Christian Johannes Meier

Die Quanten-Offenbarung


Fred Cubert feuerte den World-Reader an die Laborwand. Das fingernagelflache Display platschte gegen den Beton und protestierte beim Fallen auf den Boden mit einem scharfen Pfeifton gegen die rüde Behandlung. Was die Medien schrieben, war purer Nonsens, dachte Fred. „Gottessimulation vor der Vollendung“, „Die Antwort auf alle Fragen an das Universum kommt morgen Abend“, „Die Jüngste-Tag-Maschine wird morgen zu uns sprechen“, „Offenbarung aus der Quantenwelt“ und so weiter und so fort. Aber am schlimmsten waren nicht die groben Fehleinschätzungen der Journalisten und ihre realitätsfremden Schlagzeilen. Die hatten zwar einen fast schon religiösen Hype um die Quanten-Essenz ausgelöst – jeden Tag erhielt Fred Tausende von Quests: die einen wollten wissen, ob Jesus oder Mohammed wirklich gelebt hatten; andere erhofften sich ein Rezept gegen Lungenkrebs, Alzheimer oder Multiple Sklerose; einer wollte sogar wissen, ob seine Frau, die an der Eigernordwand in den Tod gestürzt ist, in einem anderen Universum heil vom Gipfel des Viertausenders zurückgekehrt sei; und wenn ja, ob die Quanten-Essenz ihn dorthin teleportieren könne.
Aber heute, an diesem Novembertag, gab es wahrlich Übleres als das. Es war sogar mit großem Abstand der unerträglichste Tag in Freds jahrzehntelanger Physikerkarriere. Dass die Essenz das bedrohteste Objekt des Planeten war, wusste das ganze Big-Quantum-Simulator-Institut – sei es durch vom religiösen Wahn Befallene, die in der Essenz tatsächlich so etwas wie eine Konkurrenz sahen oder durch schlichte Umwelteinflüsse, wie Lichtteilchen oder kosmische Strahlung. Man hatte es schon Jahre vor dem Projektstart gewusst und das Institut 1000 Meter tief in den Granit des Monte-Rosa-Massivs gegraben und zusätzlich hinter meterdicke Betonwände gepackt. Die Wände bildeten einen Kubus von fast einem Kilometer Kantenlänge. In dessen Mitte lag, schalenförmig umgeben von einem Labor- und Bürokomplex für 1200 Wissenschaftler und 800 Techniker, die „Herzhalle“, wie die Privilegierten, die in dieser auserlesensten aller Großforschungsanlagen arbeiten durften, die große Computerhalle nannten. Hier thronte etwas, vor dem jeder Gast, der es zum ersten Mal zu Gesicht bekam, zutiefst erschrak. Fred hatte einige von ihnen, Politiker, Gastwissenschaftler, Journalisten, in die Herzhalle geführt und jedes Mal gierig in das Gesicht der Besucher geblickt, damit ihm nur ja nicht das plötzliche Aufreißen der Augen und das scharfe Einsaugen von Luft entging, mit dem die meisten dieser Ahnungslosen auf den Anblick von BQS reagierten. Er kannte nichts, was er so genoss, wie diese Reaktion, dieses ungläubige Staunen vor seinem Baby. Er wusste, dass ihn nicht mal die Verleihung des Nobelpreises, die er für das kommende Jahr erwartet hatte, ein derartiges Kribbeln im Bauch verursachen würde.


