Mike Arnold

Der Starrende , Herbst 1939



Jeden Tag des Herbstes 1939 sah ich ihn am Fenster stehen. Scheinbar gedankenverloren sah er in die Ferne, als könne er, wenn er nur angestrengt schaute, seinen Sohn sehen, der in einem fernen Lande Menschen erschoss. Meine Schule lag genau seinem Haus gegenüber und manchmal, wenn wir bei dem forschen Herrn von Mühlensee die lateinische Sprache erlenen sollten, blickte ich hinüber zu dem Fenster mit den grauen  Vorhängen. Die Bäume hatten ihre Blätter noch nicht ganz abgelegt, so dass ich zwischen den rot und gelben Schemen des Vergehens nichts weiter erkennen konnte, als die unbewegten Vorhänge. 

Unbewegt waren auch die Gesichter der Menschen auf den Straßen meiner Heimatstadt. Unbewegt ihre Herzen, unbewegt ihre Münder. Stumm, wie gemalt, gingen sie zu Orten, an denen sie nicht sein wollten und versuchten zu vergessen, dass dort, wo der Mann am Fenster hinstarrte, Kugeln Menschenherzen zerfetzten, Familien zerstörten und junge Männer zu untragbaren Lasten machten.  Der Herbst war kalt und der Schnee kam früh in diesem Jahr.

Kurz vor Weihnachten sah ich nach oben und kein Gesichte blickte nach Osten. Leer und kalt lag der Tag vor mir, ohne den Herrscher des Sehens. Am Mittag fielen dicke, große Flocken vom Himmel und legten die kalte Stadt und die kalten Herzen eine weiße Decke um. Mitten im Deklinieren ging dort drüben ein Fenster auf und etwas fiel auf die Straße.  Das Fenster schloss sich wieder.

Nichts hielt mich auf meinem Stuhl und ich bat um einen Flurschein, um meine " Piefkeblase " zu leeren. Schnell warf ich mir den Schal aus meiner Tasche um und lief zu dem Haus des Starrenden hinüber. Im fast grauen Schnee lag ein Umschlag. Ich hob ihn auf und las. Das Oberkommando der Wehrmacht ... Der Tod hatte auch ihn gefunden, den, um den gestarrt und gehofft und gebetet und gelitten und geschrieben und geweint  wurde. So war der Winter nun ein wenig kälter und der Starrende war in sich und in seiner Trauer allein. Wie wir alle.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Mike Arnold).
Der Beitrag wurde von Mike Arnold auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.07.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Mike Arnold als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Der Fuchs von Michael Haeser



Der Fuchs auf der Suche nach dem kleinen Prinzen

Was ist aus dem Fuchs geworden, der im „Kleinen Prinzen“ die klugen und bekannten Worte geprägt hat: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“? In diesem Buch begleiten wir dieses kluge Tier auf seiner Suche nach seinem Freund und entdecken mit ihm weitere, wertvolle Gedanken über Freundschaft, Liebe und andere Dinge, die das Zusammenleben von Menschen und anderen Lebewesen prägen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Drama" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Mike Arnold

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der schönste Tag von Mike Arnold (Skurriles)
Abschiedsbrief einer fünfzehnjährigen von Rüdiger Nazar (Drama)
"Strg+Alt+Entf" von Johannes Schlögl (Science-Fiction)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen