Manfred Bieschke-Behm

Mein Kiez - meine Straße - meine Erinnerung daran Teil 1



1954. Alltag in der Katzlerstraße. Eine Straße, wie viele in Berlin, in Berlin-Schöneberg und in den anderen Bezirken. Um die Mittagszeit läutete zweimal in der Woche eine Glocke dazu der begleitende Sprechgesang "Brennholz für Kartoffelschalen". Dieser Aufruf bedeutete, dass alle Mieter, ihre Kartoffelschalen und sonstige Küchenabfälle, wie Obst und Gemüserückstände angesammelt hatten, zum „Brennholzmann“ bringen konnten. Vor der Haustür stand ein Pferdefuhrwerk auf dem von fleißigen Händen die angelieferten Abfälle eingesammelt wurden. Als Gegenleistung erhielten die „Gebenden“, je nach Gabengröße, klein gehacktes Feuerholz. Der kostenlose Erwerb dieses Brennholzes war auch circa zehn Jahre nach Kriegsende eine wertvolle Ergänzung zu Kohlen, für die oftmals das Geld fehlte oder nicht ausreichend vorhanden war. Oft bildete sich eine lange Schlange wartender Menschen, die alle dankbar bereit waren Brennholz für Kartoffelschalen zu tauschen. Das Warten, bis der Einzelne endlich dran war, wurde gerne genutzt sich den neuesten Kieztratsch zu erzählen. „Haben Sie schon gehört…“ „Ach, das muss ich Ihnen unbedingt erzählen…“ „Neulich habe ich beobachtet….“ usw. usw. Bei aller Tratscherei wurde genauestens darauf geachtet, dass der Austausch der Materialen gerecht zuging. Meist waren es Frauen und Kinder die die Tauschgeschäfte erledigten. Frauen, wie damals üblich, häufig in Kittelschürzen gekleidet und die Haare hinter Kopftüchern versteckt. Die Kinder eher unauffällig. Mädchen trugen Zöpfe mit zum Teil großen Schleifen und die Knaben, je nach Jahreszeit, alterslos kurze Hosen, die von Hosenträgern gehalten wurden. Manchmal trugen auch Jungen lange dicke Strümpfe die, wie bei den Mädchen, von einem Hüftgurt oben gehalten wurden. Auch ich musste so herumlaufen. Nicht selten war mir mein Outfit peinlich.  Es war zweckmäßig, aber wirklich peinlich.  
Waren die Tauschaktionen beendet, zog der Kutscher mit seinem Wagen weiter. Er betätigte wider seine Handglocke, ließ sein Sprechgesang „Brennholz für Kartoffelschalen“ erklingen und mobilisierte damit die Mieter nachstehender Häuser.
 
