Michael Hübner

Königin der Gedanken

Dreißig Frauen räkelten sich engumschlungen auf Igors Wohnzimmerteppich herum. Sie liebkosten ihre wolllüsternen Körper zärtlich mit ihren Händen und Zungen. Auch wenn die Frauen noch so zärtlich miteinander umgingen, so liebten sie doch nur ihren Herrn und Meister. Ihm zu ehren boten sie ihre nackten Leiber da, jede von ihnen kämpfte um seine Gunst. Doch der König hatte nur Augen für eine der Frauen. Sie lag alleine völlig unberührt in der Mitte und hieß Priscilla. Sie war seine Königin! Ihre Schönheit war unbeschreiblich. Nicht in Worte zu fassen! Und Igor vergötterte sie. Keine der anderen Frauen durfte sie berühren, denn sie gehörte nur ihm. Heute an seinem Geburtstag war ihr Schauspiel besonders ansehnlich und sie gab sich besonders große Mühe um ihm den Verstand zu rauben. Gleich würde sie sich erheben und sich zu Igor gesellen und ihn nach allen Regeln der Kunst verwöhnen.

Doch unverhofft klingelte es plötzlich an Igors Haustür. So schnell seine Gespielinnen gekommen waren, so schnell verschwanden sie auch wieder. Igor verfluchte sich selbst, dass er die Klingel nicht abgestellt hatte, wo er doch wusste wie schüchtern seine Frauen waren. Noch halb benommen von den Eindrücken, die er eben noch genoss, schritt er zur Wohnungstür. Er drückte auf den Knopf der Sprechanlage und fragte genervt:

,,Wer ist da?”

Eine Sekunde später erklang die Stimme seines Krankenpflegers:

,,Ich bin es, der Klaus. Los, mach schon auf, ist scheiß kalt hier draußen!”

Igor litt seitdem er neunzehn war an schlimmen Wahnzuständen, was ihn veranlasste seine Lehre als Tankwart abzubrechen. Deshalb war er jetzt Frührentner und wurde von einem Krankenpfleger betreut, der ihm bei allem nötigen unterstützte.

Igor drückte auf den Summer. Pech für seinen Pfleger war nur, dass er im obersten Stockwerk eines mehrstöckigen Wohnhauses lebte und der Fahrstuhl defekt war.

Vom Treppensteigen wird dem Kerl wenigstens warm und vielleicht nimmt er noch etwas ab. Die perfekte Strafe für die Störung, dachte Igor böse grinsend. Ein paar Minuten später stand sein übergewichtiger Krankenpfleger, vor Anstrengung nach Luft schnappend, in seiner Wohnung. Er war vollgeladen mit Tüten aus denen es aromatisch nach Kaffee duftete. Als Klaus sich gefangen hatte, und wieder einigermaßen Atmen konnte, bedachte er Igor mit einen strengen Blick.

,,Hättest ja mal runterkommen können und mir was abgenommen.”

,,Tut mir leid! Aber mein Knie schmerzt heute ziemlich stark, wegen meiner Gischt, da komm ich die Treppe nicht runter. Kommt bestimmt vom kalten Wetter”, log er seinen Betreuer ohne mit der Wimper zu zucken mitten ins Gesicht.

Klaus trug die Tüten in die Küche und umarmte dann den vom Wahnsinn gebeutelten.

,,Alles gute mein Freund, zu deinem 40 Geburtstag”, meinte Klaus freudestrahlend.

,,Vielen dank, aber ich bevorzuge 39 + 1, das hört sich nicht so schrecklich an wie die schlimme 40!”, erwiderte ein errötender Igor.

Anstatt mit seinen übergewichtigen Betreuer, würde er jetzt lieber mit Priscilla engumschlungen da stehen.

,,Man ist immer so alt wie man sich fühlt, außerdem siehst du viel jünger aus!”

,,Danke, aber könntest du mich bitte wieder loslassen, ich bekomme keine Luft mehr!”, keuchte Igor.

Sofort lies der wohlgenährte ihn los.

,,Oh, Entschuldigung, manchmal unterschätze ich ganz meine Kraft. Aber du könntest ruhig etwas mehr essen, damit du mehr auf die Rippen bekommst, dann würden dir meine Umarmungen nichts mehr soviel ausmachen. Aber an deinem Geburtstag möchte ich dir keine Vorhaltungen machen, und außerdem bin ich nicht deine Mami. So, dann Koch ich mal Kaffee und dann wird gefeiert.”

