare Fernen, während der glutrote Himmel unzählbare, dunkle Schatten herabspuckte, die zischend ins Meer fielen und dabei wunderbar bunte Blasen aus den Untiefen emporsteigen ließen.
Aus keiner erkennbaren Richtung kam eine sanft strömende Musik, zu der die silbernen Bälle in den unergründlich hohen Himmel tanzten, um wieder als gebogene Schatten zurückzukehren.
Er versuchte eine der schillernden Kugeln zwischen seinen keimfreien Handschuhen zu fangen.
Als er sie zu fassen bekam, zerplatzte sie jedoch sofort und ihr Inhalt rannte in unerklärlich leuchtenden Farben zwischen seinen knöchernen Fingern hindurch.
Direkt neben ihm, auf dem Buckel einer moosbewachsenen Riesenschildkröte, hatte sich eine besonders große Blase festgesetzt, so groß, dass ein ausgewachsener Wolkenkratzer darin Platz finden könnte.
Vorsichtig näherte er sich mit seinen Augen.
Was er sah, war wunderbar.
Unzählige kleine Wesen sprangen und hüpften lachend durcheinander, während sie winzige Bläschen spuckten, die ein wenig durch die Luft tanzten, dann zerplatzten und dabei unvorstellbar schöne Musik in die entlegensten Winkel des Alls verbreiteten.
Winzige Wesen, die ihre Form ständig änderten, als erfänden sie sich selbst stets neu nach den Klängen der sphärischen Strömungen, als tauschten sie die alte Hülle ein und nähmen eine neue an, immer im mühelosen Wandel, alles direkt vor seinem Auge,
- zum Greifen nah!
Doch die durchsichtige Wand der Blase trennte ihn von seiner Entdeckung.
Er spürte ein unglaubliches Verlangen, mit seiner Hand hineinzugreifen oder gleich ganz hineinzuspringen.
Aber er konnte nicht.
Etwas hielt ihn fest und er konnte sich keinen Meter mehr bewegen.
Carl wurde wütend und schnaubte wie ein erregter Stier, doch sein Körper war wie aus Stein.
Der Panzer der Riesenschildkröte zitterte und ein faltiger Kopf kam zum Vorschein.
Sie drehte sich langsam, so langsam als genoß sie alle Zeit der Welt.
Plötzlich löste sich die riesige Blase von ihrem verkrusteten Rücken und schwebte langsam in die Höhe.
Carl wollte ihr folgen, er wollte nur mit ihr sein, er wollte wissen, doch er war wie eingefroren.
Je weiter die wundersame Kugel sich entfernte, desto wütender wurde Carl.
Innerlich glühte er vor Feuer.
Er kämpfte und tobte und lies nicht locker.
Die himmlische Musik verstummte langsam und der scheppernde Ritter erschien diesmal auf einem kopflosen Schimmel, schwenkte sein Schwert durch die Luft und...

IV.

Yeba gähnte und rieb sich die Augen.
Der Schlafsaal war leer.
Ein eisiger Wind wehte durch das Fenster und verteilte sich geräuschlos in dem quaderförmigen Zimmer.
Yeba richtete sich auf, gähnte abermals und streckte seine Arme.
Die Flügeltür des Schlafsaals war geöffnet, doch er vernahm keine Geräusche von draußen.
Sogar das morgentliche GuteLaune-Radio in der Küche nebenan schwieg an diesem Tag.
Aus weiter Entfernung drang das Gezwitscher einiger Vögel in den leeren Raum, hüpfte auf Yebas Trommelfell und kitzelte ihn.
Er lächelte, kroch aus dem Bett, stellte sich barfüßig auf die kalten Fliesen und dehnte seinen Rücken.
Er spürte, dass etwas anders war, doch es schien ihn nicht weiter zu stören.
Der Gedanke lag noch verschlafen auf seiner Zunge und wollte nicht in greifbare Nähe rücken.
Also zog er seine Hausschuhe an und schlurfte über die weißen Fliesen in Richtung Küche.
Der kleine Holztisch, der neben dem großen Fenster ruhte, war für drei Bäuche gedeckt.
Yeba setzte sich auf den Stuhl der Oberschwester und steckte zwei Brote in den Toaster.
Während die Drähte in seinem Innern rot zu glühen begannen, betrachtete er das hölzerne Kreuz mit dem halbnackten Mann, das ein paar Zentimeter über dem Türrahmen an einem Nagel hing.
Er lächelte, schaute aus dem Fenster und badete sein Gesicht in den aufsteigenden Sonnenstrahlen.
Als der Toaster klackend sein Produkt gebar, strömte ein Hauch von würzigem Tee durch Yebas Nasenflügel und schlug ihm vor, einen Blick auf die silberne Teekanne in der Mitte des Tischs zu werfen.
Vorsichtig hob er die eigenartige Kanne an, die einer Ente zum verwechseln ähnlich sah.
Er goss ein wenig heißen Tee in eine Tasse als sich plötzlich die Tür öffnete und ein bärtiger Mann mit einem Besen in die Küche trat.
"Was machst du denn hier? Haben sie dich vergessen?"
Yeba trank einen Schluck Tee, seufzte erleichtert und antwortete:
"Ja!"
Der alte Hausmeister kratzte sich am Kinn und schaute Yeba prüfend in die Augen.
"Du weißt doch gar nicht, wo sie sind."
Yeba lächelte und sprach:"Macht es einen Unterschied?"
Der Hausmeister ignorierte diesen Einwand und sagte besorgt:
"Es ist traurig, dass du es nicht weißt. Also werde ich es dir sagen.
Professor Gryfuß ist zu Besuch in Urloufheim.
Yeba zuckte mit den Achseln und hob seine Tasse erneut an die Lippen.
Der alte Mann schien verärgert und drohte Yeba mit einem Zeigefinger:
"Haben dir die Schwestern keinen Respekt beigebracht?"
Yeba wusste, wie man in diesen Situationen mit Erwachsenen umzugehen hatte.
Er senkte den Kopf, schwieg und beantwortete weitere Fragen nur so, wie man es von ihm erwartete.
Artig nickte er, während der Mund des Hausmeisters belehrend auf und zu klappte.
Eine abgegriffene Moral nach der anderen quoll aus den Staubschichten seiner Erinnerung.
Als er sich jedoch plötzlich bewusst wurde, wie sehr er sich in der Rolle des verantwortungsvollen Erwachsenen wohl zu fühlen begann, fiel ihm plötzlich etwas ein, dass ihn verstummen ließ.
"Armer Mann", dachte Yeba und wartete.
Der Hausmeister klammerte sich an seinen Besen.
Seine Hände zitterten vor Aufregung.
"Mach dir keine Sorgen. Auch du bist unschuldig." sagte Yeba leise.
Seine Stimme zitterte:
"Was weißt du schon? Du bist nur ein Kind. Ein kleines du.."
Er schaute Yeba erneut prüfend an, schien jedoch diesmal keine Antwort zu finden und wandte sich erschöpft zur Tür.
"Entschuldigung."
Er schloss die Tür hinter sich und Yeba hörte, wie sich die Schwingungen seiner Schritte langsam durch den langen Gang nach draussen bewegten.


V.


Carl Gryfuß saß grübelnd vor dem Steuer und verfolgte die Scheibenwischer mit seinen winzigen Augen, die tief hinter den dicken Brillengläser hockten.
Er schaltete das Radio ein:
"..letzten 500 Jahren das größte Unwetter."Seit Noah", behaupten zynische Katholiken. Star- Astrologe Rolfgang Seyer erklärt uns, dass der Wind des Schicksals sich dreh..."
Carl stieß einen kurzen, mürrischen Laut aus.
Er seufzte und schob eine Kassette in das Autoradio:
"...dank James Birchoise auf die phänomenale Entdeckung gestoßen, dass in der linken, oberen Flügelhälfte einer Abart der Zeze-Fliege in Oogoda, ein P-Quark den Gesetzen trotzt, die Dr. Pierre Amdenbrough erst vor kurzem scheinbar eindeutig bewiesen hatte.
Peter Camdenridge brachte 1924 den Stein ins Rollen, als er eine Abart der Zeze-Fliege entdeckte, die irrationale Verhaltensmuster aufweist:
Immer wenn der Himmel in einem speziellem Karminrot leuchtet (die exakte Farbkonfiguration entehmen sie bitte unserer Druckausgabe), legen sich die Fliegen auf hohe Klippen und bleiben dort reglos liegen, als säßen sie andächtig vor dem Film ihres Lebens.
Natürlich tun sie dies nicht.
Sogar wenn Gefahr droht, bewegen sie sich nicht vom Fleck und zucken nicht einmal, wenn ein Schuh ihre knochenlose Hülle zerdrückt.
Dank Birchoise wissen wir nun, dass es an einer groben Abweichung eines P-Quarks liegt, die Camdenbridge zu seiner Zeit noch nicht wahrnehmen konnte.
Amdenbrough ....."
Carl beobachte die dicken Regentropfen, die auf seine Windschutzscheibe prasselten und verarbeitete dabei die Informationen, die ihm die neue Kassette der wissenschaftlichen Fachzeitschrift WuW in seine mentale Matrix kippte.
Er freute sich, dass er in seinem Wagen vor dem Regen sicher war.
Wie ungerne würde er nun aussteigen und sich dem erbarmungslosen Regen als Zielscheibe zur Verfügung stellen, dachte er.
Er war sicher in seinem Auto, aus Menschenhirnen erfunden, von Roboterarmen gebaut.
Plötzlich musste er husten.
Als das gräßlich-scheuernde Scheppern seine Ohren erreichte brodelte es nur noch stärker.
Déja-Vu!
Er schaute zuckend über seine Schultern und rückte den Rückspiegel zurecht.
Immer wieder hustete es, als wollten seine Eingeweide gleich mit hinausspringen.
Dazu ging ihm das Bild dieser Kugel nicht aus dem Kopf, oder vielmehr das Gefühl einer absoluten Vertrautheit, die sich heftig-hustend gegen sich selbst stämmte und kämpfte.
Mit jedem Husten schoss ein schmerzhafter Riss durch all seine Sinne.
Unter größter Anstrengung manövrierte er seinen Wagen auf den orange beleuchteten Seitenstreifen der zweispurigen Straße und griff gerade noch rechtzeitig nach dem Schalter der Warnblinkanlage, bevor er plötzlich bewusstlos wurde.

Die Kugel wurde immer größer, dehnte sich spielerisch und schillerte wieder ihre frischen, unbeschreiblichen Farben.
In ihr tanzte und leuchtete es, zähe Tropfen dumpfer Musik plätscherten auf den Boden und reihten sich wie Perlen zu den unerwartet-schönsten Melodien aneinander und übereinander, untereinander und miteinander.
Immer weiter dehnte sich die leuchtende Kugel, sprühte Tanz und Lachen, zog sich gleichmäßig zusammen und breitete sich langsam wieder aus.
Als die weiche Hülle seinen Körper berührte, spürte er einen stechenden Schmerz und hustete markerschütternd.
Unendliche Karawanen von orangenen Lichter tanzten hämisch um ihn herum und sein Gewissen versteckte sich unter Gedankenbergen.

Als er plötzlich wieder zu sich kam, musste er abermals husten und ein angeschwollener Hals machte leise-schmerzend auf sich aufmerksam.

VI.

Yeba war verschwunden.
Unendliche Leere, so nah die Strömung reichte, so leer, dass nicht einmal Leere vorhanden war.
Berge blähten sich auf, fielen zusammen, lautlos ohne Worte.
Farben spielten Wunder glühend durcheinander.
Achtsam unterwerfend, Mitte nah, gedacht.. - und fern.
Wolkengase dehnten krümmend, eine Weile nach der anderen, spiegelwerfend, vor dem einen Hintergrund.
Plötzlich hörte Yeba eine Stimme, mehrere...
"Haha, macht der Kleine n Mittagsschlaf?"
"Schau`s dir an, Schau`s dir an!"
Yeba öffnete die Augen.
"Haha, du hast alles verpennt!"
"Genau, Genau, verpennt, haha!"
Es waren Dorsan und Mecha, die in ihren blauen Freizeitsanzügen vor ihm standen.
Yeba lächelte:
"Vielleicht habt ihr alles verpennt, während ihr draussen wart?" schlug Yeba vor.
Dorsan zuckte mit den Augenbrauen und schaute nach Mecha, der genüßlich in seiner Nase popelte und auf den Fußboden schielte.
Da ihm nichts besseres einfiel, äffte er Yeba nach:
"Vielleicht habt ihr alles verpennt, während ihr drausen wart"
Yeba lächelte und sprach:
"Wo wart ihr denn?"
Mecha blickte vom Boden auf und sagte leise:
"Bei Grüfuss, oder?"
"Halt den Mund, Kleiner!"
Mecha erschrak und zählte die Fugen zwischen den vielen, weißen Kacheln unter seinen Füßen.
"Wir waren draussen. Und du nicht. So ist es nämlich." sagte Dorsan spottend und aalte sich in der neugewonnen Sicherheit.
"Du gehst nach draussen, ich bleibe drinnen."
Trotzdem bleiben wir beide, weißt du?
Es macht keinen Unterschied wieso und wenn und wie."
Mit diesen mühelosen Worten schloß Yeba seine Augen und Dorsan hatte verloren.
Er wollte seinen Widersacher, der so scheinheilig friedlich vor ihm auf den Boden saß, gerne in den Magen hauen, aber etwas hinderte ihn daran.
Mecha zog ihm am Ärmel und sagte leise:
"Komm, Dorsen. Wir gehn. Die Schwester kommt."
"Du alter Schisser!" spottete Dorsan und setzte plötzlich sein unschuldigstes Lächeln auf, als die Oberschwester in der Tür erschien.
"Dorsan! Mecha!" flötete ihre ruhige, strenge Stimme:
"Könnt ihr bitte rausgehen! Ich muss mich mit dem lieben Yeba einmal unter vier Augen unterhalten. Das versteht ihr doch sicher, oder!"
Ein drohend geschnitztes Lächeln huschte über ihr bleiches Gesicht und die eingeschüchterten Waisen eilten artig davon.
Oberschwester Ursula schaute auf den kleinen Jungen herab, der vor ihr saß, als lebte er nach einer anderen Uhr, in einer anderen Welt.
Mahnend-ruhig sagte sie:
"Yeeba!"
Er öffnete langsam die Augen und lächelte.
"Es gibt einen Grund, warum wir dich heute morgen nicht geweckt haben." fuhr sie fort.
"Du bist langsam alt genug, dass ich dir erzählen kann, warum du hier bist."
Yeba grinste.
"Es tut mir Leid, mein Junge. Aber deine Mutter ist bei deiner Geburt gestorben."
Yeba lachte und sprach:
"Sie ist weder lebendig, noch ist sie tot.
Sie war davor und bleibt.
Ist, warum wir hier sind;
Ist, weil wir hier sind,
wird immer sein."
Schwester Ursula dachte:
"Klassischer Fall von Verdrängung. -Wie bei Mecha.."
Sie räusperte sich und sagte mit ruhiger Stimme:
"Aber Yeba. Ich spreche von deiner Mama. Ich bin nicht deine wirkliche Mutter, weißt du?"
Yeba kicherte:
"Ich weiß. Ich weiß. Niemand ist meine Mutter."
Ursula notierte etwas auf ihrem kleinen, weißen Block, den sie immer in ihrer rechten Kitteltasche trug, setzte ihr geschnitzes Lächeln auf und nickte nichtssagend.


VII.

Carl Gryfuß zog den Schlüssel, löste sich hektisch aus seinem Gurt und hustete so heftig, dass es ihn ruckartig nach vorne riss, als wollten all seine Atome urplötzlich aus unerklärlichen Gründen in dieselbe Richtung.
Er kletterte aus seinem Wagen und schlug die Tür zu.
Der Schmerz saß tief in seinen Knochen.
Carl leidete unter einer unterschwelligen Anstrengung, die jede Bewegung seines Körpers mit sich brachte.
Als er endlich den Schlüssel aus seiner Hosentasche gefischt hatte, ihn zitternd an sein Ziel gebracht und ihn gerade umdrehen wollte, schoss ihm wieder die silberne Blase durch den Kopf, oder vielmehr die Ahnung einer anderen , einer unnahbaren, einer absurden, einer wunderbar schönen Welt, tief im Herzen der phantastischen Kugel, die zwar nicht mehr sein durfte als das Produkt seiner eigenen Vorstellungskraft, dafür aber viel zu wunderbar war.
Carl stolperte in seine kleine Wohnung und fiel in den schwarzen Ledersessel, seinen Büchersessel, seinen Denksessel.
Er atmete tief und beruhigte sich endlich ein wenig.
Plötzlich überkam ihn ein Gefühl der Stille.
Irgendetwas stimmte nicht mit seinen Gedanken.
Es war, als ob der Husten tiefe Risse in seine mentale Routine gerissen hatte.
Ab und zu flogen ein paar vereinzelte Gedanken vorrüber, doch dazwischen klafften unbehaglich schwarze Löcher des Nichts, ungestützt und freischwebend in sich selbst.
Sobal er sich mit der unendlich-tiefen Denkpause abgefunden hatte und darüber nachdachte, versuchte sich klarzumachen, was geschah, war die Leere sofort wieder verschwunden und die Zähne seiner Gedankenräder griffen erneut ins Nichts.
Immer wieder riss es ihn aus seinem sprachlosen Bewusstsein, katapultierte ihn zurück in die bewusstlose Begrifflichkeit, drehte sich im Kreis und fiel wieder heraus.
Es war als spielte ihm seine eigene Seele einen üblen Streich, immerfort schöpfend aus dem Brunnen einer unbekannten Willigkeit.
Carl wusste es besser.
Doch sobald er daran dachte, dass auch er nur seinen körpereigenen Chemikalien zum Opfer fiel, war die Leere nicht mehr vorstellbar, weggekürzt, ignoriert, bis er einen Augenblick später wieder schreiend in ihre Mitte stürzte und kein Beweis mehr etwas ändern konnte.


VIII.
Yeba saß im Schneidersitz auf der großen Stahlplattform, von der aus alle Gleise des Bahnhofs mühelos durch seine Pupillen fluten konnten.
Unzählige Menschen aus den verschiedensten Teilen der Welt rannten strebsam an Yeba vorbei.
Einige schleppten schwermütig ihre klobigen Koffer über die Plattformen, andere rannten scheinbar ziellos umher.
Doch jeder hatte sein eigenes kleines Ziel, ob er es wusste oder nicht.
Yeba lächelte, als ein Mann in einem grauen Anzug beinahe über ihn stolperte.
"Ich hab`s eilig!", zischte er und war wieder im fließenden Menschenstrom verschwunden.
"Achtung, Achtung. Ein Interdimenso Estress fährt ein auf Gleis 2. Vorsicht auf dem Bahnsteig!"
Die graue Zugmaschine zog ächzend die endlose Kette ihrer gedankenbeladenen Güterwaggons hinter sich her und kam quietschend zum Halt.
Einige Menschentrauben lösten sich aus der Masse, drängten an den Zug und rissen gierig alle greifbaren Güter von den Wägen.
Einzelne Figuren versuchten, die verriegelten Türen des Zuges mit Gewalt aufzureissen, andere klammerten sich an die stählernen Waggons und versuchten hinaufzuklettern.
Plötzlich ertönte eine laute Sirene und die unkontrollierbare Menschenmasse wich ein paar Meter auf den sicheren Bahnsteig zurück.
Der Zug setzte sich langsam in Bewegung und ein kleiner Junge, der es bis auf das Dach eines offenen Waggons geschafft hatte, verlor den Halt unter den Füssen und stürzte kopfüber in die Gedankengüter.
Ein paar Wägen weiter vorne, kämpften zwei robuste Männer um ein unerkennbares sperriges Ding, das wohl einer der beiden zwischen der Ladung gefunden, der andere es aber gleichzeitig als sein Eigen erklärt hatte.
Als der Zug in einem beschleunigten Tempo langsam den Bahnof verließ, unternahm eine junge Frau einen letzten Versuch, sprang von der Plattform und versuchte im Flug einen Griff zu erklimmen.
Doch der Zug war bereits zu schnell.
Eine Welle der atemlosen Verwunderung schoss durch die Menschenmasse, als das Mädchen mit blutendem Kopf auf den stählernen Bahnsteig zurückfiel.
Yeba lächelte und dachte:
"Das war nicht notwendig."
Er saß immer noch auf der Stahlplattform und um ihn rum rannten männliche Beine, weibliche Beine, ab und zu ein tierisches Bein.
Yeba lächelte.
Der Punkt war erreicht.
Durch Yeba floss der Wille des Unergründlichen.
Nichts hielt es mehr auf und nichts hielt ihn mehr auf.
Aus seinem Bauchnabel stieg eine glitzernde Säule, die sich wie ein Tornado drehte und immer größer wurde.
Die Säule floss und stieg mühelos aus seinem Nabel.
Alle Menschen im Bahnhof waren still.
Yeba saß nun im Auge des Orkans, um ihn herum eine halbtransparente Hülle, gewoben aus den feinsten Melodien.
Einige Menschen, die sehr nahe standen, wurden plötzlich eingesaugt und tanzten mit Yeba in der Kugel.
Nun traten auch die Ängstlicheren näher heran und ließen sich in das wunderbare Loch fallen.
Jeder einzelne fügte der Melodie einen weiteren unbekannten Ton dazu und die Kugel wuchs und wuchs, in ihrem Inneren tobte der Tanz.
Je mehr Leute dazukamen, desto schneller wuchs es.
Bald überdeckte die Blase den gesamten Bahnhof und auf den Gleisen waren nur noch verlassene Koffer zu entdecken.
Nur ein kleines, schüchternes Mädchen stand noch fassungslos auf Gleis 2.
Wie ein Wind packte es sie aufeinmal und die Melodie entfaltete sich zu ihrer gesamten Fülle.
Die Blase hatte ihre höchste Einheit erreicht.

Carl bemerkte ein wunderbares Leuchten ein paar Straßen weiter und sprintete der Melodie hinterher, in der Hoffnung, Beweise für seinen Traum zu finden.
Als er endlich im Bahnhof stand, konnte er seinen Augen kaum glauben.
Es wahr war.
Plötzlich schrumpfte die schillernde Blase mit einem lauten Knall in sich zusammen und ließ sich von ihrem Inhalt in unbekannte Sphären befördern.
Carl hustete.

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Andre Klein).
Der Beitrag wurde von Andre Klein auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.03.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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