Die Katzlerstraße, in der ich meine Kinder- und Jugendjahre verbrachte, war in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, eine typische Berliner Arbeiterstraße. Der Fahrdamm bestand aus „Holperpflaster“ einschließlich kleinerer und größerer Schlaglöcher. Ausbesserungen mit pechschwarzem Teer veränderten den allgemeinen Straßenzustand nur bedingt. Denn immer wider entstanden neue nicht gewollte Vertiefungen in unterschiedlichen  Größen.
Häufig konnte ich beobachtete, dass große schwarze Teerkocherwagen in der Straße verteilt standen. Die durchgeschwitzten Arbeiter öffneten einen Hahn aus dem sofort eine zähflüssige, schwarze, dampfende und stinkende Flüssigkeit floss. Aufgefangen wurde der Teer in stark in Mitleidenschaft gezogene Eimer. Der so transportierfähige Teer wurde in die Straßenbelaglücken gegossen und von knienden Arbeitern mit langen Holzlatten in alle Richtungen verstrichen. Für diese Arbeiten war es notwendig dicke Spezialhandschuhe zu tragen. Ohne Handschuhe bestand die Gefahr, dass sich die Arbeiter ihre Hände hätten verbrühen können. War die schadhafte Stelle endlich ausgebessert, wurden die leeren Eimer an den Breitseiten des Teerwagens, an dafür vorgesehene Haken, angehangen. Der nächste Einsatzort war bekannt, so dass das „dampfende Ungetüm“ dort hin fahren konnte. Die Teereimer schaukelten derweil fröhlich hin und her. Die Arbeiter zogen mit ihren Knieschonern, die sie dort beließen, wo sie schützen sollten, von dannen. Vorher hatten sie noch die Baustelle wegen der feuchten, heißen Teerschicht gesichert.
Auf beiden Seiten der Straße befanden sich vier- bis fünfstöckige Mietshäuser. diese hatten zum Teil zwei und sogar drei manchmal sogar vier Hinterhöfe. Wo durch den Krieg die Vorderfront weggebombt beziehungsweise zerstört abgerissen war, wurden Hinterhäuser zu Vorderhäusern. Manche Vorderhäuser allerdings waren bereits schon wieder aufgebaut oder man war gerade dabei, sie zu errichten.
Die Gerüste vor den Baustellen waren ideale Spielmöglichkeiten. Nicht selten benutzten wir Kinder die Rüstungen als Klettermöglichkeiten. In unserer Fantasie wurden Baugerüste zu Ritterburgen oder Piratenschiffe. Nicht selten gab es leichte Verletzungen, sei es man stolperte auf den Gerüstbrettern oder stieß mit irgendeinem Körperteil gegen eine der vielen Gerüststangen. Hautabschürfungen und Pflaster sowie Ermahnungen der Mutter nicht auf den Gerüsten herumzutollen waren an der Tagesordnung.
Die neu errichteten Häuserteile wurden nicht nur am veränderten Baustil erkannt, sondern auch an ihrer erfrischenden Farbgebung. Allerdings sahen daneben die alten Hausfassaden durch kriegsbedingte Einschusslöcher und herausgebrochenen Mauerteile nun umso erbärmlicher aus. Die wenigen Blumentöpfe, die Mieter auf die vor den Fenstern befestigten Blumenkästen, gestellt hatten, waren ein angenehmer Farbtupfer. Sie schafften es die Monotonie zu durchbrechen
Das Gebäude, neben dem Haus, in dem meine Familie wohnte, war ebenfalls durch den Krieg völlig zerstört. Gerne und oft - wenn auch verboten - spielten wir Kindern in der Ruinenlandschaft. Wir bauten uns Höhlen, richteten uns in unserer Fantasie Wohnbereiche ein oder gingen auf Entdeckungsreisen. Immer wieder gab es Neues zu ergründen. Gefahren sahen wir nicht. Eine Mutprobe bestand darin, von der ersten Etage auf das aufgeschüttete Erdgeschoss zu springen. Auch ich wagte mehrmals den "Ruinensprung". Ich war nach vollbrachtem Wagnis immer mächtig Stolz auf mich. Denn durch mein schmächtiges Erscheinungsbild gehörte ich nicht gerade zu den Hervorragenden in der Clique. Deshalb war es für mich umso wichtiger durch meinen Mut dazu zu gehören.
Später wurde, sehr zum Leitwesen von uns Jungen, die Ruine entsorgt. Es entstand eine Art Ballspielplatz. Der Reiz dort zu spielen ging verloren. Jedenfalls für mich und einem Großteil meiner Spielkameraden. Für Ballspiele hatte ich mich noch nie begeistern können. Deshalb mussten neue Betätigungsfelder entdeckt und gefunden werden.
Da "meine Straße" für mich nicht mehr für genug Abwechslung sorgen konnte, wurden die Tummelplätze auf den Viktoriapark - besser bekannt unter dem Namen Kreuzberg - und dem Insulaner, einer aus aufgeschütteten Ruinenrückständen künstliche geschaffene Erhebung, oder in die Kleist-Park-Kolonnaden verlegt. Die jeweiligen Fußmärsche dorthin, und der damit verbundene Zeitaufwand, waren nicht zu unterschätzen. Sie wurden aber billigend in Kauf genommen. Die gebotenen Möglichkeiten sich zu beschäftigen wurden letztendlich höher bewertet als die unangenehmen Begleitumstände.