Aus dem Nobelpreis würde ja nun wohl nichts mehr werden. Denn in den Eingeweiden des BQS, in der Tieftemperaturkammer, 50 Meter hinter den stahlglänzenden Rohren und Kabeln, den dampfenden Kühlleitungen und den Laserresonatoren, gab es keine Quanten-Essenz mehr. Dort lagerte nicht mehr der größte und leistungsstärkste Quantencomputer, den die Welt je gesehen hatte, sondern nur ein gestaltloser Atomhaufen; nichts weiter als zehn Tonnen Rubidium, aus dem sich nicht einmal der Wetterbericht von morgen würde auslesen lassen.
Geschweige denn das Ergebnis jener titanischen Rechenaufgabe, für die BQS zwölf Jahre gebraucht hatte, und die heute ihren Abschluss hätte finden sollen. Am letzten Tag des „Multiversum-Experimentes“, wie es die beschränkten Schreiberlinge schon zu dessen Beginn genannt hatten, war das passiert, was zu verhindern sich das Atlantische Bündnis Demokratischer Staaten mehr als fünf Milliarden Atlan-Dollars hatten kosten lassen.
Der Worst Case war eingetreten. Die Sicherheitsabschirmungen mussten versagt haben. Jedenfalls war die hochempfindliche Verschränkung zwischen den Quatrilliarden von Rubidium-Ionen zusammengebrochen. Freds Alptraum war Realität geworden: die Essenz war zerstört, das Einzigartigste hatte den Planeten verlassen. Wirklich ein Tag, der in punkto Beschissenheit eine unübertreffliche Exzellenz besaß, dachte Fred und ließ seine Faust auf seinen Schreibtisch krachen, sodass sich sein Workwindow zusammenrollte wie ein Igel und dabei ein schlürfendes Geräusch abgab.
Obwohl die Wishflex-Tür Freds düstere Stimmung erkannt und sich intransparent geschaltet hatte, was potenziellen Besuchern die klare Botschaft „Jetzt bloß nicht stören“ übermittelte, glitt sie nun zur Seite.
Frieda Steinbach stürmte blass und mit aufgerissenen Augen, als habe sie gerade einen zähnefletschenden Alien gesehen, herein. „Fred, wir haben ein Vakuum-Leck in Leitung eins“, platzte die Doktorandin heraus. Fred starrte sie ungläubig an. Sicher: Ein ernst zu nehmendes Problem war das, was Steinbach ihm da hinschmiss. Unter normalen Umständen wäre es vielleicht sogar entschuldbar gewesen, dass eine frisch gebackener Post-Doc wie Steinbach ihn mit so etwas behelligte, obwohl er von seinen Mitarbeitern erwartete, dass sie technische Angelegenheiten schnell, ohne Aufsehen und vor allem selbständig erledigten. Aber heute? Er wunderte sich. Diese Steinbach hatte in Karlsruhe und am MIT in Boston studiert. Hatte seit ihrer Master-Arbeit mehrere Preise abgeräumt, eine wirklich exzellente Experimentalphysikerin. Fred holte sich nur die Besten. Nur die Creme de la Creme der Physik hatte eine Chance, bei BQS mitzuwirken. Dennoch reichte natürlich keiner seiner Mitarbeiter an sein eigenes Genie heran. Er war der unumstrittene Mastermind, der Geist des Projektes. Jeder seiner Gehirnströme war so kostbar wie Rechenzeit des BQS selbst. Er kniff die Augen zu Schlitzen, presste die Lippen aufeinander, griff nach einer Tasse auf seinem Schreibtisch und schleuderte sie voller Wucht nach Steinbach, die sich gerade noch wegducken konnte. „Lassen Sie mich mit Ihrem Kleinkram in Ruhe!“, brüllte er. Steinbach sah ihn entsetzt an, dann verschwand sie so schnell, wie sie gekommen war.
Die Wishflex-Tür schloss sich lautlos wie das dritte Augenlid einer Eule - nur um einen Moment später wieder aufzugleiten. Fred griff nach einem Stifthalter und holte aus. Er war überrascht, seinen Assistenten Thorben hereinplatzen zu sehen, der normalerweise die Signale des Wishflex respektierte. Wenn sie nicht schon heute früh gekommen wäre, dachte Fred, würde ich bei diesem Auftritt eine unerhörte Nachricht erwarten.
„Es kann sein, dass sie geklaut worden ist“, platzte es aus Thorben, der sich auf das Ledersofa fallen ließ, ohne die Pizzahülsen zu beachten, die von der vorletzten Mahlzeit darauf lagen.
„Was ist geklaut worden?“, fragte Fred. Dem erneuten Wutanfall, der sich bei Thorbens unerhörtem Eintritt gerade angeschickt hatte, aus ihm herauszuplatzen, waren durch diese Worte der Wind aus den Segeln genommen.
„Na, die Essenz.“
„Fängst du zu spinnen an? Das Rubidium ist noch im Lichtgitter, wo sollte es auch sonst sein?“
„Nur die Materie ist noch da, aber nicht die Information. Wir glauben, man hat sie wegteleportiert.“
Fred zog einen Mundwinkel nach oben und sah seinen Assistenten an wie einen Master-Prüfling, der die Newtonschen Gesetze nicht im Schlaf herunterbeten konnte.
„Absolut unmöglich“, sagte er. „Dazu hätten sie einen Komplizen hier im Institut gebraucht, der Operationen ausgeführt haben müsste, deren bloße Vorbereitungen das Überwachungssystem schon bemerkt hätte. Das weißt du doch. Außerdem prüfen wir unsere Bewerber besser als das Atlantic Intelligence Department. Verdammt, was redest du da?“
„Ich spreche von einseitiger Quantenteleportation.“
Jetzt lachte Fred zum ersten Mal seit heute Morgen, aber es war ein freudloses, durch und durch sarkastisches Lachen.
„Ich habe eher das Gefühl, du sprichst vom Gestiefelten Kater“, sagte er. „Einseitige Teleportation“, fügte er lachend hinzu und schüttelte den Kopf. „Das ist das gleiche wie kalte Fusion: absoluter Humbug, das wirre Geisteskonstrukt von irgendwelchen Wichtigtuern, die sich der Sensationslust der Medien bedienen, damit sie überhaupt wahrgenommen werden.“
„Du meinst Wichtigtuern wie Branko Zurek“, antwortete Thorben.
Fred spürte bei der Nennung dieses Namens eine Wallung von Ärger durch sich strömen. Für ihn war dieser Zurek ein Anti-Wissenschaftler und er nahm auf Tagungen oder anderen Treffen von Wissenschaftlern kein Blatt vor den Mund, wenn es um den russischen Physiker ging, dessen Thesen jeden Respekt vor den etablierten Erkenntnissen der Naturwissenschaften vermissen ließ. Es war kein Geheimnis, das Fred den Russen als einen Emporkömmling betrachtete, der sich mit schrillen, aber völlig haltlosen Theorien in den Vordergrund drängen wollte. Dass Thorben Zurek erwähnte, steigerte das Befremden, das er gegenüber seinem Assistenten, immerhin ein Zeilinger-Preisträger, in diesen Minuten empfand. Er hatte das Gefühl jemanden vor sich zu haben, der glaubte, ein Apfel fiel nur deshalb vom Stamm, weil eine Hexe mit einem unsichtbaren Faden daran zog. Dabei war Thorben der Beste seiner Untergebenen, jemand, der gute Chancen auf den Nobelpreis hatte. Was war nur in ihn gefahren?
„Wie nannte man Leute wie Zurek früher?“ sagte Fred, während er die Augen einen scharf Nachdenkenden mimend zu den Klimarohren an der Betondecke drehte. „Alchimisten? Scharlatane? Thorben, tut mir leid, wenn du Zurek mit dem...“, er stutzte, „...Nichtmehrvorhandensein der Essenz in Zusammenhang bringst, muss ich dein Urteilsvermögen anzweifeln.“
„Wie dem auch sei“, sagte Thorben, „jedenfalls hat Schorsch festgestellt, dass wir in der Nacht einen Hack hatten, und zwar genau vier Minuten nach der Stunde Null, also fast unmittelbar nachdem das Ergebnis da war.“
Fred saß mit offenem Mund da. „Was?“ fragte er.
„Man hat die Essenz ausgelesen, vermutlich per HT-Laserdownlink, kurz nachdem sie geboren war. Das Baby wurde per Satellit gekidnappt - und zwar vor unseren Augen. Wir hatten nur den Eindruck, dass die Essenz bei ihrer Geburt zerstört wurde. In Wirklichkeit ist die Information, die ihr ihre Gestalt gab gescraped worden: es wurden mehr als 50.000 Terabyte heruntergeladen. Das ist protokolliert.“
„Heruntergeladen? Das geht nicht.“ Fred ließ sich wieder in seinen Chefsessel fallen, der in dem chaotischen Wissenschaftlerbüro wirkte wie ein Chippendale-Sofa in einem Kuhstall.
„Wir könnten es nicht“, sagte Thorben. „Aber jemand, der die einseitige Quantenteleportation beherrscht, könnte sie auslesen und den Quantenzustand der Essenz auf einen Quantencomputer wie unseren übertragen.“
Fred stand auf und machte mit waagrechten Händen eine beschwichtigende Geste. „Na gut, mal angenommen, irgendjemand beherrscht diese einseitige Teleportation, eine Annahme, die abwegig genug ist. Und du willst mir einreden, dass dieser immer hypothetischer werdende Forscher auch noch einen zweiten BQS besitzt?“
„Müsste so sein, denn ohne ihn wäre die Information nutzlos. Er muss sie auf ein dem BQS äquivalentes Quantensystem übertragen. Sonst hat er quasi nur die Software, aber keine Hardware.“
Fred saß da und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand das Kinn. „Einen gewissen Sinn macht das, natürlich nur innerhalb deines verrückten Szenarios. Er hätte mit seinem Quantencomputer das Ergebnis nicht selbst reproduzieren können, weil er unsere Algorithmen nicht kennt. Er hätte zwar die Hardware aber keine Software. Er müsste die Essenz also klauen, um sie auf seinen Rechner zu übertragen. Und Experimente damit anstellen, ihr die Fragen stellen, die wir ihr eigentlich stellen wollten. Es wäre dann absolut unerträglich, dass wir die Algorithmen offenbar besser geschützt haben als die Essenz selbst“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Wer soll denn bitte dieser Wunderknabe sein? Wer, bitteschön, sollte es schaffen, uns zu überlisten?“
„Du kennst doch Jana Dornbach?“ fragte Thorben.
„Diese Wissenschaftsjournalistin? Leider ja. Was hat die denn jetzt mit diesem Irrsinn zu tun?“
„Ich habe sie angerufen und gefragt, was sie über Zurek weiß.“
Fred sprang so abrupt auf, dass der Ledersessel drehend nach hinten schnellte. Er stemmte sich auf die Schreibtischplatte wie ein brüllender Löwe. „Du hast mit der Presse gesprochen?“. Noch hielten sie die Öffentlichkeit damit hin, BQS habe noch kein Resultat ausgespuckt, die Essenz stecke gleichsam noch im Geburtskanal fest.
„Komm runter“, antwortete Thorben und machte eine beschwichtigende Geste. „Ich habe nicht mit der Presse gesprochen, sondern mit meiner guten Bekannten Jana. Sie schöpft zwar Verdacht, aber sie will es sich nicht mit uns verderben. Wir haben ein Vertrauensverhältnis.“
Fred atmete durch und entspannte sich ein bisschen, ließ sich wieder in seinen Sessel fallen und taxierte Thorben mit skeptischem Blick. „Und was sagt sie?“
„Sie hat schon vor einer Weile recherchiert, wer Zurek finanziert“, sagte Thorben und lehnte sich, ebenfalls einigermaßen entspannt, im Sofa zurück. „Regierungen und die Industrie zahlen ihm so gut wie nichts. Nichtmal die Chinesen, die es ja nun wirklich haben, geben ihm Geld. Seine Ideen sind einfach zu umstritten. Kein Gutachter der Welt will sich die Blöße geben und seinen Thesen öffentlich Glauben schenken.“
Thorben machte eine rhetorische Pause, die Fred übertrieben lang vorkam.
„Und?“, drängte er. „Wer ist es?“
Thorben genoss sichtlich noch den Augenblick der schwebenden Spannung.
„Wolfram.“
Freds Unterkiefer klappte herunter. Die Länge der Kunstpause war angemessen gewesen, stellte er im Gedanken fest.
„Wolfram? Du meinst doch nicht...?“
„Doch: Julius Wolfram. Der Öl-, Uran- und Gaskönig. Der Energiemagnat. Der reichste Mensch dieses Planeten.“
„Den seit Jahren niemand leibhaftig gesehen hat. Ist sich deine Schmierantin da sicher?“
Thorben nickte entschieden.
„Wenn sie etwas laut ausspricht, ist sie sich immer sicher. Sie hat ein exzellentes Netzwerk. Da könntest selbst du dir eine Scheibe abschneiden.“
Fred schaute seinen Assistenten pikiert an.
„Ein Vögelchen aus Wolframs Goldkäfig, wo immer der sich befindet, hat es ihr wahrscheinlich gezwitschert. Aber natürlich gibt sie ihre Quellen nicht preis.“
Fred nickte nachdenklich. Wenn das wahr war, dann war vielleicht sogar etwas dran an Thorbens Schauermärchen. Mit seinem Geld konnte Wolfram die Grenzen des Machbaren erstaunlich weit verschieben. Das hatte er vor zwei Jahrzehnten gezeigt, als es ihm gelang, den Durchbruch der regenerativen Energiequellen durch ein Gemenge an Korruption, Lobbyismus in der Forschungs- und Wirtschaftsförderung sowie dem weltweiten Ausbau seines Energiekonzerns „Wolfergy“ im Keim zu ersticken, obwohl politisch längst ein Konsens erzielt war, Sonnenenergie, Wind- und Wasserkraft massiv auszubauen. Allerdings musste auch er Niederlagen einstecken: Sein verwegenes Projekt des Sonnenwindrotors  ein 20.000 Kilometer durchmessender Drehkörper im Orbit zwischen Erde und Venus, der durch den von der Sonne ausgehenden Teilchenstrom angetrieben werden sollte, wie ein Windkraft-Rotor durch Wind  hatte er zwar angefangen. Aber schon beim Bau des ersten Flügels wurde klar, dass die Kosten und der Zeitaufwand zu sehr aus dem Ruder laufen würden. Es wäre sein perfekter Traum gewesen: Eine Anlage in seiner gierigen Hand, die die ganze Menschheit mit Energie versorgt hätte.
Nun machte der Energieguru einen vielleicht tatsächlich noch tollkühneren Versuch.
„Wolfram finanziert also Zurek. Mit wie viel?“, fragte Fred.
„Viel", antwortete Thorben. "Verdammt viel. Hundertfünfzig Millionen pro Jahr. Und er stellt ihm ein Labor zu Verfügung. Mit allem Pipapo. Wo das ist, sagte sie allerdings nicht. Nur soviel: es handle sich um einen wirklich sicheren Ort.“
Fred schaute Thorben mit halboffenem Mund an.
„Ein Geheimlabor?“
„Jana sagt, dass Zurek in den letzten vier, fünf Jahren sein Institut in Moskau des öfteren monatelang verlassen hat. Er ist regelrecht abgetaucht. Er hat in dieser Zeit fast gar nichts mehr über seine einseitige Teleportation publiziert, was aber kaum jemanden wunderte, schließlich, so meinte man, bekommt er ja kein Geld dafür. Alle dachten, er habe sie endlich aufgegeben.“
„Dass er das Geld aber doch bekommt....“, murmelte Fred.
„... und trotzdem nicht publiziert ist eine interessante Wendung, findest du nicht?“ ergänzte Thorben. „Darin ähnelt Zurek übrigens Ulrike Ehrlicher“, fügte er hinzu.
Fred schaute ihn fragend an. „Ehrlicher, Ehrlicher. Habe ich schon mal gehört. Hilfst du mir auf die Sprünge?“
„Die Psycho-Technologin“, antwortete Thorben. „Sie hat lange Zeit bei IBM an einer universellen Mensch-Maschinen-Schnittstelle gearbeitet. Du weißt schon: die Maschine liest die Wünsche seines Nutzers quasi von dessen Augen ab. Mimik-Erkennung, Gehirnstromanalyse und so weiter. In der Wishflex zum Beispiel steckt von ihr entwickelte Technologie, sagte Thorben und nickte in Richtung Tür.
„Ach ja, jetzt dämmert’s“, sagte Fred. „Das ist die mit dieser Theorie, dass jede Form von Bewusstsein im Grunde die gleichen universellen Kommunikationsmuster verwendet, oder?“
„Genau. Jede bewusste Lebensform oder jede bewusste Maschine könnte demnach mit jeder anderen kommunizieren, wenn sie einen Translator benutzt, der die universellen Kommunikationsmuster aus den jeweiligen Sprachen herausfiltert. Wie beim Babel-Fisch von Douglas Adams.“
„Und was hat sie mit Zurek gemein?“
„Dass sie verschwunden ist. Und wie bei Zurek wahrscheinlich deshalb, weil ihre Forschung nicht mehr gefördert wird.“
„Und warum nicht?“
„Sie hat den Bogen überspannt, als sie Nano-Agenten entwickeln wollte, die über den Riechnerv ins Gehirn des Nutzers eindringen, dort kollektiv die Hirnstrommuster analysieren und die so erkannten Kommunikationsmuster an die Maschine funken. Umgekehrt sollten die Agenten den Output des Computers direkt als Hirnströme in das Bewusstsein des Nutzers projizieren. Im Grunde eine geniale Idee. Widerspricht allerdings eklatant den Ethik-Richtlinien der Atlantic Science Association. Sie bekam kein Geld dafür. Kurz darauf ist sie verschwunden. Viele glauben, nach China. Die haben ja bekanntlich weniger Skrupel.“
„Aber normalerweise lassen sich Forscher, die nach China verschwinden, wenigstens auf Tagungen sehen“, sagte Fred.
„Eben. Womöglich ist sie jetzt auch bei Wolfram. Wie Zurek, dessen Ideen diesen machtgierigen Energiemenschen offenbar stark interessieren.“
Fred stand auf, ging um seinen Schreibtisch herum und ging davor mit gesenktem Kopf auf und ab, wie er es bei ihren Fachdiskussionen oft schon getan hatte.
„Du denkst also... nein... es kann nicht sein“, stammelte er, dann blieb er stehen und sah Thorben an. „Also gut, rein hypothetisch: Zurek hat für Wolfram eine Vorrichtung zur einseitigen Teleportation gebaut und damit die Essenz gestohlen. Was will jemand wie Wolfram damit?“
Thorben lächelte und schüttelte den Kopf.
„Keine Ahnung. Jana sagt, er sei auf der Suche nach einer neuen Energiequelle, eine die er kontrollieren kann und die alle 17 Milliarden Weltbürger versorgt. Er will der absolute Sonnenkönig der Energie werden.“
Fred kam das reichlich merkwürdig vor. Für ihn war die Essenz die Verkörperung rein wissenschaftlicher Neugier. Sie sollte ihnen Fragen über das Multiversum beantworten, Fragen, die Physiker, Astronomen, Kosmologen und Neugierige unter dem normalen Volk, etwa die Dilettanten von diesen Popular-Science-Kommunen im Netz, interessierten. Aber was wollte dieser geldgierige Energiezar mit der Ausgeburt zweckfreier Grundlagenforschung?
„Wie, zum Teufel, soll ihm die Essenz dabei helfen?“, fragte er Thorben
Thorben stand jetzt auf, trat auf Fred zu und sah ihm in die Augen.
„Ich denke, das kann sie“, sagte er.
Wieder machte Thorben eine Kunstpause. Fred wusste, warum er seinen Assistenten unbedingt immer mit in die Verhandlungen mit ihren Geldgebern dabeihaben wollte – er konnte die Dinge spannend darstellen, man hing an seinen Lippen.
„BQS hat ein Multiversum simuliert“, hob er mit überflüssiger Information an. Fred ließ ihm dieses Ausschmücken, er redete eben sehr gerne über ihr wohlgeratenes Baby. „Es gab einen simulierten Urknall“, fuhr Thorben fort. „Und von da an hat sich bei jeder Kollabierung eines simulierten Quantenzustandes ein neues Universum abgespalten, wie bei einem riesigen Baum, der sich vom Stamm her immer weiter verzweigt. Alles, was wir BQS als Input gegeben haben, sind einige fundamentale Naturgesetze und ein paar Naturkonstanten. Dazu kommt ein Modell, das die Variation der Gesetze und Konstanten zwischen den Universen simuliert. Am Ende des Programms suchte unser Algorithmus nach gemeinsamen Eigenschaften aller Universen. Das Ergebnis dieser Suche wäre der kleinste gemeinsame Nenner, das, was es in allen Universen in der gleichen Form gibt. Das absolut Universelle gewissermaßen. Oder besser: das Multiverselle. Die Essenz von allem.“
Fred nickte, es dämmerte ihm, worauf Thorben hinauswollte. „Dazu könnte, wie wir vermuten, die dunkle Energie gehören“, sagte er.
„Genau“, sagte Thorben. „Die Essenz könnte uns endlich sagen, was diese dunkle Energie ist. Wir wissen nur, dass sie unser Universum wie einen Luftballon aufbläst. Und eine Energie, die sämtliche Universen auseinander treibt, ist sicherlich etwas, das Wolfram interessieren könnte, findest du nicht?“
Jetzt ging Fred zum Sofa und ließ sich wie ein zu Tode Erschöpfter darauf plumpsen.
„Und wenn er und die von ihm gekauften Wissenschaftler die einzigen sind, die wissen, was die dunkle Energie ist...“
„Könnte das die Menschheit in eine absolute Abhängigkeit von ihm treiben“, vervollständigte Thorben den Satz. „Wie einen verdammten Junkie.“
„Fragt sich: wohin hat Wolfram die Essenz teleportiert?“


