Maren Ruden

Kleine Flügel

Sie stand auf der Brücke. Genauer gesagt, auf dem Brückengeländer. Zehn Meter unter Katarina lagen die S- Bahngleise in ihrem verschneiten Schotterbett. Im Dunkeln waren sie nicht zu erkennen, aber sie waren da, das wusste Katarina. Oft genug hatte sie hier gestanden und auf die sich verengenden Linien gesehen. Als sie noch klein war, vier oder fünf Jahre alt, war sie jeden Sonntag mit ihrer Mutter hierher gegangen um die Züge zu beobachten. Dort wo sich die beiden Schienen treffen, ganz in der Ferne, dort wartet der Papa auf uns, hatte die Mutter auf die immer gleiche Frage ihrer Tochter geantwortet. Eines Tages machte sich Katarina auf den Weg, um nachzusehen. Seitdem wusste sie, dass man niemandem alles glauben darf.
Mittlerweile war sie zwölf und wusste, dass der Vater die Mutter verlassen hatte, als sie drei und ihre kleine Schwester, Ria, gerade geboren war. Und dass dort hinten wo sich die beiden Striche zu einem Punkt vereinigen nur ein alter Betriebsbahnhof war. Trotzdem kam sie noch immer gern hierher, besonders wenn sie nachdenken musste oder keiner sie finden sollte. Allerdings, meistens suchte sie sowieso niemand. Die Mutter hatte einen neuen Freund, Herrmann. Der war nett, allerdings kam er nur an den Wochenenden nach Hause und dann wollte er seine Ruhe haben. Er war Fernfahrer. Die Mutter arbeitete im Krankenhaus, als Schwester, drei Schichten. Wenn sie von der Arbeit kam war sie erschöpft und hoffte, dass Katarina die Hausarbeit erledigt und sich um Ria gekümmert hatte. Wenn Katarina Mutters müde Augen sah und ihre Stimme hörte, die wie das Schlurfen alter Füße auf einer  staubigen Straße klang, dann bemühte sie sich, alles richtig zu machen. Nur keine Probleme, dafür hatte die Mutter ohnehin keine Zeit, so selten wie sie da war.
Nur einer war immer da, Pascal, Herrmanns Sohn aus erster Ehe, 22 Jahre alt, er war mit bei ihnen eingezogen. Arbeitslos war er, und deshalb immer zu Hause. Außer wenn er sich mit seiner Clique traf, abends , manchmal auch schon nachmittags. Solche Tage waren ihr am liebsten, denn dann war er nicht da, wenn sie aus der Schule kam. Wenn doch, dann kam er, spätestens nach ein paar Minuten, in ihr Zimmer. Beim ersten Mal hatte Katarina noch gedacht es sei ein Scherz als er sagte. „Zieh dich aus!“ Doch als sie sich weigerte hatte er hart zugefasst. Seitdem vermied sie seine Nähe, wich aus wo sie konnte, blieb stundenlang weg. Aber irgendwann musste sie nach Hause, der Haushalt, die Schwester. Für die Schulaufgaben blieb keine Zeit mehr, sie konnte sich sowieso nicht konzentrieren, suchte in Gedanken ständig nach einem Ausweg. Einmal als der Lehrer in Physik nach der Maßeinheit für den Luftdruck fragte, musste sie kotzen. Pascal. Der kam jetzt nachts, wenn Mutter schlief oder zur Nachtschicht war. „Sie merken es nicht kleine Schwester, und selbst wenn du was sagst, wer würde dir glauben“ Er war sich seiner Sache sicher.
Jetzt wusste Katarina plötzlich wieder ganz genau warum sie nachts um zwei hier auf dem Brückengeländer stand. Sie wollte hinunter springen. „Fliegen“ dachte sie, „hinunter fliegen, dann wäre ich endlich frei.“ Hören wann der Zug kommt und dann …
Sie fror in ihrer dünnen Jacke. Aber auch von innen. Vorsichtig machte sie einen Schritt auf dem schmalen, kalten, eisglatten Geländer. „Aua!“ hörte sie eine leise, aber sehr deutliche Stimme. „Du wärest beinahe auf mich getreten.“ Obwohl sie direkt neben einer Laterne stand, konnte Katarina nichts entdecken. „Du musst nach unten sehen, ich bin nicht so groß!“ Katarina wurde schon schwindlig bei dem Gedanken daran. „Setz dich einfach auf das Geländer, dann wird es besser.“ Die Stimme schien Gedanken lesen zu können. „Bist du unsichtbar?“ fragte das Mädchen. „Nein, nur ziemlich klein. Jetzt müsstest du mich eigentlich sehen“, sagte die etwa zehn Zentimeter kleine alte Frau, der sie nun gegenüber saß.
 
