Manfred Bieschke-Behm

Meine Tante Mercedes

 (Ich könnte dich lieben, wenn du mich lässt).
An einer eher unauffälligen Stelle der Wohnung von Marcus Weinbergers Wohnung hängt ein mit dunklen Ölfarben gemaltes Bild. Die Frau, die dort abgebildet ist, ist seine Tante Mercedes. Das Bild ist, sowohl in seiner Farbgebung, als auch was den Rahmen betrifft bescheiden. Die Farben sind durchweg dunkel gehalten. Nur das Gesicht der Tante hat eine gewisse Leuchtkraft. Die Tante trägt einen schwarzen Hut, der einem Zylinder gleicht. Gleichfalls schwarz ist der fast bodenlange Mantel, den die Tante vorne dezent anhebt, damit sie, so scheint es jedenfalls, weiter schnellen Schrittes vorwärts gegen kann. Dabei gibt sie den Blick auf den weißen Saum eines eventuell weißen Kleides frei. An den Füssen trägt sie schwarze nach vorne spitz zulaufende Stiefeletten. Über die rechte Schulter geworfen trägt sie einen dunkelbrauen Fuchsschwanz, den sie vorne mit der rechten Hand festhält und der sich auf dem Rücken nicht anschmiegt, weil das Gehtempo es nicht zulässt. zu Es entsteht das Gefühl, das der Fuchsschwanz hinter ihrem Rücken hin und her wippt. Der Blick der Tante lässt vermuten, dass sie sich beobachtet fühlt. Fühlt sie sich ertappt, aufgeschreckt, überrascht? Man könnte glaube, es gefällt ihr nicht, dass sie beobachtet wird. Wo geht sie Hin? Wo kommt sie her? Hierüber gibt das Bild keine Auskunft. Es scheint, dass sie gerade raschen Schrittes an einer dunklen Hauswand entlang geht. Vielleicht ist es auch ein unbeleuchtetes Schaufenster, das sie passiert. So genau lässt sich das nicht bestimmen. Die dunklen Bildfarben lassen, gewollt oder nicht gewollt, verschiedene Interpretationen zu.
Der von Marcus Weinberger gewählte Platz lässt es nicht zu, dass das Bild Tageslicht erhält. Dadurch erscheinen die Farben auf dem Bild noch dunkler, als sie ohnehin sind. Eigentlich wollte Marcus Weinberger das Bild überhaupt nicht aufhängen. Viel lieber hätte er es in eine Ecke zwischen Wohnzimmerschrank und Zimmerwand abgestellt, oder in den Keller verbannt. Irgendwann hatte er sich an den Anblick gewöhnt und musste sogar feststellen, dass das Bild eine große Anziehungskraft auf ihn ausübte. Das eine oder andere Mal ertappte er sich dabei wie er gedankenversunken vor dem Bild stand, es ansah und dabei so allerlei abenteuerliche Gedanken verfolgte.
Marcus Weinberger erinnert sich noch ganz genau, als sein Vater ihm das Gemälde, mit dem Abbild seiner Schwester Mercedes übergab. Der Vater bat darum dem Bild einen würdigen Platz zu geben. Er sieht noch heute seinen Vater, das Gemälde in beiden Händen haltend, durch die Wohnung laufen, um einen, wie er forderte, würdevollen Platz zu finden. „Du wirst den richtigen Platz finden“ mit diesem Satz beendete der Vater seinen Rundlauf in der Wohnung. ihm selbst war es nicht möglich den geeigneten Platz ausfindig zu machen. Deshalb übergab er seinem Sohn das Gemälde. Sehr würdevoll, als sei es ein staatstragender Akt. Um einen Familienkrach zu vermeiden, nahm Marcus Weinberger das Gemälde in Empfang und stellte es seitenverkehrt angelehnt an den Bücherschrank und meinte, sich um einen würdevollen Platz zu kümmern.  Dem Vater gefiel die Art wie das Gemälde abgestellt wurde nicht, aber er hielt es für besser, sich nicht zu äußern.
Weshalb der Vater das Bild seinem Sohn übergab, blieb für Marcus Weinberger lange ein Rätsel.  Erst nachdem sein Vater verstorben war, glaubte er zu wissen, was der Hintergrund für das Geschenk war. Der Vater wollte sich einfach sicher sein, dass das Bild mit seiner geliebten Schwester nach seinem Tot nicht einfach auf dem Sperrmüll landet, sondern der Familie erhalten bleibt.
Bei der Übergabe des Bildes und lange darüber hinaus hatte das Bild für Marcus Weinberger keine Bedeutung. Das war auch der Grund, dass er dem Wunsche seines Vaters nicht entsprechen konnte. Einen würdevollen Platz für das Bild gab es nicht.
Der Vater verstarb wenige Wochen nach der Bildübergabe und hinterließ diversen Schriftwechsel wie Briefe und Tagebuchaufzeichnungen. Gerade aus den Tagebuchaufzeichnungen erfuhr Marcus Weinberger einiges über seine Tante Mercedes. Sein angelesenes Wissen über die Tante hätte eigentlich gereicht, das Gemälde umzuhängen. Ihm eine würdevolle Umgebung zu geben. Dennoch lässt Marcus Weinberger das Bild dort hängen, wo er es damals aufgehangen hatte. Er findet, dass seine Tante einen Platz hat, wo sie unauffällig an seinem Leben teilnimmt.
Aus den Aufzeichnungen seines Vaters erfuhr Marcus Weinberger, dass Tante Mercedes 1898 in Paris geboren wurde. Weshalb sie in Frankreich zur Welt kam, konnte er nicht erfahren. Marcus Weinberger hoffte im Stillen, das er es bei seinem Forschungsdrang noch irgendwann erfahren würde. Sicher war es sich allerdings nicht. Vielleicht bleibt der Geburtsort ein ewiges Geheimnis.
Schon sehr früh, nämlich am Ende des 1. Weltkrieges wurde Tante Mercedes vom Rittmeister Robert Colpert geheiratet. Für beide war es die erste, die große Liebe. Eine Liebe die den Gräuel des Krieges vergessen ließ und die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft einschloss. Zunächst verlief alles so, wie sie sich ihre gemeinsame Zukunft vorgestellt hatten. Dem jungen Glück stand, bis auf den Krieg, nichts im Wege. Tante Mercedes und ihr Robert genossen ihre Zweisamkeit. Sie sprachen oft über die Zeit nach dem Krieg, wo alles noch viel schöner für Beide sein werde. Auch sprachen sie darüber wie es wohl ein wird wenn sie alt sind und sich an ihren Enkelkindern erfreuen würden.
Das gemeinsame Glück bekam einen Schatten, der länger und länger wurde. Der ersehnte Kinderwunsch stellte sich nicht ein. Robert Colpers kam mit dieser Situation weniger klar, als Mercedes. immer öfter kam Robert spät und angetrunken nach Hause. Im Rauschzustand machte er seiner Frau Vorwürfe, war jähzornig und unbeherrscht.
Eines Tage kam Robert überhaupt nicht mehr nach Hause. Sie erfuhr, dass sich Robert einer neuen Frau zugewandt hatte und wusste, dass das, das Ende ihre Ehe bedeutete. Nach gut drei Jahren Ehe folgte die Scheidung.
Tante Mercedes verstand die Welt nicht mehr und was noch schlimmer für sie war, ist die Tatsache, dass sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte. Was sie wusste, ist, dass sie Paris den Rücken kehren wollte und musste.
 
Paris - die Stadt der Liebe - hatte ihr kein Glück gebracht. Nur das Notwendigste packte sie zusammen und machte sich auf den Weg. Unter dem wenigen, das sie mitnahm, befand sich auch der erste Liebesbrief den Robert ihr geschrieben hatte. Der Brief endet mit dem Satz „Ich könnte Dich lieben, wenn Du mich lässt“. Diesen Brief hatte Mercedes bestimmt mehrere hundert Male gelesen und jedes Mal Tränen dabei vergossen. Selbst jetzt, wo alles vorbei war, die Liebe, die ehe, die Hoffnung, drückt sie diesen Brief an sich uns spürt, wie sie feuchte Augen bekommt.    
Irgendwie strandete Tante Mercedes in Berlin. Sie wusste, dass in Berlin ihr Bruder Konstantin lebte. Sie hoffte bei ihm Unterschlupf zu finden. Leider erfüllte sich ihr Wunsch nicht. Die Ehefrau ihres Bruders missfiel der Wunsch Mercedes Obdach zu gewähren und damit war sichergestellt, dass sie nicht bleiben konnte. Ihr Onkel hatte nicht das Durchsetzungsvermögen, dass notwendig gewesen wäre, um Mercedes da bleiben zu lassen.
Fremd in Berlin, ohne Bleibe fand sie Unterschlupf bei einem Kunstmaler, der im Berliner Scheunenviertel wohnte und arbeitete. Viele Stunden, manchmal ganze Tage verbrachte Mercedes in der berühmt-berüchtigten Gaststätte mit dem süffisanten Namen "Mulackritze" Stammgästen waren Schauspieler Persönlichkeiten aus dem kulturellen Leben Berlins, aber auch Personen aus der Berliner Unterwelt sowie Huren und Lebenskünstler. Tante Mercedes wurde hier sesshaft. Sie nannte die „Mulackritze“ einmal ihr spätes zu Hause.
In dieser Umgebung hatte Mercedes keine Chance ein normales Leben zu leben. Anfänglich fiel es ihr schwer, sich dem leichten Leben hinzugeben. Später war es Routine. Mercedes lebte für die Liebe und der Illusion, frei zu sein.
 
Der Malerfreundschaft ist es zu verdanken, dass Tante Mercedes gemalt und schlicht gerahmt bei Marcus Weinberger an der Wand hängt, und dem Nachlass seines Vaters ist es zu verdanken, dass Marcus Weinberger in das Leben seiner Tante eintauchen durfte. Dem fremden Betrachter des Gemäldes bleibt es überlassen, was er meint zu sehen, und was er glaubt, wie die Person gelebt hat.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.07.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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