Inge Offermann

Lichtblicke

„Was ist das Leben?
Es ist das Aufleuchten
eines Glühwürmchens“
in der Nacht.
Es ist der Hauch
eines Büffels im Winter.
Es ist der kleine Schatten,
der über das Gras huscht
und sich im Sonnenuntergang
verliert.“
 
Crowfoot, Häuptling der Blackfoot-Indianer (aus T.C. McLuhan „Wie der Hauch eines Büffels im Winter“)
 
 
Dezemberabend. Wind peitschte durch die Bäume. Sanfter Regenfall ging im übertönenden Rauschen des Baches fast unter. Föhn trug frischen Erdgeruch durch die Vorstadtstille. Licht und Schatten jagten einander.
 
Ich schloss die Glastür des Appartementkorridors hinter mir, steckte den Schlüssel in das metallene Schloss …
 
… ein Indianerbild mit Sonnenmotiv hing an meiner Wohnungstür.
 
Die feuchte Nebeldecke lüftete sich um das alte Bahnhofsgebäude, hinter dem der Wald schwieg. Eine Tür knarrte, Wärme strömte hinaus, Kälte hinein. Ein Mann saß gebeugt über einer Limonade. Sein gedämpftes Hallo spülte Traumwellen an meinen Strand. Diesem Hallo folgten übersprudelnde Begrüßungsworte einer Nymphe, die noch Regenspuren im Haar trug und viel zu erzählen hatte. Waren wir  beide Nymphe und Wassermann, die sich unter besonderen Umständen trafen?
 
Und sie waren wirklich besonders … vor sechs Jahren hatten wir uns als Brieffreunde kennengelernt und in einer Stadt nahe seinem Heimatdorf ein mehrmals getroffen, dann aus den Augen verloren, da er eine Freundin vor Ort kennenlernte. Zufällig besuchte ich im Herbst vor unserer Wiederbegegnung die Veranstaltung einer Dritte Weltgruppe und hinterließ meine Anschrift, da ich deren Treffen besuchen wollte. Nachdem ein Artikel von mir über diese Veranstaltung über Indianer in einer Fachzeitschrift erschienen war, hatte er diesen zufällig gelesen und meine aktuelle Anschrift vom Leiter der Veranstaltung und der Gruppe erfahren, so dass er jenes Indianerbild mit seiner Telefonnummer an meine Wohnungstür heftete und ich mich telefonisch zu diesem Treffen verabreden konnte.
 
Gleichmäßiger Regen schläferte mich ein. Im Traum sah ich den Perlenvorhang zwischen Küche und Wohnraum vor mir, er verdichtete sich zwischen Realität und Träumen verwandelte sich in einen perlenbestickte Schleier, der mich schützend einhüllte, durchwirkt von bunten Lichtern, die sich auch in braunen Augen spiegelten. Wind spielte mit gelocktem Haar. Dunkelheit erhellte sich zu Licht. Menschenstimmen vereinten sich zum Geräuschpegel, Farbtupfen zu Wogen, diesen entstiegen Körper, kamen auf mich zu, strömen an mir vorbei – ein Arm um mich, eine regensanfte Stimme … Hohe Bäume warfen lange Schatten, gepaart Licht. Bunte Blumenbeete reichten bis zu einer efeuumgrünten Mauer, durch die ein halboffenes Tor zu einem Fluss führte …
 
Träume von lichtdurchfluteten Bächen und blumigen Grasufern … ich fuhr mir über die Stirne, starrte mein dickes Federbett an. Jemand pfiff fröhlich. Ich schälte mich aus der warmen Decke und erblickte eine Zimmerdekoration aus Indianerbildern und duftenden, getrockneten Kräutern, deren Gestecke sich als zarte Silhouetten vor dem zartblauen Winterhimmel am Fenster abhoben. Dieses Zimmer in seinem Zuhause trug seine ganz persönliche Note. Er hatte mich über das Wochenende in seinen Heimatort eingeladen, wo wir er einen Vortrag über ein Indianerthema in einer Schule gehalten hatte und wir anschließend noch Pizza aßen, danach spielte er mir seine Indianerkassetten vor und zeigte mir Dias über seine Reisen auf Indianerreservate, bis ich müde wurde und er mir sein Zimmer überließ.
 