 
 
In ein merkwürdiges blaues Kleid gehüllt, das aussah wie ein Nachthemd ihrer Großmutter und mit Stoppel kurzen weißen Haaren wirkte die Erscheinung ebenso mysteriös wie lächerlich.
Nur die winzigen Flügel nicht, die sie auf dem Rücken trug. Sie waren aus  leuchtendem Silber und die kleine alte Frau hatte sie an einer silbernen Kette wie einen Ranzen auf den Rücken geschnallt. Fasziniert starrte Katarina auf das silberne Leuchten und grübelte gleichzeitig, ob sie das alles nur träumte. „Wer sind Sie?“ fragte  sie dennoch. „Dreimal darfst du raten“, lächelte die Alte. „Ein Engel? Sind Sie etwa ein Engel? Dafür sind Sie eigentlich schon ein bisschen zu alt und viel zu klein, finden Sie nicht?“
„Und du, wolltest du nicht fliegen?“ „Na ja, eigentlich…“ „…wolltest du springen, ich weiß. Aber dort unten wartet auf dich nicht die Freiheit, sondern…“  Katarina schnitt ihr das Wort ab. „Weiß ich selber, aber hier gefällt es mir nicht mehr. Nur Schmerzen und Angst und keiner der mich hört und sieht. Außerdem fällt es nicht auf, wenn ich weg bin. Sie können mir ja Ihre Flügel geben, dann fliege ich weg und brauche nicht zu springen. Aber die sind sowieso zu klein.“  Die alte Frau musterte sie aufmerksam. „Ich verstehe gut, dass dir  die Welt, so wie sie im Moment für dich ist, nicht gefällt. Trotzdem hast du darin deinen Platz auf den du gehörst. Ohne dich wäre die Welt ärmer.“ „Können sie das beweisen?“ fragte Katarina müde. „Schließ die Augen und du wirst es sehen.“ Es war als würde sie eine Rutsche hinunter rutschen, etwas zu schnell, aber da war sie schon angekommen. Großmutters Garten, verwildert und voller Unkraut. Die Oma saß auf der Bank und weinte. Sie wollte zu ihr laufen, doch schon… In der Klasse saß ihre Freundin Petra nun alleine, hinter ihrem Rücken wurde getuschelt. „Dicke, fette Arschbulette!“ rief einer und dann flog ihr ein Turnschuh ins Kreuz.  Petra rannte aus dem Klassenraum, Katarina hinterher, aber das Bild wechselte wieder. Direkt neben der Kellertür wo sie den kleinen Napf mit Milch für die junge streunende Katze hingestellt hatte lag ein lebloses Häufchen. Katarina beugte sich traurig hinunter um das weiche Fell zu streicheln, da stand sie in ihrer Wohnung. Leise öffnete sich plötzlich die Tür von Pascals Zimmer. Er schlich über den Flur und drückte lautlos auf die Klinke des Kinderzimmers in dem Ria schlief…
„Nein!!!“, schrie das Mädchen, „Nein, das darf er nicht tun, Sie müssen es verhindern!“ „Das kann ich nicht, aber du könntest es, wenn du in deiner Welt bleiben würdest. Du könntest Menschen suchen, die deine Qualen beenden und dich und deine Schwester beschützen.“
Das Gesicht der kleinen alten Frau mit den silbernen Flügeln leuchtete vor ihr wie eine Kerzenflamme. „Das hört sich an wie in die Freiheit fliegen“, flüsterte Katarina verträumt, „aber leider fehlen mir immer noch die Flügel.“ „Kannst meine haben“ lachte die Frau, „aber  lass uns erst von dem blöden Geländer steigen, ich bin schon ganz kreuzlahm.“ Katarina stellte einen Fuß auf die Erde. Ihre Knie zitterten und sie musste sich auf den eingeschneiten Gehweg setzen. „Danke“, sagte sie leise.  Als sie sich umwandte um der Alten zu helfen war sie verschwunden. Mit einem leisen Klirren fiel direkt neben ihr eine Kette zu Boden, an der kleine silberne Flügel hingen. „Ich war nur die Botin.“ ertönte leise aber sehr deutlich die Stimme der kleinen Frau. „Machs gut.“
Dann war alles still. Katarina legte sich die Kette um den Hals und sah auf die Uhr. Es war vier Uhr früh. Eine Frau blieb neben ihr stehen. „Was machst du um diese Uhrzeit hier draußen in der Kälte, Kleine?“ fragte sie. „Du siehst durchgefroren aus. Willst du mich auf meine Arbeit begleiten? Dort mache ich dir einen warmen Tee.“ „Wo fängt man denn so zeitig an zu arbeiten“, fragte das Mädchen. „Dort vorn.“ Die Frau zeigte auf die große Eingangshalle aus der Lautsprechergeräusche zu hören waren. „Bei der Bahnhofsmission. Menschen die Hilfe brauchen gibt es immer, Tag und Nacht. Komm ins Warme und wenn du willst,  erzählst du mir deine Geschichte.“ Die Frau sah  Katarina an. Ihr Gesicht leuchtete wie eine Kerzenflamme. „Ja“, sagte Katarina. Sie gingen. Und es war wie fliegen.
M.R.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.08.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Marion Batouche, geb. 1962 in Waren an der Müritz; lebt zur Zeit mit ihrem Mann und ihren beiden erwachsenen Kindern in Lilienthal bei Bremen. Sie arbeitet seit dreizehn Jahren als Sachbearbeiterin in einer Bremer Im- und Exportfirma und füllt ihre Freizeit damit aus, Gedichte zu schreiben.

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