Manfred Bieschke-Behm

Sophia, das Sparschwein und die Zwei-Euro-Münze

Sophia, das Sparschwein und die Zwei-Euro-Münze
Eine Geschichte zum Vorlesen, inspiriert durch das Kinderlied  „Taler, Taler du musst wandern“
 
 
Taler, Taler, du musst wandern
von dem einen Ort zum ander'n.
 
Bist nicht hier, bist nicht dort,
bist an einem ander'n Ort.
 
Taler, Taler, du musst wandern
von dem einen Ort zum ander'n.
 
Das ist herrlich, das ist schön,
Taler lass dich nur nicht seh'n.

 

Sophia, die neunjährige Sophia starrt auf ihr pinkfarbiges Sparschwein, das sie mit groß aufgerissenen Augen und rot bemaltem Kussmund anlächelt. Das Sparschwein, das vor Sophia auf dem Tisch steht, steht eigentlich im Regal, gleich hinter der Tür ihres „Mädchenzimmers“, wie Sophia ihr Kinderzimmer nennt. Dort wird das Sparschwein nur herausgeholt, wenn es „gefüttert“ werden soll. Wann immer Sophia eine oder gar ein paar Münzen bekommt, steckt sie diese in ihr Sparschwein und erfreut sich an dem Geräusch, wenn sich die neuen Münzen zu den alten gesellen.
Heute ist das anders. Heute ist ein heißer Sommertag. Sophia schwitzt, obwohl sie der Jahreszeit entsprechend leicht gekleidet ist. Sie wünscht sich nicht sehnlicher, als ein leckeres Vanille- und Erdbeereis. Eis gibt es nicht umsonst, und deshalb ist sie bereit das notwendige Kleingeld dem Sparschwein zu entnehmen. Vorsichtig versucht sie mit einem Messer Münzen aus dem Schlitz zu angeln. Schon beim ersten Versuch kullern zwei Zwei-Euro-Münzen ihr entgegen. Sie betracht das Geld und merkt, dass es jetzt immer notwendiger wird ein Eis zu kaufen. Doch bevor sie sich auf den Weg macht, betrachtet sie die zwei Münzen in ihrer Hand. Plötzlich bekommt sie ein schlechtes Gewissen. Eilig wirft sie eine Münze zurück in ihr Sparschwein und glaubt zu erkennen, dass sich das Sparschwein darüber freut. Mir nur einer Münze in der Hand ist ihr schlechtes Gewissen vorbei, sagen wir besser so: um 50 Prozent vorbei.
Sophia macht sich schnell auf den Weg zur Eisdiele. Sie merkt sehr wohl, dass, je näher sie der Eisdiele kommt, ihre Schritte immer schneller werden. Endlich steht sie vor dem Eisverkäufer. Ohne viel Umschweife sagt sie dem Eisverkäufer was sie haben möchte. Der freundliche Eisverkäufer reicht ihr eine Tüte mit zwei Kugeln Eis. So wie gewünscht, eine Kugel Vanilleeis, und eine Kugel Erdbeereis. Noch bevor Sophia das Eis mit ihrem Zwei-Euro-Stück bezahlt, schleckt sie an dem kühlen, erfrischenden Eis. Mit ihrer Zunge leckt sie an beiden Kugeln entlang, sodass sie sofort in den doppelten Geschmacksgenuss kommt. Vanilleeis und Erdbeereis, das ist ihre Welt. Dafür würde sie fast alles hergeben. Der Eisverkäufer indes legt das Geld in seine Kasse und freut sich zusammen mit Sophia über die Sonne, die Wärme und das Eis. Letzteres aus unterschiedlichen Gründen.
Der Eisverkäufer hat nicht viel Zeit, um sich über seine Geldeinnahme zu freuen, denn soeben steht ein junger Mann vor ihm und wünscht drei Kugeln Eis. Sofort wird die Bestellung erledigt und auch hier wechseln Geld und Eis schnell den Besitzer. Der junge Mann bezahlt mit einem fünf Euro Schein. Zurück bekommt er eine Zwei-Euro-Münze, die sich der junge Mann achtlos in seine linke Hosentasche steckt. In dieser Hosentasche befinden sich bereits ein Taschentuch, ein paar Bonbons und sein Handy. Die Münze findet ihren Platz und fühlt sich wohl zwischen all den Sachen, die sie bisher nicht kannte.