Nach ausgedehntem Frühstück entführte er mich in die Vorwinterlandschaft der Rheinniederung. Sonne beschien kahle Bäume, Frost glitzerte an Zweigen, auf Feldern und im Schilf, Krähen flogen träge durch die klare Luft. Die weißen, erdbraunen und winterblauen Farben dieses Dezembervormittags verzauberten mich, doch ich bestand auf einen bestimmten Zug, der mich aus diesem Winterreich in die Stadt zurückbrachte, da ich noch eine Verabredung mit Bekannten hatte …
 
Eine andere Morgenröte brach für uns an, nachdem uns Nachtwellen der Sympathie in meiner Wohnung berührt und uns an den Strand der Zuneigung gespült hatten. Wir teilten ein karges Frühstück mit Brot und Quark, bevor sich unsere Wege trennten und wir wieder unserem Alltagsleben nachgingen, er an die Universität, ich an meiner Arbeitsstelle.
 
Vor Weihnachten sahen wir uns montags nicht mehr in der Dritte Welt Gruppe. Ich hegte noch einige ungewisse Urlaubspläne, er wollte eventuell ein Wochenende in Heidelberg verbringen, wozu er mich einlud, doch die Weihnachtstage sowie die Jahreswende verliefen völlig anders. Sein Heidelbergwochenende zerschlug sich, ich fuhr zu meinen Eltern, er auch nach Hause. Vor Weihnachten telefonierten wir nochmals miteinander, er plante einen Winterurlaub in Wien, ich machte eine Rundreise von Oberstdorf über Berlin und zurück. Mindestens vier Wochen würden wir uns nicht mehr sehen. Ich wünschte ihm alles Gute für die Feiertage und die Jahreswende. Ob das neue Jahr zwischen uns so beginnen würde, wie das alte ausklang, daran zweifelte ich. Manchmal kommt alles anders im Leben, wie man denkt.
 
Tagelang fiel dichter Schnee nach meiner Ankunft vom Winterurlaub. Flocken schwebten vom grauen Himmel, bildeten einen Sternenvorhang. Frost zauberte Eisblumen an die Fenster. Danach folgte Inversionswetter mit kaltem Nebel. Ich rief ihn kurz an. Sein Wiener Urlaub war zufriedenstellend verlaufen, und er hatte nette Leute kennengelernt. Mehr erfuhr ich nicht von ihm.
 
Eines milden Abends Ende Januar schien er bei unserer Begegnung anlässlich eines Diavortrages im Nebenraum einer Gaststätte noch die gleiche Sympathie wie vor Wochen zu empfinden. Er umarmte mich herzlich. Wie ein Windstoß einen Funken zur Flamme anbläst, so durchströmte mich wieder jene Wärme. Ich hielt ihn fest inmitten von Menschen und die Zeit an, und wähnte mich seiner Gefühle sicher …
 
Hüttenwochenende unserer Dritten Weltgruppe in Hinterzarten. Nach und nach trudelten alle Teilnehmer in der sonnigen Winterlandschaft ein. Allgemeine Begrüßung . Er umarmte mich nicht. Ich dachte an meinen unruhigen Schlaf die Nacht zuvor und an ein ebensolches Gefühl …
 
Sonnenglanz, blauer Himmel, gemütlicher Abend mit Spielen, Gitarrenmusik und Glühwein, Sternenglanz und eine unsichtbare Mauer zwischen uns, auch wenn wir draußen am plätschernden Brunnentrog vor der Hüttentür saßen. Er blieb auf Distanz, behandelte andere Frauen herzlicher, lachte und scherzte mit ihnen. Sonntags fand eine Wanderung durch die sonnenfunkelnde Schneelandschaft zum Feldberg mit Einkehr statt, am Spätnachmittag fuhren wir getrennt von der Hütte ab …
 
Anfang Februar folgte ein zweites Hüttenwochenende mit Schnee, trübem Himmel, dafür windstillem Wetter. Das Highlight am Nachmittag bestand in der Errichtung eines Iglus. Manche Studenten unternahmen auch eine Schneewanderung, ich verbrachte die meiste Zeit in der warmen Hütte nachmittags mit Übersetzungen englischer Texte. Das bunte Abendprogramm bestand aus gemeinsamem Essen, Diashow, Besprechung von Dritte Welt-Themen, Unterhaltung, Spielen und Musizieren.
 