***


Jana atmete tief ein als sie mit vorgebeugtem Oberkörper in das dunkle Metallloch starrte. Das Schiff schwankte derart in der meterhohen Dünung, dass sie sich am Metallrand des Einstiegs festklammerte als wäre er das letzte, was sie vor dem Sturz in einen Abgrund bewahrte. Das Ironische war, dass sie das U-Boot, zu dem der Einstieg gehörte genau dahin bringen sollte: in einen Abgrund. Unter normalen Umständen wäre sie mit ihrer behandlungsbedürftigen Platzangst niemals in eine solche Röhre gestiegen. Aber ein Exklusivinterview mit Julius Wolfram war Motivation genug. Außerdem würde das hier wohl die Reportage des Jahrhunderts werden: sie fuhr mit einem Spezial-U-Boot zur tiefsten Stelle der Weltmeere, an den Grund des Marianengrabens, elf Kilometer unter den Wellen, um das bislang unbekannte Geheimlabor des reichsten, macht- und geldgierigsten Menschen der Welt zu besuchen. Der obendrein offenbar etwas Finsteres ausbrütete. Und davon würde sie, Jana Dornbach, der Welt berichten. Eine derartige Sensation hat es noch nicht gegeben. Sie würde Journalismus-Geschichte schreiben. Sie hob vorsichtig ein Bein in das Innere der Röhre und setzte es auf die Leiter. Dann holte sie tief Luft.