Der junge Mann, vielleicht neunzehn Jahre alt, läuft Eis schleckend die Straße entlang. Er steuert direkt auf ein Blumengeschäft zu. Doch bevor er den Laden betritt, schiebt er sich den Rest seiner Eiswaffel in den Mund und wartet bis auch dieser in seinem Magen gelangt ist.
Eine angenehme Kühle empfängt ihn im Blumenladen. Blumen und Pflanzen in Hülle und Fülle umgeben den jungen Mann. Farben und Düfte betäuben seine Sinne. „Was kann ich für Sie tun?“ hört er ganz weit weg die Verkäuferin fragen. „Kann ich etwas für Sie tun?“ fragt die Blumenverkäuferin nach und holt damit den jungen Mann aus seinen Blütenträumen heraus. „Entschuldigung! Ja, Sie können etwas für mich tun. Ich hätte gerne eine rote Rose.“ „Na, dann suchen Sie sich mal die schönste Rose aus“ reagiert die Verkäuferin. Der junge Mann wählt eine Rose aus, und die Verkäuferin entnimmt die Auserwählte aus dem Riesenstrauß roter Rosen. „Soll ich Ihnen die Rose in Folie einpacken?“ möchte die Verkäuferin wissen. „Ja, das können Sie gerne tun“ antwortet der junge Mann und erzählt ihr weiter, dass diese Rose für seine Freundin bestimmt ist, die er jetzt besuchen wird. Die Rose und das Zwei-Euro-Stück wechseln den Besitzer. Voller Erwartung verlässt der junge Mann den Blumenladen und läuft geradeaus die Straße entlang. Die Blumenverkäuferin, noch immer die Zwei-Euro-Münze in der Hand haltend, schaut sehnsuchtsvoll dem jungen Mann nach. Sie denkt gerade an die Zeit zurück, wo ihr jetziger Mann ihr die allererste Rose geschenkt hatte. Lang ist es her, seufzt sie. Der junge Mann ist längst um die Ecke gebogen, als sie glaubt, dass sich das Geldstück in ihrer Hand zu einem Herz geformt hätte. Schnell aber bedeutungsvoll, als würde sie einen zu hütenden Schatz sichern müssen, legt sie die Münze zu den anderen unbedeutenden Geldstücken in ihre Kasse. Dadurch, dass weitere Kunden ihren Laden aufsuchen und Ware und Geld ihre Besitzer wechseln, verliert sich ihre Erinnerung und sie wendet sich dem Tagesgeschäft zu.
Frau Mühlhaupt, das ist die Witwe aus dem Haus nebenan, betritt wie jeden Donnerstag das Blumengeschäft. „Was darf es denn heute sein?“ wird sie von der Blumenverkäuferin gefragt. „Heute nehme ich einen bunten Sommerstrauß. Mein Mann liebte bunte Sommersträuße“. „Na dann sagen Sie mir, welche Blumen ich zu einem Strauss binden soll“. Schnell werden sich Frau Mühlhaupt und die Verkäuferin einig. Frau Mühlhaupt freut sich über den wirklich schönen Strauß bunter Sommerblumen und die Verkäuferin freut sich, dass sie Frau Mühlhaupt glücklich gemacht hat. Als Wechselgeld bekommt Frau Mühlhaupt jene Zwei-Euro-Münze die bis vor kurzem noch so von Bedeutung war.
Frau Mühlhaupt legt das Wechselgeld nicht, wie sonst üblich, in ihr Portemonnaie, sondern behält es in der Hand, denn sie will sich im Laden nebenan eine Zeitung kaufen. Der Zeitungshändler, ein freundlicher Türke, den alle Ali nennen, der Tag für Tag mit gepflegtem Schnurrbart und gegelter schwarzer Haarpracht in seinem Laden steht, nimmt die Zwei-Euro-Münze  entgegen und wünscht Frau Mühlhaupt noch einen schönen Tag. Er hat selbstverständlich den Sommerstrauß gesehen, der sich in Frau Mühlhaupts Einkaufstasche