Er fehlte an diesem Samstag völlig und erschien erst am Abfahrtsmorgen in Begleitung anderer Studenten und einer mir unbekannten blonden Frau. Ich wartete, ob er auf mich zukam, was er auch tat, aber nicht einmal ein Händedruck folgte, nur eine kurze Begrüßung, was mich sehr enttäuschte. Insgeheim fragte ich mich, ob sein Verhalten etwas mit der mir unbekannten Begleiterin zu tun hatte. Auf seine höfliche Frage, wie es mir ginge, war meine Antwort trauriges Schweigen. Ich senkte den Kopf. Sein Tonfall schien mir nur höfliche Routine, ohne Gefühl, als sei ich ihm völlig gleichgültig. Auf der späteren Heimfahrt erfuhr ich von seinem Freund, dass seine Begleiterin aus Südamerika stamme, er sie während seines Wienaufenthaltes kennengelernt hatte und sie in wenigen Tagen in ihre Heimat zurückfliegen würde, eine Information, die mich vorübergehend tröstete.
 
Wochen verstrichen. Jeden Montag Treffen der Aktionsgruppe Dritte Welt an der Uni mit Hoffnung und Enttäuschung, seine Zuneigung zu finden. Mir erging es wie einer Frau, die im März den Frühling erwartet. Endlich - Pizzaessen nach dem Gruppenabend in der Uni. Bei Kerzenschein fragte er in der vertrauter gewordenen Runde, wer ihm anonym folgendes romantisches Gedicht über Liebe geschrieben habe.
 
Meine Liebe ist ein Condor
 
Meine Liebe ist ein Condor,
der mit breiten Schwingen
hoch über verschneiten
Andengipfeln schweift.
 
Meine Liebe ist der Himmel,
der sich über brauner Puna spannt,
sich im Wasser des Titicaca spiegelt.
 
Meine Liebe ist flüsterndes Schilf,
gleicht den Binsenbooten, die leicht
über das Wasser gleiten zwischen
schwimmenden Indiohütten.
 
Meine Liebe ist der Wind, der
über kurzes Andengras bläst,
braune Krume vor sich her trägt
und zarte Blütenblätter, welche
magere Sträucher schmücken.
 
Meine Liebe gleicht den Farben der Berge,
den rauen Felsen und weißen Blumen,
die schüchtern zum hohen Himmel äugen.
 
Meine Liebe wohnt in niederen Lehmhütten,
in den Steinen der Äcker, in den braunen,
sonnenverwitterten Gesichtern der Menschen
und im hellen Klang ihrer Kenaflöte.
 
Meine Liebe ist der Mond, der im See schwimmt,
gleicht den Sternen nächtlicher Weite.
Meine Liebe ist ein Land voll klarer Schönheit
und möchte deinem Herzen so nahe sein.
 
Verborgenes Erröten und befangenes Schweigen meinerseits mit innerlichem Herzklopfen. Ein rotes Tulpenblatt fiel auf den Tisch wie eine Botschaft der Sehnsucht, aber ich verriet mich nicht. Er kam leider nicht darauf, dass ich die Verfasserin dieser poetischen Zeilen war. Meine Träume suchten ihn, fanden ihn aber nicht.
 
Langwierige Rückfahrt nach einem mehrtägigen Wochenendseminar unserer Aktionsgruppe im Mai in Niedersachsen, an dem er leider nicht teilgenommen hatte. Löwenzahn vergoldete die Wiesen mit Tupfen. Die Bäume trugen junges Laub. Abends noch eine Veranstaltung der Gruppe mit Vortrag vor Ort und eine Nachbereitung des Treffens mit anschließendem gemütlichen Beisammensein im Liberalen Zentrum bei Essen und Wein. Ein Schleier fiel von meinen Augen. Die Nacht zuvor hatte ich geträumt, ihn wieder anzusprechen und zu fragen, ob er eine Freundin habe, und die Traumszene spielte sich dazu noch in einem ähnlichen Raum wie diesem ab. Ich sah meine Stunde gekommen, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Ich nahm mir Mut und stellte ihm dezente Fragen. Seine Antwort: „Ja, es gab eine Freundin, gibt sie noch. Sie lebt in Südamerika. Bald werde ich zur ihr fliegen. Doch Liebe ist grenzenlos, kann auf alle Menschen übergreifen. Kein Mensch gehört einem anderen alleine. Begleite mich heute Abend.“
 
Wieder befand ich mich in einem Raum mit Bündeln getrockneter Kräuter und Frühlingsblumensträußen aus Anemonen und Schaumkraut, Indianerbildern und indischen Tüchern. In jenem Studentenzimmer eines Wohnheims am Stadtrand lebte diese grenzenlose Liebe, die von ihm ausging und die Welt zu durchstrahlen schien wie die Reinheit des Quellwassers, das wir vorher am Waldrand auf dem Weg zu ihm getrunken hatten. Diesen Abend durchfloss uns beide vollkommene Liebe. Unsichtbare Mauern fielen und öffneten einen bunten Garten der Erfüllung. Unsere Seelen schwebten zu einem Glitzerstern der Träume.
 
Vor seinem Abflug trafen wir uns noch im Postamt, schlenderten durch die Fußgängerzone und setzten uns auf eine Bank unter einem alten Baum, der lange Nachmittagsschatten warf. In der Nähe plätscherte ein Brunnen, dessen Wasserlied wir entspannt lauschten. Ich erzählte ihm von meinem Urlaub in Kanada im Juni dieses Jahres, von Menschen, die ich dort getroffen hatte und er mir aus seinem Alltag und seinen Aktivitäten. Seine Augen richteten sich bei der Erwähnung seiner Freundin in verträumte Ferne, er sehnte das baldige Wiedersehen nach einem halben Jahr herbei, während mir wehmütig zumute wurde, denn gegen die Tiefe dieser Liebe wirkte unsere Romanze im Mai nur wie ein flüchtiger Augenblick, der schon lange zurücklag.
 
Den Sommer über traf ich mich weiterhin mit unserer Aktionsgruppe Dritte Welt, hatte dort auch ein paar Bekannte gefunden, jedoch keinen Menschen, dem ich so zugetan war wie ihm. Ich fand mich damit ab, dass er in der Ferne weilte, dort vielleicht sogar die Erfüllung seiner Träume erlebte und sich eine leuchtende Zukunft für ihn ergab. Mein sachlicher Arbeitsalltag als Sekretärin in der Firma drängte die Gefühle für ihn allmählich zurück. Ein kurzer Sommerurlaub bei einem Indianerseminar im Allgäu, die Begegnung mit neuen Menschen und die Beschäftigung mit kulturellen und esoterischen Themen sowie Verabredungen mit Bekannten in der Gegend lenkten mich ab. Langsam neigte sich der Sommer ohne ihn seinem Ende zu. Hielt ich mich nach der Arbeit in der Stadt auf, kam ich oft an der Universität vorbei, dachte an ihn, wie es ihm wohl in seinem Urlaubsland der Träume erging. Auf einmal sah ich ihn montags Ende August vor dem gewohnten Treffen in einer Telefonzelle. Freude durchschauerte mich, er war zurückgekehrt. Jetzt leuchtete die Spätsommersonne wieder in heiterem Gold für mich. In den ersten Wochen erschien er jedoch nur kurz zu den Gruppenabenden, erzählte allgemein von seinem Urlaub, erwähnte hingegen kaum die dortige Freundin, was mich sehr verwunderte. Hielt er sich mit diesem Thema aus persönlichen Gründen zurück oder war der Traum anders verlaufen, wie er ihn sich vor dem Hinflug ausgemalt hatte?
 
Im September besuchte er die Treffen häufiger, die Gruppe führte auch wieder einige Veranstaltungen in der Stadt durch, ich durfte auch bei den Büchertischen mitmachen, eine gute Gelegenheit, sich mit ihm zu unterhalten, jedoch blieb der Kontakt auf einer oberflächlichen Ebene. Mir fiel vor allem auf, dass er sich verhaltener gab wie vor dem Urlaub, für Sachthemen jederzeit offen, aber persönlichen Fragen wich er aus. Mit den blauen Tagen des Herbstes färbten sich die bewaldeten Hänge um die Stadt bunter, in den Gärten blühten Blumen wie Löwenmaul, Dahlien und Astern in satten Farben. Die leuchtenden Herbsttöne ließen mich wieder aufleben und die Hoffnung in mir, dass wir uns vielleicht doch noch einmal so nahekamen wie im Winter und Frühjahr.
 
Im Laufe des herbstbunten Oktobers planten wir eine Veranstaltung mit einer Indianerin und einer Aktivistin zum Thema Traditionen und Landrechte in einem bestimmten Gebiet in Nordamerika an der Universität, anschließend trafen wir uns in einer Torschänke in einem historischen Torturm zum gemeinsamen Abendessen. Zufällig saß ich neben ihm, ein vertrautes Gespräch entspann sich. Als ich kurz vor Mitternacht aufbrechen wollte, bat er mich, auf ihn zu warten. Wir nahmen unsere Fahrräder, fuhren durch ein mir unbekanntes, aber romantisches Viertel der Altstadt, dann am nebligen Fluss entlang, bis zu der Quelle im Stadtpark, von der wir wieder wie im Mai Wasser tranken und er eine bauchige Flasche füllte, anschließend entlang am Ufer über einen Bahnübergang bis zum dunklen Studentenwohnheim. Diesmal hingen keine getrockneten Blumen und Kräuter, sondern bunte Laubketten in seinem Zimmer, Collagen aus gepressten Blättern schmückten die Wände. Dort ließ er eine Kassette mit leiser Indianermusik laufen. Diese Nebelnacht gehörte uns, das Rauschen des nahen Flusses drang schwach durch das Fenster, während wir uns endlich in die Arme sanken.
 