„Es antwortet niemand“, sagte der Fahrer des U-Bootes, ein großer Blonder mit betörenden Härchen auf den muskulösen Armen. Jana studierte eingehend die behaarten Arme sowie andere körperliche Vorzüge des durchtrainierten Mannes, um sich von ihrer pulsierenden Platzangst abzulenken. Überraschenderweise gelang das sehr gut. Der Anblick des schätzungsweise 30-Jährigen verlagerte die Aktivitäten ihres Gehirns vom Angstzentrum zu Regionen, die eindeutig für Sex zuständig waren. Sie vergaß die sargähnliche Enge des Bootes und die leere Finsternis, die hier, kilometerweit unter der Meeresoberfläche, durch die Bullaugen starrte.


„Wir könnten es uns ja in der Zwischenzeit gemütlich machen, bis die sich melden“, sagte Jana, beugte sich dem blonden Hünen entgegen und schob einen der Spaghettiträger ihres Tops von der Schulter.
Der Steuermann wich leicht zurück, sah sie an, wie ein Lehrer einen Schüler, der den Dreisatz nicht begreift.
„Sie antworten sonst immer, es muss etwas passiert sein“, sagte er.
Jana richtete sich wieder auf und sah ihn fragend an, den Spaghettiträger ließ sie vorläufig da, wo er war.
„Soll ich trotzdem andocken?“, fragte der Blonde.
„Andocken klingt gut“, sagte Jana.
Er seufzte vernehmlich.
„Also“, begann er und atmete während er das Wort sprach deutlich aus. „Ich kann die Schleuse vom Boot aus öffnen und Sie reinlassen. Ich habe aber keine Ahnung, was Sie da drin erwarten wird. Womöglich Giftschwaden, Feuer, Radioaktivität  ich weiß es nicht.“
Jana nickte. Dann beugte sie sich zum Fensterchen neben ihr, durch das die Unterwasserstation zu sehen war, besser gesagt, die Positionslichter an ihrer Außenhaut, die wie die Ringe einer Zielscheibe den Weg zur Andockstelle wiesen. Sie blickte nach oben und sah die Perlenkette der grün leuchtenden Laser-Downlink-Repeater, die wirkten wie eine überdimensionale Lichterkette ins Nichts. Sie würde sich diese Story nicht von einem kaputten Funkgerät vermasseln lassen.
„Docken Sie an“, sagte sie. Sie drehte sich zu dem Traumtypen und schob nun auch das zweite Trägerchen von ihrer anderen Schulter. „Und dann nehmen wir zwei uns 20 Minuten Zeit, bevor ich womöglich in den Tod gehe.“
Jetzt lächelte der Steuermann endlich.


Eine halbe Stunde später stand Jana in der Schleuse, das Zischen der Luft ließ langsam nach, dann klackte die Verriegelung und die Türe öffnete sich. Vor Jana lag eine leere lange Röhre, deren Ende wegen einer leichten Biegung nicht zu sehen war. Jedes zweite der weißen Wandsegmente leuchtete, einige der Leuchtwände flackerten unregelmäßig, offenbar gab es jede Menge Wackelkontakte. Jana trat ein und sofort schloss sich zischend die Türe hinter ihr, so als wolle sie sagen: mach was du willst, das geht mich nichts mehr an.


Auf dem Weg durch die Röhre begegnete ihr niemand. Sie drückte und schob an ein paar der Türen, die seitlich abgingen, doch sie bewegten sich keinen Millimeter. Alle paar Meter prangte an den Wänden das Logo von Wolfergy: ein schematischer, knallgelber Wolf mit energischem, durchstechenden Blick, der vor einem stilisierten schwarzen Blitz stand. Dann, nach etwa 200 Metern, endete die Röhre und sie stand vor einem Portal, das groß genug für voluminösen Laborbedarf oder für Versorgungspaletten war. Sie streckte gerade ihre Hand nach der glatten Oberfläche aus, da glitt das Tor zur Seite. Es enthüllte eine Person, die aussah wie ein Almöhi, der gerade einen Wirbelsturm überlebt hat. Ein blutender Kratzer lief quer über seine tiefgefurchte Stirn. In seinen Augen schimmerte etwas Wildes, Wölfisches. Das Wesen starrte sie mit aufgerissenen Augen an wie einen totgeglaubten Bekannten.
Jana sah ihn forschend an.
„Zurek?“ fragte sie.
„Jana. Warum sind Sie hereingekommen“, fragte Zurek.


Jana antwortete nicht, sondern trat in den turnhallengroßen Raum, der mit einem Gewirr aus Kabeln, Rohren, Vakuumgefäßen, zimmerhohen Metallgestellen voller Geräte und Cyberscreens gefüllt war. Das Labor wirkte wie nach einem Erdbeben. Die Cyberscreens schimmerten im Grau ihres Off-Zustandes, anstatt Messwerte anzuzeigen, das laborübliche Summen der Vakuumpumpen fehlte, stattdessen funkte es hier und da, begleitet von Zirpen statischer Entladungen. Um die Kryostaten herum zogen Dampfwolken. Einige Gestelle lagen am Boden und die Geräte und Werkzeug um sie herum verteilt. Weißbekittelte Wissenschaftler wuselten umher, sichtlich bemüht wieder Ordnung in das für sie sicherlich unerträgliche Chaos zu bringen.
Jana ignorierte Zureks Frage. „Sie achten doch normalerweise auf ein respekteinflößendes Äußeres, Branko“, sagte sie wie beiläufig. „Heute wirken sie ein wenig... derangiert. Vom Rasputin zum Landstreicher, wenn ich das so sagen darf.“
Zurek verzog die Mundwinkel zu einem ungläubigen Grinsen und schüttelte den Kopf.
„Wir hatten hier einen schweren Unfall. Wie soll ich sonst aussehen?“
Jana wunderte sich über sich selbst. Natürlich war ihr nicht entgangen, dass in der Station etwas passiert war. Zwar regte sich die journalistische Neugier in ihr und sie wollte wissen, was hier geschehen war. Aber sie fühlte immer noch Jürgen auf und in sich. Sie hatte diesen Mann wie einen Oktopus der Liebe erlebt, der mit warmen Tentakeln ihren Körper gleichzeitig überall dort berührte und überall dort in ihn eindrang, wo es besonders viel Spaß machte. Sie hatte die Orgasmen nicht gezählt, die er ihr, nicht nur mit dem größten und härtesten seiner Tentakel beigebracht hatte und die nachglühten wie ein nur langsam abkühlender, frisch gegossener Eisenbarren.
Jana musste dumme Witzchen machen, um das Grinsen zu tarnen, das sie nicht aus dem Gesicht bekam. Sie kam sich im Moment äußerst unprofessionell vor und auf Zurek wirkte sie vermutlich genauso. Es gelang ihr, sich ein wenig zu fangen.
„Was zum Teufel ist hier passiert, Zurek?“
Zurek packte Jana an den Schultern und sah ihr aus höchstens 20 Zentimeter Entfernung in die Augen. In seinem Blick lag etwas zwischen Furcht und Faszination.
„Es war die Essenz“, sagte er.
Sie hatte also richtig vermutet: Wolfram hatte die Essenz. Zurek hatte sie mit Sicherheit per einseitiger Teleportation hergeholt, wie auch sonst? Er war ein Genie.
„Was hat sie ....?“, stammelte sie. Ihr fiel kein passendes Verb ein, „gemacht“ konnte es wohl nicht treffen.
Zurek ließ sie los.
„Gehen wir in mein Büro“, sagte er. „Ich erzähle es Ihnen dort.“


Zu Zureks Büro gelangten sie über eine Galerie, die in drei Meter Höhe den Laborsaal umlief. Es war ein etwa 15 Quadratmeter großes Chaos aus aufgeschlagenen Büchern, Workwindows und Kaffeetassen, unter dem irgendwo ein Schreibtisch zu vermuten war. Zurek deutete auf eine einigermaßen nutzbare Sitzgruppe in der Ecke.
„Setzen Sie sich“, befahl er.
Jana gehorchte. Zurek ließ sich ihr gegenüber in einen Sessel fallen. Zurek setzte sich nicht, sondern blieb mitten im Raum stehen und sah sie an.
„Die Essenz ist seit vier Tagen hier“, begann er. Janas Neugier und ihre Aufmerksamkeit waren wiederhergestellt. Sie sog die Worte Zureks auf wie ein Atomspeicher und legte sie in ihrem phonetischen Gedächtnis ab. Sie würde hinterher in der Lage sein, beliebige Stellen aus Zureks Vortrag in exaktem Wortlaut wiederzugeben.
„Wer sie zu Gesicht bekommt, muss aufpassen, dass er nicht verrückt wird", fuhr Zurek fort. Es ist ungefähr so als stehe man einer Art lebendem Kandinsky-Gemälde gegenüber. Kaum glaubt man eine Form zu erkennen, beispielsweise eine Kugel, verschwimmt sie wieder und wandelt sich in...", er hob ratlos die Arme und schaute zur Decke als suche er dort etwas. "... in etwas Baum-, Wolken- oder Was-weiß-ich-förmiges. Und die Farben erst. Sie flimmern wild durcheinander wie eine Bildstörung. Es ist absolut unmöglich, dieses Ding zu beschreiben. Geschweige denn, seine Eigenschaften zu studieren.“
„Ihr seid doch wohl hinter der dunklen Energie her“, sagte Jana.
Zurek sah sie pikiert an.
„Ich bin Grundlagenforscher, Jana. Ich bin hinter der Erkenntnis als solcher her. Dazu gehört auch die Frage nach der Natur der dunklen Energie. Das ist aber längst nicht alles.“
„Und Sie fragen sich nicht, was Wolfram mit der Essenz will?“
„Doch“, räumte er ein. „Das liegt auf der Hand. Aber er ist nun mal der Einzige, der meine Forschung finanziert. Als Grundlagenforscher brauche ich solche Leute wie Wolfram  Leute, die finanzielle Risiken eingehen, um wirklich große Wissenschaft betreiben zu können.“
Zurek war schon immer ein ziemlich eingebildeter Schnösel gewesen, dachte Jana. Daran hatte sich offensichtlich nichts geändert. Aber eines war auch wieder wahr: Der Coup mit der teleportierten Essenz zeigte, dass er sich beinahe jedes Maß an Arroganz leisten konnte.
„Meinen Sie mit ‚wirklich groß’ diese Katastrophe da draußen?“, fragte sie und deutete in Richtung Labor.
Zurek ignorierte ihre Bemerkung.
„Wir untersuchten die Essenz mit Laser, Röntgenstrahlung, energiereichen Ionenstrahlen, akustischer Stimulation, mit allen Messmethoden, die wir hier auffahren können. Sie blieb wie sie war: ein etwa zwei Meter durchmessendes Chaos. Die physikalischen Parameter sprangen wild durcheinander: die Temperatur schwankte in Sekundenbruchteilen um hunderte Grad Kelvin; die Essenz zeigte alle möglichen Aggregatszustände auf einmal, und keinen davon, sie ist quasi flüssig, fest, gasförmig - alles auf einmal. Sie oszilliert zwischen leitend, supraleitend und nichtleitend, para- und diamagnetisch. Nicht einmal ihr Gewicht ist zu bestimmen. Unsere Frustration stieg an.“


„Aus lauter Verzweiflung wandten wir uns an Ulrike“, fuhr Zurek fort.
Jana sah ihn fragend an.
„Ehrlicher. Ulrike Ehrlicher“, sagte Zurek.
Jana war nun wirklich überrascht. Ulrike Ehrlicher. Diese Story wurde immer besser.
„Ist sie tatsächlich hier?“
„Ja. Wolfram hat sie genauso intensiv gefördert wie mich. Und sie hatte Erfolg: Sie hat ihr UCI zu Ende entwickelt. Erst vor ein paar Tagen hat sie es der gesamten Station präsentiert. Ein einfacher Versuch. Ein chinesischer Kollege und ein amerikanischer unterhielten sich. Jeweils in ihren Sprachen – und sie haben sich verstanden.“
Natürlich hatte Jana von Ehrlichers Idee des Universal Communication Interface gehört. Sie hatte sogar daran geglaubt. Aber dass es so schnell funktionieren würde – darauf hätte sie nie im Leben gewettet. Man sah daran, dass eine ethikfreie Umgebung wie dieses Geheimlabor und viel Geld die Dinge erheblich beschleunigen konnten.
„Wollen Sie mir erzählen, dass Sie das UCI benutzt haben, um mit der Essenz zu.... kommunizieren?“, fragte sie.
„Genau das“, antwortete Zurek.
Jana stand mit offenem Mund da. Ihre Neugier brannte jetzt wie ein verheerendes Buschfeuer.
„Und?“ stieß sie hervor und schaute Zurek gierig in die Augen.
„Es hat funktioniert.“
„Und das ist das Ergebnis?“ Jana zeigte in Richtung Labor.
Zurek nickte. „Wir haben das UCI in den Kernraum gestellt, das ist die Halle, in der sich die Essenz befindet“, sagte Zurek. „Der Raum lässt sich mit einem Schott vom Laborraum, den Sie gesehen haben, abtrennen. Wolfram wählte sich selbst zu demjenigen, der versuchen sollte, über das UCI mit der Essenz in Verbindung zu treten. Das war wahrscheinlich keine weise Entscheidung. Aber als Geldgeber darf er so ein Privileg in Anspruch nehmen, wer könnte es ihm verweigern?“
„Und?“
„Wolfram ließ sich mit der Essenz und dem UCI in den Kernraum sperren. Das UCI wurde aktiviert, die Naniten strömten aus. Es dauerte aber eine Weile, bis etwas geschah. Wolfram stellte Fragen: ‚Was bist du?’, ‚Hast du ein Bewusstsein?’, 'Was ist die dunkle Energie' und so weiter. Doch es kam nichts zurück. Wolfram wurde mit jeder unbeantworteten Frage ungeduldiger und stellte die Fragen immer lauter. Er ist nicht der Mann, dem auf Fragen nicht geantwortet wird, er nahm das Schweigen der Essenz als eine Art Insubordination. So ging das minutenlang. Und dann passierte etwas höchst Merkwürdiges.“
Er beugte sich Jana entgegen und sah ihr eindringlich wie ein Hypnotiseur in die Augen.
„Alle, die im Labor versammelt waren, ungefähr zwanzig Leute, alles nüchterne, sachliche Wissenschaftler schienen nervös zu werden. Pressten die Lippen zusammen, ballten die Fäuste und schüttelten die Köpfe als ärgerten sie sich. Ich selbst spürte Wut in mir aufsteigen. Wut auf Wolfram: ich hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen. Aber auch Wut auf die Essenz, die sich so stur stellte.“
„Das ist in der Tat merkwürdig.“
„Es wird noch gespenstischer, Jana. Wolframs Wut steigerte sich immer weiter. Zuletzt brüllte er: ‚Warum verdammt noch mal gibst du uns nichts preis?’ Er stieß das heraus wie einen Urschrei. Dann packte er ein Kästchen mit Feinwerkzeug, das neben ihm auf einer Werkbank lag, lief in Richtung Essenz, holte weit aus und schmiss es mit wildem Kriegsgebrüll auf den Bildschirm, auf dem diese Ansammlung von Rubidium Atomen zu sehen war.“
Jana saß jetzt mit offenem Mund da. Sie war gespannt wie ein kleines Mädchen, dem die Oma ein Märchen vorlas. Zurek konnte gut erzählen, fand sie. Er war als Multitalent bekannt. Angeblich war er ein mehr als passabler Schauspieler und Geiger.
„Das Kästchen prallte vom Bildschirm ab wie von einer Gummiwand - verdammt robustes Material, alle Achtung. Zunächst schien gar nichts passiert zu sein. Die Essenz formierte sich für einen Augenblick zu einer pechschwarzen Kugel, die von roten Schlieren durchflossen wurde, die aussahen wie Bäche von Blut. Ich spürte, wie sich eine emotionale Spannung im Labor aufbaute. Und ich fühlte, dass die Ursache dafür die Essenz war. Als ob sie unsere Gefühle irgendwie spiegelte und zu uns zurückwarf, sodass eine Art Teufelskreislauf entstand: die Wut schaukelte sich zwischen uns und der Essenz auf.“
Jana staunte. Hatte Branko Zurek, genialer Physiker und aktenkundiger Verächter jeglichen metaphysischen Humbugs gerade einer Ansammlung von Rubidium-Atomen die Fähigkeit zugesprochen, Gefühle wiederzuspiegeln? Sie setzte ein ungläubiges Grinsen auf.
„Und irgendwann ist eure Essenz sozusagen vor Wut explodiert und hat das ganze Labor verwüstet?“, fragte sie mit sarkastischem Unterton.
„Fast erraten“, antwortete Zurek, ohne mit der Wimper zu zucken. Alle im Labor wurden binnen Sekunden unsäglich wütend. Wie ein Mob fingen wir an im Labor zu marodieren. Wie eine Horde Jugendlicher, die in den Ghettos Hovers anzünden, rannten wir schreiend umher, schmissen Gerüste um, zogen Stecker heraus, warfen Diagnoseeinheiten in Laserresonatoren, und und und. Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis wenige Minuten vor Ihrer Ankunft. Wir haben uns gerade erst wieder gefangen.
Jana lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und setzte ihren professionellen Skepsis-Blick auf.
„Ich dachte, das Labor war durch das Schott von der Essenz abgeschirmt. Wie soll sie denn auf die Menschen im Labor eingewirkt haben? Per Telepathie?“
Zurek schüttelte den Kopf. „Ich denke, es waren die Naniten des UCI. Das Schott und der Kryostat, in dem sich die Essenz befindet werden von einer neu entwickelten Tech-Membran abgedichtet. Sie ist einer Zellmembran nachempfunden, dichtet also ungemein gut ab. Sie enthält Nanoventile, die nur bestimmte Stoffe durchlassen und das nur auf Befehl. Wie bei einer Biomembran, die ebenfalls nur ausgewählte Teilchen durchlässt. Wir haben übersehen, dass die Naniten dafür gebaut worden sind, biologische Barrieren zu überwinden. Sie sind schließlich in der Lage, ins Gehirn einzudringen. Offenbar haben diese winzigen Roboter mit ihren Nano-Werkzeugen einen Weg gefunden, die Tech-Membran aufzubohren. Sie sind durch die Membran geschlüpft und weiter in unser aller Gehirne. Wir hingen quasi alle am UCI. Wahrscheinlich hat die Essenz nachgeholfen, indem sie jene Naniten, die in ihr Inneres eingedrungen sind, kopiert, vermehrt und sie wieder aus sich herausgeschleudert hat. Damit war die Konzentration dieser winzigen Maschinchen hoch genug für uns alle. Das ist etwas, das ich gerne erforschen möchte. Eine wirklich sehr spannende Frage. Wir haben es mit etwas völlig Neuem zu tun, Jana.“