Sich von der häuslichen Umgebung zu entfernen hatte auch den Vorteil, von Nachbarn nicht entdeckt zu werden wenn man gerade dabei war etwas „Verbotenes“ zu machen. Manche „lieben Nachbarn“ hatten nämlich nichts anderes zu tun, als den Eltern zu berichten wer wann, wo, was gemacht hatte. Der Nachteil der entfernten Spielorte war, das dass vorgegebene Freizeitfenster wegen der räumlichen Entfernungen schwerer einzuhalten war. Ein zu spät nach Hause kommen hatte jedes Mal Konsequenzen. Meistens gab es Stubenarrest für die nächsten Tage. Das Beschließen von Stubenarrest konnte ausgesprochen werden wann immer es erfolgte, passen tat es nie.
In fast jedem Haus „meiner Straße“ befand sich ein Einzelhandelsgeschäft. Das Sortiment war breit gefächert. Da gab es den Bäcker zu dem ich unregelmäßig den von der Mutter vorbereiteten Kuchenteig zum abbacken brachte. Stolz trug ich das Kuchenblech oder die Springform mit herrlich duftendem und mit einem Handtuch abgedecktem Teig in die Bäckerei. Dort wurde ein mit einer Nummer versehender kleiner Zettel in den Teigrand gedrückt. Einen Zettel mit der gleichen Zahl bekam ich. Nach verabredeter Zeit durfte ich den fertig gebackenen, verlockend duftenden Kuchen abholen. Vorsichtig trug ich ich Kuchen nach Hause. Die Versuchung einen noch warmen Kuchenkrümel zu naschen war groß.
Es war auch üblich, dass wir Kinder - manchmal taten es auch Erwachsene - uns anstellten, um Kuchenanschnitte oder Kuchenteile von vergangenen Tagen preisgünstig oder gar umsonst zu bekommen. Mit gefüllten Tüten verließen wir jedes Mal die Bachstube, um uns irgendwo nieder zu lassen. Genüsslich verschlangen wir die soeben erworbenen Köstlichkeiten und fühlen uns wie im Schlaraffenland.
Beim Fleischer war es ähnlich üblich ist wie bei dem Bäcker. Auch hier konnte zu bestimmten Zeiten günstig eingekauft werden. Preisgünstig wurden Wurstanschnitte und Wurstscheiben, die vom Vortage herrührten, verkauft.
Um den Obst- und Gemüseladen machte ich manchmal einen großen Bogen. Besonders dann, wenn mich dessen Auslagen wieder einmal gereizt hatten einen Apfel oder eine Birne zu stehlen. Einmal hatte mich der Verkäufer, ohne das ich es bemerkte, dabei beobachtet. Tage später sprach der Obst- und Gemüseverkäufer meine Mutter auf den Vorfall an. Das war meiner Mutter sehr peinlich. Wie es mir dabei ging, habe ich vergessen. Ich weiß nur noch, dass es wieder einmal Stubenarrest gab.
Gegenüber unserem Wohnhaus befand sich ein Lebensmittelgeschäft. Hier gab es unter andere lose Milch zu kaufen. Jeder der frische Milch haben wollte, kam mit einem Gefäß, das häufig eine silberfarbig aussehende Milchkanne mit Deckel war. Die Milch wurde durch eine Handpumpe über einen Hahn in das Gefäß befördert. Der Vorgang ist vergleichbar mit dem Bierzapfen im Lokal, wo das Bier auch über einen Hahn in ein Glas befördert wird. Die Milch wurde mit Maßbechern unterschiedlichster Größe geschöpft. Es gab Maßbecher für ¼ Liter, ½ Liter oder 1 Liter.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Manfred Bieschke-Behm).
Der Beitrag wurde von Manfred Bieschke-Behm auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.09.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Manfred Bieschke-Behm als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Ein diabolischer Auftrag von Doris E. M. Bulenda



Nach dem Mord an ihrer Mutter und der Ermordung durch ihren Vater ist Eva in der Hölle gelandet. Dort fühlt sie sich wohl, ist angesehen, übt sich im Peitschenschwingen und hat Bartholmes, Hilfsteufel zwo-Millionen-achtunddreißig als Sklaven zugeteilt bekommen.
Mitten in einer Privatfehde mit einem ehemaligen Großinquisitor erreicht Eva der Ruf Satans: Ihre krankhaft geizige Tante Mathilde, die der Hölle sicher war, will sich der Gegenseite zuwenden. Evas Mission: sie zurück auf die Seite des Bösen zu holen. Mit einem wunderschönen Sukkubus-Körper soll sie Mathildes Mann Eberhard verführen und so beide für die Hölle sichern.
Doch in Kaplan Jehannes hat sie einen ernstzunehmenden Gegner.
Ein gefährlicher diabolischer Auftrag, der Eva alles abverlangt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (3)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Kindheit" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Manfred Bieschke-Behm

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Leben mit dem Tod von Manfred Bieschke-Behm (Metaphern)
...Eiszeit.. von Annie Krug (Kindheit)
1:0 für REICH und SCHÖN von Ingrid Grote (Satire)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen