Emil Sommer

Karwoche

Sie trug ein Kleid aus blassblauem Leinen, das zu groß für sie wirkte. Es hing an Line Mulzheim wie auf einer der Vogelscheuchen in den angrenzenden Feldern der kleinen Siedlung. Die Nachbarin weinte, tupfte mit dem karierten Stofftaschentuch die Tränen aus den Augenwinkeln. „Er hat Krebs!“ Der folgende Weinkrampf schüttelte ihren schmächtigen Körper als hätte sie Parkinson.
Meine Mutter legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. „Was sagen die Ärzte?“
„Zwei, vielleicht drei Monate.“
Ich lief hinter die Hausecke. Ich hasste diese Gespräche. Meine Angst vor dem Tod war so groß, dass ich bereits fürchtete, er könnte ansteckend wie eine Infektionskrankheit sein. Erst vor einem Jahr war der Mann schräg gegenüber unserem Haus gestorben und jetzt lag auch Herr Mulzheim im Sterben. Umso schlimmer, dass sich der Gesundheitszustand meines Vaters in letzter Zeit ständig verschlechterte. Wenn der Arzt bei der Untersuchung am nächsten Tag ebenfalls diese schreckliche Krankheit bei ihm feststellte?
Ich wartete hinter dem Haus, bis Frau Mulzheim ging. Dann kehrte ich zu meinen Spielsachen zurück und sah noch, wie sie die hintere Ecke ihres Wohnhauses verschluckte. Nein, die Osterferien des Jahres 1968 waren nicht unbeschwert.
Zu Mittag gab es Kartoffelgulasch. Dabei schweifte mein Blick immer wieder verstohlen zum Vater. Ein kranker Mann, der nur mit Mühe aufrecht am Tisch saß. Er war abgemagert wie auf den Fotos, die ihn bei seiner Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft zeigten. Meine Gefühle fuhren auf einer wackligen Achterbahn. Ich war erst elf und trug die Last eines Erwachsenen, war mit meinen Sorgen überfordert. In diesen Tagen starb meine Kindheit.
Nach dem Essen ging ich wie jeden Tag bei schönem Wetter mit meinem Freund zum nahen Fluss. Für einige Stunden kehrte die Unbekümmertheit früherer Ferientage zurück. Wir suchten flache Steine, ließen sie wie übermütige Frösche übers Wasser springen, während vor unseren Gesichtern die Mückenschwärme in der warmen Frühlingsluft tanzten. An einem ausgetrockneten Nebenarm rissen wir saftige Zweige von den Silberpappeln und schlugen damit auf die dicht wuchernden Brennnesseln. Diese fielen wie Getreidehalme durch die Sense eines geübten Schnitters. Dabei fanden wir einen Schatz. Damals fast wertlos wäre er heute ein Vermögen wert. Jemand hatte einen Stoß Comics weggeworfen; unversehrte Micky Maus-Hefte aus den 50er Jahren. Ich freute mich auf die kommende Nacht, wo ich vor dem Einschlafen etliche Exemplare lesen würde. Die zahlreichen Stiche der Gelsen und Bremsen spürte ich kaum, nur ein vernachlässigbares leichtes Jucken auf der Haut.
Es war Zeit, dass wir die stromaufwärts gelegene alte Mühle besuchten. Sie hatte seit Jahren ausgedient, war eine Ruine. Ein kurzer Blick in das verfallene Gebäude, bevor wir unsere Beine am Ufer ausstreckten. Die Sonne glitzerte im ruhig dahinfließenden Fluss und wir waren Tom Sawyer und Huckleberry Finn, rauchten Zigaretten, die mein Freund seinem Vater entwendet hatte, bis uns speiübel wurde. Lagenso lange im Gras, bis die Landschaft sich nicht mehr wie ein Karussell drehte.
Keine Ahnung, warum ich auf dem Heimweg den Umweg über die Nebengasse machte! Hätte ich nur den kürzeren Weg genommen. Im hellblauen Leinenkleid jätete Frau Mulzheim im Garten Unkraut. Der Wind, der wie jedes Jahr um Ostern heftig blies, wehte ihr die seit kurzem ergrauten Haare ins Gesicht. Sie lächelte freundlich ohne eine Spur von Kummer. Mein Gruß ein verlegenes Flüstern.
„Warst spielen?“, fragte sie.
„Ja, unten am Fluss mit Gerhard.“
Ihr Mann saß im Gartensessel und sein Kopf ruhte auf der Brust. Einen Augenblick befürchtete ich, er sei tot. Er stöhnte und ich atmete erleichtert auf. Er waren die letzten Osterfeiertage seines Lebens.
„Braucht Mutter Eier?“
Ihre Frage kam unvermutet. „Äh, was?“, stammelte ich mit der gleichen Unruhe, wie wenn mir bei einer mündlichen Prüfung nicht die richtige Antwort einfiel.
„Eier – braucht Mutter welche?“, wiederholte Frau Mulzheim.
„Ich frag sie.“ Grußlos lief ich davon, stürzte in unsere Küche.
„Frau Mulzheim fragt, ob du … “Wortlos stand ich da, ein schwere Stein lag plötzlich auf meiner Brust. Vater schlief mit offenem Mund auf der gepolsterten Eckbank und dieser Anblick erinnerte mich zu sehr an den des Nachbarn.
„Was?“
Mutter berührte meine Schulter. „Was fragt Line?“
„Ob du Eier brauchst!“
„Sie ist im Garten?“
„Ja!“
„Wo hast ´n die her?“ Erst jetzt bemerkte sie die Hefte hinter meinem Rücken.
„Gefunden!“
Misstrauen lag in Mutters Gesicht. Verdächtige sie mich des Diebstahls? Nachdem ich ihr die Geschichte erzählte, entfuhr ihr ein erleichterter Seufzer.
Bevor sie zur Nachbarin ging, stellte Mutter das Abendessen auf den Tisch. Rahmgurken und gekochte Erdäpfel. Ich schaltete den Schwarz-Weiß-Fernseher ein, schaute eine neue Folge von ‚Bonanza‘. Banditen fingen Little Joe und Hoss und Adam machten sich auf den Weg, ihn zu befreien. Während der Schießerei erwachte Vater. "Wo ist Mutter?", fragte er.Sie ist bei der Line.“ Er setzte sich auf, aß eine Kartoffel und zwei Löffel Rahmgurken. Das war sein Abendessen. Ich starrte auf den Bildschirm. Tränen rollten über meine Wangen.
Jeden Karfreitag zu Mittag gab es bei uns Fisch. Während Vater beim Arzt war, ging ich zur kleinen Gemischtwaren-handlung neben der Dorfkapelle um ihn einzukaufen. Ich trat durch die offene Glastür und wartete. Der Hornik-Kaufmann fuchtelte wild mit beiden Armen, während er mit den Kundinnen den üblichen Dorftratsch austauschte. Die beiden Frauen waren so in das Gespräch vertieft, dass sie mich nicht wahrnahmen. Währenddessen blätterte ich im neuen Fix & Foxi-Heft.
„Dem Janosch Josef soll´s auch nicht gut gehen!“
Das Heft fiel mir aus der Hand. Diese Worte waren wie ein Messerstich ins Herz. Die hagere Frau mit dem hochgesteckten Haarknäuel redete über meinen Vater! Der Kaufmann machte mit einer Kopfbewegung auf mich aufmerksam und die Frau verstummte.
Meine Mundwinkel bebten vor Zorn über ihren herablassenden Blick und wegen ihrer verletzenden Worte. „Stimmt nicht!“, schrie ich.
„Geht es ihm besser?“ Ich gab ihr keine Antwort.
 
Gegen eins kamen sie vom Doktor. Es gibt Momente, da man fliehen, dem im Anmarsch befindlichen Unheil entwischen möchte. Es richtet ihren Giftpfeil auf uns und man spürt, dass einen das Schicksal treffen wird. Der Richterspruch des Hausarztes lautete: sofortige Einweisung ins Krankenhaus.
Zwei Stunden später halfen die Sanitäter Vater ins Rettungsauto. Durch die offene Tür sah ich die Tränen über sein Gesicht rollen. Der Boden unter meinen Füßen verflüssigte sich, ein Strudel zog mich in die Tiefe.
Am Karsamstag ging Mutter mit Frau Mulzheim, jede mit vollgepacktem Osterkorb, zur Speisesegnung bei der kleinen Kapelle. Wie hatte sich Vater jedes Jahr auf das Selchfleisch und das Osterbrot gefreut. Wir aßen schweigend und in bedrückter Stimmung.
Am Ostersonntag besuchten wir ihn. Er lugte müde über die bis zum Kinn hochgezogene Decke. In der Nacht war er am Dickdarm operiert worden. Das Sprechen fiel ihm schwer, immer wieder fielen ihm die Augen zu. Unser Besuch war kurz, und während ich unruhig am Gang auf und ab lief, redete Mutter mit einem Arzt. Endlich kam sie aus dem Dienstzimmer. Kummer oder Hoffnung? Ich suchte in ihrem Gesicht die Antwort.
„Sie haben ihm eine Geschwulst entfernt und müssen das Laborergebnis abwarten.“ Ich hoffte auf ein Osterwunder, alles würde nun gut.
 
Freitag vor Pfingsten starb Mulzheim. Im trauerschwarzen Kleid folgte Line dem Sarg. Sie ertrug es mit einem sanften Gesichtsausdruck, sogar mit einem friedlichen Lächeln. Der Hausarzt hatte ihr ein Beruhigungsmittel verschrieben. Ich trottete inmitten der Trauergäste in düsteren Gedanken versunken dem Sarg von Herrn Mulzheim hinterher. In der Woche nach Ostern erfuhr Mutter Vaters Diagnose. Es war ein Todesurteil: metastasierender Dickdarmkrebs. ‚Einige Monate, höchstens ein Jahr!‘, hatte ihr der Primararzt erklärt. In wenigen Wochen begannen die Sommerferien, aber an diesem Maitag blies ein eisig kalter Nordwind in meine Seele. Wie lange noch, bis wir Vater auf seinen letzten Weg be 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.08.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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