Janas Neugier war jetzt unbezähmbar.
„Ich will mit der Essenz in Kontakt treten“, forderte sie.
„Kommt nicht in Frage. Wir haben das UCI entfernt. Bis auf weiteres bleibt die Essenz von jedem menschlichen Wesen abgeschirmt.“
„Keine Angst, ich werde die Essenz nicht provozieren. Außerdem kann sich die gesamte Besatzung in weiter entfernte Räume zurückziehen. Dann ist das Risiko geringer, dass die Naniten in ihre Gehirne eindringen.“
Zurek presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Sie musste also andere Saiten aufziehen, dachte Jana.
„Wenn Sie mich nicht reinlassen, werde ich der Welt wohl erzählen müssen, dass Sie hier etwas verbergen. Wer sagt denn, dass das stimmt, was Sie mir gerade aufgetischt haben? Womöglich haben Sie die Essenz zerstört und das wollen Sie jetzt mit ihrer aberwitzigen Story verschleiern. Branko, ich will einen Beweis.“
„Einen Beweis hätten Sie erst, wenn Sie die Essenz mit einer starken Emotion zu einer Reaktion bringen. Denken Sie, dass Sie eine solche Emotion gerade haben?
Jana begann jetzt zu grinsen und nickte.
„Ja, die habe ich, allerdings“, sagte sie.


***


Lange würden sie die Öffentlichkeit nicht mehr hinhalten können. Freds Ungeduld stieg langsam ins Unermessliche. Er sah sich schon tobend durch die Labore schwadronieren, unschuldige Post-Docs anschreien und Schreibtische umschmeißen. In der Regel konnte er seine Wut bezähmen, doch wenn ihn das Gefühl übermannte, trotz seiner Genialität ohnmächtig und zudem von Inkompetenz umzingelt zu sein, aus seiner Perspektive wenig begabten Leuten, die Probleme nicht lösen konnten, brach sie sich früher oder später unweigerlich Bahn.
Sein Assistent Thorben konnte ein Lied davon singen. Fred hatte vor etwa zehn Jahren auf seinen Versuchsaufbau mit einem Tae-Kwon-Do-ähnlichen Fußtritt eingeschlagen. Der Grund: Jane Magers Team war seinem eigenen mit der Demonstration einer Quanten-Datenbanksuche zuvorgekommen. Es dauerte Monate bis das Experiment wieder lief. In dieser Zeit hatte sich auch noch das Team um Joseph Johnson mit einer Datensuch-Demonstration vor sie geschoben. Zum Glück waren die Gelder für BQS zu diesem Zeitpunkt schon freigegeben gewesen.
Fred konnte es einfach nicht ertragen, nur der Zweite zu sein. Seine Konzentrationsfähigkeit war schwer überbietbar und seine Arbeitseffizienz legendär – solange das Rennen um wissenschaftliche Lorbeeren offen war. Sobald er aber von Konkurrenten überholt, oder, wie in diesem Fall, er durch Unvorhergesehenes von seinem verdienten Triumphmarsch durch die Reihen der Scientific Community abgehalten wurde, brach sich der Choleriker in ihm freie Bahn.
Das Objekt seiner Wut war im Moment Thorben. Er recherchierte gerade, wo die Essenz war, mit anderen Worten, wo Wolfram sie versteckte. Außer seiner Journalistin hatte er aber kaum einen Ansatzpunkt. Aber diese Schreiberin war wie vom Erdboden verschluckt. Er erreichte sie auf keinem der üblichen Kanäle – und auch nicht über die unüblichen. Die Quests der Journalisten, der neugierigen Kollegen und der Politiker kamen nun im Sekundentakt auf sein Workwindow. Der Druck, den der Forschungsminister auf ihn ausübte wuchs. Urban hatte politisch auf das Projekt gesetzt. Sollte es scheitern, würde der Ministerpräsident ihn austauschen. Spätestens morgen würde Fred vor die Pressegeier treten und sein Scheitern eingestehen müssen.


Die rabenschwarze Wishflex glitt lautlos zur Seite und Thorben stürmte mit aufgerissenen Augen herein.
„Sie hat mir geschrieben“, sagte er.
„Wer?“ bellte Fred.
„Na, Jana natürlich.“
Fred sprang auf wie eine gespannte Feder, deren Sperre gelöst worden war.
„Und? Wo ist sie?“
„Du wirst es nicht glauben.“
„Es gibt kaum noch etwas, was ich nicht glaube.“
„Sie ist elftausend Meter unter dem Meeresspiegel, im Marianengraben.“
„Bitte, wo ist sie?“, fragte Fred und ließ sich in den Sessel zurückfallen.
„In Wolframs Unterseelabor.“ Thorben machte eine seiner vermaledeiten rhetorischen Pausen. Er hätte Politiker werden können.
„Dort wo die Essenz gerade ist.“ Schon wieder eine Kunstpause. „Zumindest teilweise.“
Fred hatte bei dem Wort „Essenz“ seinen Oberkörper aufgerichtet.
„Teilweise?“
„Ja, teilweise“, antwortete Thorben. „Ich lese dir am besten die wichtigen Stellen ihres Briefes vor“, sagte er, holte ein Blatt Papier aus seiner Gesäßtasche, entfaltete es und las:


„... Als das Tor sich hinter mir schloss, war ich mit der Essenz allein. Ich starrte sie auf dem Bildschirm an. Zurek hatte recht gehabt: die Essenz sah aus wie das brodelnde Innere eines Vulkans. Das reine Chaos. Keine Gestalt, sie weckte nicht einmal Assoziationen wie Wolken es tun, da war keine eindeutige Farbe. Sie kam mir vor wie ein formloses Nichts.
Aber da war sehr wohl etwas, und das sollte ich gleich zu spüren bekommen. Du wirst gleich verstehen, warum ich dir von der sexuellen Begegnung mit Jürgen berichtet habe.
Der multiple Orgasmus perlte noch in mir. Selbst dieser einzigartige Anblick schaffte es nicht, den Gedanken daran ganz zu verdrängen. Da war immer noch ein Kribbeln in meinem Bauch wie wie es ein junges Mädchen wahrscheinlich haben würde, wenn sie von Lorenzo Pauli persönlich ins Ohr geflüstert bekommt, sie sehe Julia Porkowitz zum Verwechseln ähnlich. Plötzlich formte sich die Essenz zu einer Kugel und wurde pechschwarz. Dann sah ich knallrot leuchtende Pünktchen über die Oberfläche der Kugel schwirren. Sie stoben auseinander wie die Leuchtkörper eines Feuerwerks, ausgehend von vielen winzigen Explosionen, sie perlten über die Oberfläche wie die Bläschen in einem Schaumwein. Und sie wurden immer mehr, vermehrten sich wie Bazillen auf einem frischen Nährboden.
Parallel dazu, als wäre die Essenz ein Sender und ich der Empfänger, verstärkte sich wieder das Kribbeln in meinem Bauch. Erst ganz langsam, dann aber geradezu explosiv, als würde einer vorher ausgiebig geschüttelten Champagnerflasche der Kopf abgeschlagen. Selbst meine im Beschreiben geübten Hirnwindungen bringen in diesem Moment keine Worte hervor, die nur annähernd ausdrücken könnten was ich dann fühlte. Ich hatte eine halbe Stunde zuvor verdammt guten Sex gehabt. Aber selbst der kam mir vor, wie ein Lagerfeuer im Vergleich zum Ausbruch des Vesuvs im vorletzten Jahr. Ich schrie wie am Spieß. Es war ein Mittelding aus grausamer Folter und überbordender Lust.
Naja, Thorben, wenn du nicht schon auf Jürgen neidisch warst, dann wirst du es jetzt wahrscheinlich auf die Essenz sein. Und wenn ich zu euch in den Berg komme, dann natürlich, um dich zu sehen. Aber wahrscheinlich werde ich um ein Tete a tete mit der Essenz bitten :-)
Die Essenz. Sie ist wie ein Geist, Thorben. Ohne erkennbare physikalische Eigenschaften. Sie hat quasi keine materielle Existenz. Und trotzdem – wie soll ich es ausdrücken? – lebt sie. Ich habe nochmal mit Zurek darüber gesprochen. Wir glauben, dass das Leben der einzige gemeinsame Nenner aller Universen ist. Es ist demnach das Leben selbst, das da im Labor schwebt. Merkwürdig ist nur, dass die Essenz bislang keine feinere Regungen wie Sympathie, Freude oder Trauer gezeigt hat. Aber vielleicht tut sie das ja noch.
Für euch Naturwissenschaftler ist das keine sonderlich gute Nachricht. Das bedeutet nämlich, soweit mein beschränkter Verstand das begreift, dass das Leben nicht davon abhängt, woraus die Körper bestehen, die es bewohnt. Ob es Atome, Elektronen, Quarks oder was auch immer sind, ist völlig schnuppe. Die fundamentalen Gesetze der Physik, die Naturkonstanten, die grundlegenden Kräfte in der Natur, die ihr so verkrampft verstehen wollt, als handle es sich dabei um den heiligen Gral aller Weisheit, sind nur ein Sonderfall unseres Universums. Mit euren Teilchenbeschleunigern und euren Quantencomputern erreicht ihr gar nichts. Wenn ihr Teilchen mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander schießt, ist das, als ob ihr verstehen wolltet, was ein Haus ist, indem ihr einen Klinkerstein zertrümmert, oder was ein Segelschiff ist, indem ihr eine Planke zerhackt. Ihr habt nicht die Spur einer Chance, das Multiversum zu begreifen, geschweige denn zu verstehen, was Leben ist.
Auch abstrakte Konzepte wie Energie scheinen dem Multiversum viel zu konkret zu sein. Vielleicht gibt es sowas wie Energie in ein paar Tausend oder Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Universen, meint Zurek. Jedenfalls gibt es sie nicht in allen und darum sagt uns die Essenz darüber gar nichts.
Du kannst dir vorstellen, dass Wolfram nach dieser Erkenntnis sein Interesse an der Essenz schlagartig verlor, wie ein kleiner Junge an einem Spielzeughover, dessen er überdrüssig geworden ist.
Ich sitze hier an einem großen Bullauge. Die Laser-Uplink-Repeater blinken gerade wie eine Landebahnmarkierung. Wolfram sendet euch die Essenz mit Dank zurück. Sie dürfte in ein paar Stunden vollständig in eurem Labor angekommen sein. Sollt ihr euch mit ihr vergnügen, meinte Wolfram nur.
Ulrike Ehrlicher ist gerade mit dem UCI unterwegs zu euch. Dieses geniale Gerät ist das einzige, womit man mit der Essenz in Kontakt treten kann. Ihr müsst nur eine wirklich dichte, Abschirmung verwenden, damit die Naniten im Labor bleiben. Aber dazu wird euch Ulrike Ehrlicher genauere Informationen geben.
Ich habe vor diesem Brief meinen Bericht an World Stories geschickt. Er dürfte in ein paar Stunden erscheinen. Bitte behaltet so lange Stillschweigen.


Viel Spaß mit der Essenz wünscht Dir
Deine Jana


Fred lächelte süffisant, nachdem Thorben das Blatt hatte sinken lassen und ihn ansah.
„Ich finde es amüsant, wenn solche Schreiberlinge herumphilosophieren. Wenn deine Jana so schlau ist, warum trägt sie dann keinen Nobelpreis?“
„Naja, das klingt für mich durchaus plausibel. Außerdem denkt Zurek genauso.“
Fred verzog die Lippen zu einem gequälten Grinsen. „Zurek“, sagte er abschätzig. Dessen einseitige Quantenteleportation beeindruckte ihn zwar, wie er sich widerwillig eingestand. Aber er, Fred Cubert, war es gewesen, der die Essenz geschaffen hat. Und dank ihr würde er nun zu den größten Forschern des Jahrhunderts aufsteigen.
„Wir werden der Essenz Wissen entlocken, Thorben. Wissen, verstehst du? Keine philosophischen Spekulationen.“




***


In Freds Kopf schwirrten die Gedanken umher wie ein aufgescheuchter Schwarm Spatzen. Jede Kontrolle über seine Hirnwindungen war ihm entglitten. Dieses....Ding.... schaffte es, seinen kristallklaren Verstand zu trüben und ihn in den geistigen Zustand eines Betrunkenen zu versetzen. Er musste sich zusammenreißen, um nicht wütend zu werden, obwohl er – auf dringende Empfehlung Thorbens – zuvor einen Tranquilizer genommen hat. Dem Beispiel Wolframs wollte er auf keinen Fall folgen.
Er versuchte, sich zu konzentrieren. Trotz des gestaltlosen Chaos vor seinen Augen gewann er nach und nach seine Klarheit wieder. Er versuchte nicht mehr, etwas in der Essenz zu erkennen, sondern mit ihr in kommunikativen Kontakt zu treten. Es ist nichts anderes, was wir Physiker sonst auch tun, dachte er. Wir stellen mit unseren Experimenten der Natur Fragen. Und genau das hatte er nur vor. Er betrachtete die Essenz als sein Experiment. Als ein Mittel, der Natur, genauer gesagt: dem Multiversum, Fragen zu stellen. Dank des UCI konnte er das nun tun. Diese Essenz würde keine Macht über ihn gewinnen. Über den von Gewinnsucht zerfressenen Wolfram hatte sie es gekonnt und auch über diese sexbesessene Journalistin. Sie waren Opfer ihrer animalischen Gier geworden. Aber er, Fred Cubert, war ein anderes Kaliber, ein großer Mann der Wissenschaft, ein mächtiger Geist. Er würde diesem Ding Wissen entreißen und damit Wissenschaftsgeschichte schreiben. Er hatte damit bis spät in die Nacht gewartet. Er wollte mit der Essenz allein sein, ihr Antworten entlocken, die er dann am nächsten Tag seinen staunenden Kollegen vorlegen konnte.
„Ich bin Forscher“, sagte er laut. „Und du bestehst aus zehn Tonnen Rubidium. Du bist ein Experiment, mein Experiment. Du bist die Klaviatur, auf der ich spiele. Und du wirst nun meine Fragen beantworten. Verstanden?“
Nichts geschah. Sekundenlang. Dann hatte Fred plötzlich das merkwürdige Gefühl, dass Ameisen durch das Innere seines Schädels krabbelten. Er spürte eine fremde Präsenz in sich erblühen, als ob ein in seinem Gehirn implantierter Prozessor mit unbekannter Software hochfahren würde und die Verbindung zu seinen Neuronen herstellte.
„Du denkst, du bist der Größte, was?“, sagte eine Bassstimme, die so dröhnend tief war als nutze sie das gesamte Monte-Rosa-Massiv als Resonanzraum.
„Was bist du?“ entgegnete Fred.
„Ich bin das, was dir gleich etwas zeigen wird“, kam die prompte Antwort.
„Richtig, du wirst mir die Dinge zeigen, von denen ich verlange, dass du sie mir....“. Fred brach mitten im Satz ab. Neben sich sah er eine Tor aus massivem Eichenholz, von einem runden Sandsteinbogen eingefasst. Im rechten Flügel befand sich eine Tür, ebenfalls aus Massivholz, die offen stand.
„Geh durch die Tür“, befahl der Bass.
„Aber...“
„Geh durch die Tür, oder ich werde den Kontakt mit dir für immer abbrechen. Die Lorbeeren werden dann andere einsammeln.“
Fred presste die Lippen aufeinander und atmete scharf aus. Dann trat er, die Fäuste geballt, durch die Tür und erschrak.
Vor sich sah er eine Gruppe von etwa zehn Männern, die aussahen als seien sie ein aus verschiedenen Ländern und Kulturen, ja verschiedenen Zeiten zusammengewürfelter Haufen. Er sah einen Handwerker, wahrscheinlich einen Schmied, denn er trug eine grobe Lederschürze und ein blau-weiß-kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Sein schwitzendes Gesicht füllte ein wirrer schwarzer Vollbart aus. Neben dem Schmied stand ein Polizist mit einer merkwürdigen hellroten Uniform, an dessen Schirmmütze ein fluoreszierender Stern hing. In seiner Hand trug er etwas, das Fred an die Strahlenwaffen aus Raumschiff Enterprise erinnerte. Ein weiterer Mann fiel ihm auf, denn er sah aus wie ein Obdachloser. Er kauerte am Boden, trug zerschlissene Kleidung und hatte eine Schnapsflasche in der Hand. Sein Nachbar, ein feiner Pinkel, mit steifem Anzug und Zylinder, der aussah als komme er gerade aus einen Gentlemen’s Club des Londons des 19. Jahrhunderts, sah voller Ekel auf den Penner herab. Neben dem Dandy sah Fred einen Mann, der offenbar eine Art kybernetisches Exoskelett trug, unter dem sich spindeldürre Gliedmaßen abzeichneten. Aber selbst dieser abgemagerte Mensch zeigte fast die gleichen Gesichtszüge wie alle anderen Männer.
Es war eine Physiognomie, die Fred sehr gut kannte. Die er schon sehr oft in seinem Leben stolz angelächelt hatte und die immer prompt zurück lächelte, und zwar allmorgendlich aus dem Spiegel in seinem Bad. Die Züge dieser Männer, das waren die Züge von Fred Cubert. Alle diese Männer trugen sein Gesicht.
Die Fred Cuberts, die unterschiedlicher kaum sein konnten und sich dennoch aufs Haar glichen, standen herum wie an einer Bushaltestelle. Offenbar langweilten sie sich, und wollten wo anders sein. Manche bemerkten den Neuankömmling, sahen ihn kurz an und wendeten sich wieder ab, wie sich Wartende in einer Arztpraxis wieder abwenden, nachdem sie einen ins Wartezimmer Eintretenden kurz gemustert haben.
„Was...was ist das?“ stammelte Fred. „Wer sind diese Männer?“
„Das bist du, Fred“, dröhnte die Essenz.
„Was gaukelst du mir hier vor, verdammt nochmal?“
„Ich gaukle dir nichts vor. Ich bediene mich aus dem Fundus dessen, was eure Simulation ergeben hat. Das was ich dir zeige, mag nicht real sein. Aber es ist das Ergebnis einer sehr realitätsnahen Simulation des Multiversums. Wenn ich dir sagen könnte, was diese wissenschaftlichen Konzepte wie diese 'dunkle Energie', nach der mich Wolfram gefragt hat, bedeuten, dann würdest du mir mehr Glaubwürdigkeit zugestehen. Das ist sehr inkonsequent, Fred.“
Fred stand jetzt mit offenem Mund da.
„Was willst du damit demonstrieren?“
Es kam keine Antwort. Stattdessen spürte Fred ein Kribbeln in den Füßen und ein Zucken ging durch seinen Körper, so wie er es von Träumen kannte, in denen man stolperte und der Körper tatsächlich darauf reagierte. Im nächsten Moment spürte er, dass er abhob. Verdammt noch mal, er begann zu schweben! Er stieg weiter auf und war nun schon etwa einen Meter über dem Boden, wie er durch einen Blick auf denselben feststellte. Als er auf zwei Meter gestiegen war schaute er wieder zu den Fred Cuberts.
Diesmal erschrak er noch mehr als beim Durchtritt durch die Tür. Nicht nur, weil er gewahr wurde, dass er sich offenbar in einem riesigen Raum befand. Er sah keine Wände und keine Decke. Dass der Raum gigantisch sein musste, war nur erkennbar durch die Masse an Menschen, die offenbar in ihm Platz fand. Er sah nun über die erste Reihe von Fred Cuberts, die er beim Eintreten als erste gesehen hatte hinweg. Was er erblickte, war ein Meer, nein: ein Ozean von Menschen. Genauer gesagt: es war ein Ozean von Frank Cuberts. Denn alle Männer trugen, soweit er erkennen konnte, sein Gesicht. Es war ein bunter Haufen von Spiegelbildern seiner selbst in Arztkitteln, in mittelalterlicher Gewandung, in Trainingsanzügen, in steinzeitlicher Fellkleidung, mit und ohne Bärte, mit und ohne Brillen, mit und ohne Krawatten. Fred Cuberts, soweit das Auge reichte.
Der Menschenozean verlor sich irgendwo in weiter Ferne. Die Masse auf dem Petersplatz beim Urbi et Orbi des Papstes wirkte dagegen wie eine mäßig besuchte Vereinsversammlung im Hinterzimmer einer Gastwirtschaft.
Das Schweben ging in einen Flug über. Fred wurde beschleunigt und flog nun über das Fred-Cubert-Meer hinweg. Fred bekam eine Gänsehaut, denn der Flug wurde nach wenigen Minuten sehr schnell – verdammt schnell. Er fühlte sich wie ein Düsenjäger. Noch konnte er erkennen, dass es Menschen waren über die er flog. Doch die Menge an Köpfen verschwomm immer mehr zu einem unscharfen Flimmern aus bunten Farbtropfen. Er musste sich nun wesentlich schneller bewegen als ein Düsenjäger. Er flog und flog, Minuten, eine halbe Stunde, eine Stunde und noch länger. Dann wurde er langsam gebremst. Aus dem bunten Rauschen wurden wieder Köpfe, dann erkannte er, dass es immer noch Frank Cuberts waren über die er flog. Schließlich kam er an das andere Ufer des Menschenozeans. Er kam zum Stehen und wurde vor einem Tor, das dem, das er schon kannte aufs Haar glich, abgesetzt.
Fred schwitzte. Er fühlte sich gleichzeitig erregt und niedergeschlagen. Wie nach einem Alptraum mit Monstern, in dem er aber außergewöhnliche Fähigkeiten gehabt hatte, die ihn im normalen Leben fehlten.
„Ich wollte dir einen Eindruck von der Größe des Multiversums vermitteln, genauer gesagt, von der Größe des Omniversums, in das es eingebettet ist“, sagte der Bass – nun etwas sanfter als vorher, eher wie ein Bariton. „Weißt du, Fred, in Zahlen, unter denen du dir etwas vorstellen könntest, lässt es sich nicht fassen.“
Fred nickte nur.
„Übrigens: unter deinen anderen Ichs gibt es etliche erfolgreiche Wissenschaftler. Darunter sind auch ein paar Nobelpreisträger, 517239 um genau zu sein. Allerdings gibt es 634788 Thorben Kleinschmidts, die den Nobelpreis haben und 1207346 Branko Zureks. Sie haben also die Nase etwas vorne.“
Fred seufzte.
„Du kannst jetzt gehen.“


Fred trat durch die Tür und fand sich im Labor wieder, genau dort wo seine unheimliche Reise begonnen hatte.
Er ging langsam zu seinem Büro. Auf dem Weg kam ihm Frieda Steinbach aufgeregt entgegen. „Fred, es tut mir wahnsinnig leid“, begann sie. „Ich möchte dich eigentlich nicht damit behelligen. Aber das Vakuum-Leck ist wieder aufgebrochen. Es ist keiner mehr da, ich weiß mir nicht zu helfen.“
Fred legte die Hand auf Friedas Schulter.
„Schauen wir uns die Chose mal an“, sagte er sanft. „Zusammen werden wir das Kind schon schaukeln.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.07.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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