Alexander Bachmann

Katzensprung

Als ich mich heute dazu entschlossen habe, nicht wie gewohnt und schon tausendmal exerziert, zu der unbequemen Rückenschule zu gehen, sondern einen anderen Weg einzuschlagen, habe ich diese Entscheidung als einen Aufstand gegen die Gewohnheit, Regelmäßigkeit und Stumpfsinnigkeit großstädtischer und kleinbürgerlicher Lebensweise herbeigeführt. Der Aufstand war bitter, aber notwendig. Ich erachte es als selbstverständlich und zwingend erforderlich, dass jeder Mensch den Schritt der wahrhaften Selbstmeuterei geht, denn nur wer sich selbst auf die Planke schickt und bereit ist, vom Narrenschiff in das Meer der Unbedeutsamkeit zu springen, wird mit der kühlen, schweren Nässe vertraut, die einem hilft, den Grund statt nur den Wellenschlag zu erkennen. Ich bin gesprungen, mit Anlauf, und ich habe den Grund erreicht. Hastig habe ich nach ihm gegriffen, versucht ihn zu halten, bis mir die Luft ausging, dann musste ich zurück an die Oberfläche. Man hält es in den Tiefen eben nicht lange aus.
 
Seit meiner Kindheit leide ich an einer Rückgratverkrümmung. Um diese zu lindern war ich seit der Diagnose immer wieder in Behandlung. Ein gekrümmter Rücken muss langsam gerichtet werden, hatte man mir einst erzählt. Heute habe ich begriffen, auf welch unsinniges Geschwätz ich da hereingefallen bin. Ich weiß gar nicht, seit wie vielen Jahren ich jeden Montag um 17:30 denselben Weg zur Rückenschule gehe. Doch heute war es anders als sonst. Heute nahm ich erstmals nicht nur die Schmerzen zwischen meinen Wirbeln, sondern auch die Schmerzen um mich herum wahr. Es sind stechende Zuckungen all jener Menschen gewesen, die die Hoffnung auf Heilung längst aufgegeben haben. In den Beinen hämmert die Regelmäßigkeit, im Rücken schiebt sich die Gewohnheit zwischen die Lendenwirbelsäule und die Halswirbelsäule und im Kopf breitet sich die Stumpfsinnigkeit aus. Elende Schmerzen einer weitverbreiteten Erkrankung. Auch ich leide an dieser Ansteckungskrankheit. Das Gerede der Orthopäden und Physiotherapeuten über meinen ach so schlimmen Rücken vernachlässigt, habe ich mich dazu entschlossen, mir selbst Linderung zu verschaffen. Heute habe ich begriffen, dass ein gekrümmter Rücken nur ein weiteres Symptom der anhaltenden und sich kontinuierlich verbreitenden Krankheit der Durchschnittlichkeit ist. Die Durchschnittlichkeit ist eine so furchtbare Erkrankung, weil sie schnell chronisch werden kann und man sie, so wie ich heute, erst nach sehr langer Zeit, wahrscheinlich wenn es schon zu spät ist, an sich erkennen kann. Kein Arzt, kein Therapeut, kein Pfleger, niemand hatte mir bisher etwas von dieser Funktionsstörung erzählt.
 
Statt Aufklärung zu leisten, hatte man mir ein Korsett übergestreift; damit mein Rücken wenigstens so aussieht, als sei er aufrecht. Sie war mir schon immer zu eng gewesen, diese künstliche Halterung, die stets drohte, aufzubrechen und den wahren Zustand meines Rückens freizulegen: krumm und in sich hineingesunken, voller Schmerz und Enge. Ein Korsett, das zur Aufrichtigkeit meines Rückens beitragen sollte; für mich war es nur eine Zwangsjacke, die den heutigen Tag so lange wie möglich aufschieben sollte. Doch nun ist es vollbracht. Die Zwangsjacke habe ich von mir gesprengt. Meine verkümmerte Rückenmuskulatur in einem einzigen Moment angespannt, die Luft eingezogen und den Bauch mit ganzer Kraft nach außen gedrückt, konnte ich diese Stütze meines Rückgrates losreißen. Endlich: Allein aufrecht stehen! Dieser kurze Moment wahrer Aufrichtigkeit wurde mir jedoch rasch wieder entzogen, schnell sackte ich zusammen, ließ meine Schultern hängen und meine Wirbelsäule begann zu schmerzen. Nun musste ich all die Last allein tragen. Jene Last, die ich doch schon längst vergessen hatte, die mir mein Korsett abgenommen hatte. Wo war es nur hin, mein Korsett?
 