Am Sonntagmorgen nach der Veranstaltung und unserer romantischen Nacht drückte er mir beim Käsefrühstück ein Tagebuch in die Hand und bat mich, bestimmte Auszüge für ihn abzutippen. Gerne tat ich ihm diesen Gefallen, denn ich hatte natürlich vor, dieses Tagebuch in Ruhe zu lesen, vielleicht offenbarte es mir Antworten auf meine langgehegten Fragen über die Hintergründe seines Sommeraufenthaltes in Südamerika. Nach dem Frühstück trennten sich unsere Wege, ich fuhr zuerst zu einer Freundin in einem nahegelegenen Kurort, er besuchte einen Freund. Abends nach der Heimkehr griff ich mir das Tagebuch und begann die Geschichte einer anderen, schöneren, auch tragischeren Liebe zu lesen – die Geschichte seines Lebenstraumes, der an der Auffassung seiner Traumfrau gescheitert war. Sie war im Grunde ihres Herzens sehr konventionell eingestellt, während er Spontanität und persönliche Freiheit liebte und sich gerne in der Natur aufhielt. Manche Orte hatten sie gemeinsam besucht, manche er alleine, er bereiste den Rand des Tropengürtels, fuhr mit dem Zug oder einem Bus durch weite Ebenen und besuchte auch Indianersiedlungen in den Anden. Der Teil der Reise, den er allein verbrachte, ermöglichte ihm auch, über die Beziehung nachzudenken und diese zu hinterfragen. Mit den Wochen bewältigte er seine Enttäuschung gefühlsmäßig und kam zu dem Schluss, dass es ihm und der Frau nichts brachte, sich wegen ihr zu verändern, zudem war sie zu kaum bereit, sich anzupassen.
 
Anfang November waren die gewünschten Tagebuchseiten abgetippt, ich überreichte sie ihm auf einem Abendkonzert. Konzentriert lauschte ich der Musik, war aber zugleich innerlich gespannt, ob wir uns nachher noch treffen würden. Dieser frostige Abend mit seinem Regenbogenmond war wie geschaffen für ein Rendezvous. Nach einem ausgiebigen Essen war es wieder soweit. Wir fuhren durch die kalte Nacht, während letztes Laub uns im Fahrtwind umtanzte, und wie goldene Falter im Straßenlicht aufleuchtete. Völlig durchgefroren trat ich am nächsten Morgen glücklich, aber durchfroren den langen Rückweg mit dem Rad direkt zur Arbeit an.
 
Der Winter warf seine nebligen Schatten voraus. Die Tage in der romantischen Studentenstadt waren gezählt, da in dem Betrieb, in dem ich tätig war, Stellen rationalisiert wurden, was auch mich betraf. Ein Umzug an einen anderen Ort stand bevor. Kurz vor Weihnachten sah ich einen Aushang, dass ein Winterfest in dem Studentenwohnheim, in dem er wohnte, stattfand. Ich rief ihn an, erreichte ihn auch. Der Abend begann verheißend. Guter Stimmung packte ich einen Trockenblumenkranz von der Wand, mein Abschiedsgeschenk für ihn, bevor ich wegzog und machte mich auf den Weg. Im Studentenwohnheim ging es lebhaft zu, aber nach einer Weile fand ich ihn in der Menge. Wir tranken, tanzten, plauderten, bis ich ihm später den Blumenkranz in seinem Zimmer überreichte. Diesmal leuchtete eine nächtliche Schneewelt vor dem Fenster, Sterne glitzerten am Himmel, und der Fluss sang uns sein romantisches Lied von einer zärtlichen Nacht, die noch lange in meinen Gedanken und Gefühle lebendig bleiben würde.
 
Die Zeit ließ uns träumen und erwachen wie zwei Reisende, die irgendwann ihren gemeinsamen Zug verlassen und auseinandergehen. Nie wurde ich seine Freundin, aber glückliche Stunden verbanden uns in wenigen persönlichen Begegnungen und ebenso die Gruppenabende als Insel der Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit, bis sich ihr Glanz im Licht der Zeit verlor.
 
© Inge Hornisch
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.08.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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