befand, und fragt deshalb, bevor Frau Mühlhaupt den Laden verließ, ob sie zum Friedhof gehen würde, um den Blumenstrauß auf das Grab ihres Mannes zu legen. Frau Mühlhaupt erklärt ihm, dass sie tatsächlich vor hat zum Friedhof zu gehen. Wie jeden Donnerstag wechselt sie die Blumensträuße aus und setzt sich anschließend auf die kleine Bank neben dem Grab und liest ihrem Mann aus der Zeitschrift vor. Dieses Vorleseritual gab es bereits zu Lebzeiten ihres Mannes und dieses Ritual möchte sie beibehalten. Mit einem freundlichen „auf Wiedersehen“ verlässt Frau Mühlhaupt den Zeitungsladen. Ali ist derweil damit beschäftigt den nächsten Kunden zu bedienen.
Sein nächster Kunde ist Frau Naumann. Frau Naumann ist beladen mit vielen Einkaufstüten, die sie schmerzgeplagt abstellt. „Guten Tag Frau Naumann“ begrüßt sie Ali, der freundliche Zeitungsverkäufer. „Wie immer die Tageszeitung und die neueste Fernsehzeitung?“, fragt er nach. „Ja, wie immer!“ antwortet Frau Naumann. Die Tageszeitung und Fernsehzeitschrift verschwinden in eine der Einkauftüten und das Wechselgeld wird entgegen ihrer Gepflogenheit nicht in ihr Portemonnaie gepackt, sondern in die Jackentasche verstaut. Ali hält die Ladentür auf, damit Frau Naumann mit ihren vielen Tüten unbeschwert den Zeitungsladen verlassen kann. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag“ „Das wünsche ich Ihnen auch“ erwidert Frau Naumann und versucht möglichst schnell zu ihrer Wohnung zu gelangen, um sich von der Tütenlast befreien zu können.
Endlich hat sie die drei Treppen bis zu ihrer Wohnungstür geschafft. Ihre Tochter Sophie hat ihre Mutter bereits kommen gehört und öffnet ihr die Wohnungstür. Darüber freut sich Frau Naumann sehr, denn sie muss weder ihre Einkaufstüten abstellen noch ewig lange nach dem Wohnungsschlüssel suchen, sondern kann gleich mit ihrer Last in Richtung Küche gehen. „Das ist aber nett von dir, liebe Sophia. Danke“ „Ist doch kein Problem“ sagt Sophia und nimmt der Mutter ein paar der Einkaufstüten ab, um sie in die Küche zu bringen. Gemeinsam packen sie die Tüten aus, und soweit Sophia Bescheid weiß, packt sie das Gekaufte gleich dort hin, wo es hingehört. Eins, zwei drei ist alles an Ort und Stelle und Sophias Mutter hat endlich Zeit sich von den Strapazen des Einkaufens zu erholen. Doch bevor sie sich auf den Küchenstuhl niederlässt, um gemütlich eine Tasse Kaffee zu trinken, zieht sie ihre Jacke aus. Dabei fällt ein Zweieurostück aus der Jackentasche. Sophia ist sofort zur Stelle, um die Münze aufzuheben und sie ihrer Mutter zu geben. „Nein, nein, behalt sie nur“ sagt Frau Naumann zu ihrer Tochter. „Ich schenke dir die zwei Euro. Du warst so nett und hast mir beim Auspacken und Wegräumen geholfen.“ „Aber das ist doch selbstverständlich, Mutti“ sagt Sophia und freut sich über das Geschenk. Ohne lange zu überlegen begibt sie sich in ihr „Mädchenzimmer“, steuert geradewegs das pinkfarbene Sparschwein an, um die zwei Euro in den Sparschweinschlitz zu stecken. Sie hört, wie die Münze auf die anderen fällt und sie glaubt auch zu hören, dass die anderen Münzen zu dem Zwei-Euro-Stück sagen: „Na, da biste ja wieder!“
 


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.07.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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