Als ich heute einen anderen Weg einschlug und nicht jenen, der mir seit so langer Zeit vertraut war, sah ich all die gekrümmten Menschen wie leblose Zombies vor mir her laufen. Erstmals konnte ich ihren freigelegten Rücken erkennen, ihre morschen Knochen riechen und ihre Verwesung schmecken. Wie froh war ich, einen Weg abseits der Massen gefunden zu haben. Von hieraus konnte ich beobachten, von hieraus konnte ich atmen, von hieraus konnte ich flüchten, wenn mir danach war. Die Zombiemenschen eilten in die verschiedensten Richtungen. Kreuz und quer stürmten sie die Straßen, ohne Rücksicht auf die gekrümmten Rücken vor ihnen oder hinter ihnen. Gierig suchten sie überall nach Frischfleisch, um dieses in die eigenen Reihen einzugliedern. Diese Zombiemenschen, besessen von einer finsteren Macht, die, so schien es zumindest mir, nicht nur die einzelnen Wege ihrer Untertanen bestimmte, sondern auch die Lebenszeit; wobei mir sogleich die Frage kommt, ob es denn angemessen sei, von Lebenszeit zu sprechen, sind es doch nicht Lebende, denen ich begegnet bin.
 
Die finstere Macht, so habe ich heute begriffen, besitzt zwei Stöcke. Zwei sind es, die sie tragen, die ihr die Kraft verleihen und die die Horde der Untoten manipuliert. Täglich wird man in den großen Städten von jenen Stäben gestoßen, in jedem Geschäft, an jeder Haltestelle und auch im sicher geglaubten Zuhause wird man ununterbrochen von beiden Stöcken der finsteren Macht heimgesucht. Kommt mein krummer Rücken durch die vielen Stöße, die ich all die Jahre, vor allem jeden Montag um 17:30, erdulden musste? Einst waren es die Menschen, die der Macht Leben einhauchten. Sie gaben ihr eine Aufgabe, die Macht hatte eine Funktion. Nun aber hat sie sich über den Willen der Menschheit gesetzt und lebt unabhängig von ihr. In strenger Regentschaft herrscht sie über die Menschen in den Städten. Sofort setzen sich alle in Bewegung, zeigt der eine Stab in die eine Richtung und der andere Stab in eine andere. Die Angst, den Willen der Macht nicht zu erfüllen, treibt jeden Morgen sämtliche Bürger aus ihren Betten und zwingt sie, genau dann irgendwo zu erscheinen, wenn die große Macht ihre Stäbe neu ausgerichtet hat. In fast jedem Zimmer hat man kleine Nachbildungen dieser Stöcke an die Wand gebracht, nur um stets zu wissen, wann das nächste Mal zugetreten wird.   
 
Du möchtest, dass ich eine Geschichte über das Leben in großen Städten erzähle? Nun, ich glaube, dass sich kein Tag besser eignen würde als der heutige. Denn heute konnte ich das Stadtleben in seiner reinsten Form beobachten. Frei von der beherrschenden Macht, frei vom Korsett, frei von Zwängen.
 
Jahrelang erzählte man mir, wie wichtig die Rückengymnastik sei. Jahrelang ging ich montags denselben Weg durch die Stadt zu meiner vermeintlichen Hilfe. Jahrelang schritt ich unter all diesen Menschen als einer von ihnen. Gewiss bin ich einer von ihnen. Und wie jeder von ihnen dachte und denke ich, dass ich etwas ganz Besonderes sei, jemand mit einer eigenen Vergangenheit, mit eigenen Erfahrungen und mit eigenen Zielen, eben etwas ganz Individuelles. Der Marktplatz war heute sehr voll, voller als üblich, was mich zunächst verärgerte, denn ich musste mehr Zeit für meinen Weg einplanen. Es waren viele Individuen unterwegs und jedes hatte sein ganz eigenes Ziel in dieser von Hektik und Anonymität geprägten Atmosphäre. Angetrieben von der finsteren Macht, die an jeder Ecke auf Pünktlichkeit und Gehorsam achtet, drängte ich mich unverschämt und gleichgültig durch die Massen, so wie die anderen eben auch. Daran war nichts Außergewöhnliches, jeder tat das, was er jeden Tag tun musste. Meine allzu hastige Wanderung durch das Stadtleben wurde in einem einzigen Moment der Achtsamkeit unterbrochen, nämlich genau dann, als ein Auto im Begriff war, eine Frau mit ihrem Kind zu überfahren. Zwar konnte der Fahrer des Wagens rechtzeitig, dennoch knapp, bremsen, aber in jenem einen Moment hielt die Stadt, zumindest der Teil, den ich wahrnehmen konnte, den Atem an. Wie versteinert blickten alle Menschen auf die vor Angst erstarrte Frau und ihr Kind. In diesem kleinen Moment der völligen Konzentration verlor die finstere Macht sämtliche Kontrolle. Ihre beiden Stäbe waren morsch und brachen. Glaub mir: Niemand, aber auch wirklich niemand, wusste in diesem Moment, wie spät es war oder welche Wege er zu erledigen hatte. Das war so offensichtlich! Jeder war aufgeschrocken, erwacht, erleuchtet und im Jetzt befreit. Als jedoch die ersten Menschen begriffen, dass nichts weiter passiert war, nahm dieses übermächtige Gefühl der Unabhängigkeit ab und alle gingen ihre gewohnten Wege weiter, ebenso hektisch und ebenso ignorant wie zuvor. Sie gewannen ihre Achtlosigkeit, die Achtung vor der Macht, zurück.
 
Ich blieb noch eine Weile erschüttert stehen. Konnte denn in diesem Augenblick kein anderer erkennen, was da passierte? Wieso liefen alle in ihrem gewohnten Rhythmus und in ihrer für Großstädte typischen Anspannung weiter? Jeder nur für sich? Selbst die Frau mit ihrem Kind nahm ihren normalen Weg durch die Stadt, durch die Menschenmenge, auf. Ich blieb allein zurück! Gefesselt von dem Gefühl, nicht mehr nur einer unter vielen zu sein, sondern jemand, der etwas ganz Spezielles aus seiner ganz speziellen Sicht sehen konnte, war ich zutiefst verunsichert. An meine Rückengymnastik dachte ich in diesem Moment überhaupt nicht. Ich wusste, dass ich dort nicht hingehen werde, vor allem nicht nach dieser Erschütterung. Kennst du das Gefühl, wenn du durch eine Großstadt gehst und dir viele Menschen begegnen, die alle irgendwohin steuern und du an jeder Ecke mit anderen Gerüchen konfrontiert wirst? Hast du diese Enge gespürt? Diese erdrückende Enge, in der einem bewusst wird, wie unbedeutend man selbst in der Masse ist – man, m – a – n, man. Jahrelang, ja seit Beginn meines Lebens war ich dieses „man“. Ich war nicht ich, sondern ein „man“, höchstens noch ein „Sie“, aber meistens doch nur ein „man“, gleichsam einem Sandkorn am Strand, der von Ebbe und Flut heimgesucht wird. Das ganze Leben, im Kindergarten, in der Schule, am Arbeitsplatz, auf der Bank, auf Ämtern, auf dem Markt, einfach überall lebt man als „man“ und bemerkt es entweder nie oder erst dann, wenn es bereits zu spät ist. Das ist das Dilemma der Durchschnittlichkeit. In der Schrecksekunde, als jeder dachte, die Frau und ihr Kind würden überfahren, spürte ich, wie jedwede Durchschnittlichkeit und alle „mans“ verschwanden und jeder, aber wirklich jeder, sein „Ich“ spüren konnte. Es war nicht mehr die Angst vor dem Zuspätkommen, der Termindruck oder die Panik, nicht rechtzeitig zum Sommerschlussverkauf zu kommen, sondern eine tiefersitzende Furcht, die sich in jenem Moment zu manifestieren wusste. Diese Angst war so stark, dass jedes „man“ fliehen musste und nur noch nackte Seelen übrig blieben. Das war für mich das erste Mal, dass ich das Leben in einer großen Stadt anders wahrnahm.
 
Mir kommt es vor, als sei dieser Vorfall bereits Wochen, ja vielleicht sogar Jahre her, doch es war erst vor wenigen Stunden. Seit diesem Moment weiß ich, was Großstadtleben bedeutet. Es bedeutet, ein Leben wie in einem Ameisenhaufen zu führen.
 
Stell dir bitte für einen Moment vor, dass du eine Katze seist. So abstrakt diese Forderung auf dich scheinen mag, bitte halte dich daran. Als Katze jagst du einem Vogel nach. Nichtsahnend rennst du dem kleinen gefiederten Tier nach und blickst gen Himmel, um den Vogel dort weiter beobachten zu können. Du siehst nicht vor dich und so passiert es schließlich, dass du in all deiner Freude über den Vogel versehentlich in einen Ameisenhaufen rennst. Schnell hast du den Vogel vergessen und wirst dir deiner schlimmen Lage bewusst: Du versinkst in einem Meer von abertausenden kleinen Tieren, die über dich herfallen, sich in deinem Fell verankern und dir ihr brennendes Gift injizieren. Was wünschst du dir wohl am sehnlichsten? Die Flucht? Freiheit?
 
Ich sage dir, dass ein Leben in einer Großstadt das Abbild eines solchen Ameisenhaufens ist. Jedes Mitglied, egal ob im Ameisenhaufen oder in der Stadt, hat seine bestimmte Funktion, seinen bestimmten Weg und sorgt dafür, dass dieser Haufen in seiner krabbelnden Ganzheit erhalten bleibt. Für mich war es heute offensichtlich: die Hektik, das Rennen, die Unruhe und ein ständiges Krabbeln, wie für Ameisen üblich. Doch dann bot sich mir der Moment zur Flucht – als die Zeit anhielt und jeder auf sich selbst zurückgeworfen wurde, konnte ich fliehen, während alle anderen weiterhin die Gewohnheit pflegten, die Regelmäßigkeit achteten und die Stumpfsinnigkeit förderten. Der einzige Unterschied zwischen dem Ameisenhaufen und einer Großstadt ist wohl der, dass sich in einer Stadt jeder für die Katze hält.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.08.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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