Während Klaus den Kaffee kochte, deckte Igor den Tisch und schnitt den Marmorkuchen an, den sein Betreuer mitgebracht hatte. Als alles fertig hergerichtet war, setzten sich beide an den Tisch.

Igor führte gerade seine Tasse zu munde, als sich seine Visionen wieder meldeten. Der Zuckerbecher bekam plötzlich Beine und kam zu ihm rübergelaufen. Auf der Oberfläche des Bechers formten sich die Umrisse eines Gesichts.

,,Willst du dir nicht etwas Zucker nehmen? So schwarz schmeckt der Kaffee doch gar nicht!”, sprach der Becher.

Kurze Zeit später geschah das gleiche mit dem Milchkännchen.

,,Und vergiss mich nicht, ich bin auch noch da! Die Milch darf auch nicht fehlen!”

Igor tat so als wenn er sie nicht bemerken würde und hoffte darauf, dass sie von selbst wieder verschwanden, doch diese Hoffnung war vergebens. Die Situation spitzte sich sogar noch zu, als die Zwei zu streiten anfingen. Der Zucker gab der Milch einen Tritt und brüllte:

,,Dich will keiner hier sehen, von deiner sauren Milch wird unserem Herrn nur schlecht und dann muss er Kotzen!!!”

,,Aber du tust ihm auch nicht gut, wenn er von dir zu viel nimmt, wird er so fett wie ein Schwein!!!”, brüllte die Milch zurück.

Ein heftiges Wortgefecht brach zwischen beiden aus, welsches in weiteren Handgreiflichkeiten gipfelte. Jetzt konnte Igor bei diesem Geräuschpegel seine Visionen nicht mehr leugnen und ihm riss der Geduldsfaden.

,,Ich trink meinen Kaffee immer schwarz, verdammt noch mal!!! Ich hab euch nur rausgeholt weil der Klaus gerne seinen Kaffee mit Milch und Zucker trinkt. Wenn ihr nicht sofort still seid, kommt ihr wieder in den Schrank und kommt dann nie mehr raus! Habt ihr das verstanden?”

Igors Betreuer sah aufgrund dieser Entgleisung völlig entgeistert drein.

So schnell wie die Vision gekommen war, so schnell verschwand sie auch wieder. Alles stand wieder unbewegt an seinem Platz. So sehr Igor seine Visionen mit seinen Frauen liebte, so verabscheute er die nervigen Visionen. Ihm hatte heute Morgen schon die Diskussion mit dem Duschkopf gelangt. Er warf ihm vor, dass er immer zu lange Duschen würde und dies trieb, seiner Meinung nach, die Kosten für Warmwasser in die Höhe. Er solle sich doch einschränken!

Der Betreuer räusperte sich.

,,War das gerade wieder eine deiner Visionen?”, fragte er.

,,Bingo! Die kommen einfach so wie es ihnen gefällt”, meinte daraufhin Igor.

,,Und die Medikamente helfen da überhaupt nicht?”

,,Die Medikamente können sie nur teilweise unterdrücken, aber ganz verhindern können sie, die Visionen nicht.”

Igor sprach kaum die letzten Worte aus, da erschien Priscilla vor ihm. Sie sah ihn mit tadelnden Blick an.

,,Wir wollten doch unseren Spaß zusammen haben, oder? Warum hängst du hier mit diesem Fettsack herum? Los schmeiß ihn raus und dann zieh ich mich für dich aus!”, sprach sie mit einem Augenzwinkern.

Sie trug nur ein hautenges Top und einen Tanga-Slip. Erregt von diesem Anblick fing Igor zu stöhnen an.

,,Hast du schon wieder eine Vision?”, fragte der Betreuer irritiert.

,,Ja, und was für eine! Ich glaub du solltest jetzt besser gehen, ich hab noch etwas vor, wo ich alleine sein will!”

Igor zog dem dicken Betreuer so überraschend den Stuhl unter dem Hintern weg, dass er stürzte und auf dem Hosenboden landete. Durch sein hohes Gewicht schaffte er es von alleine nicht mehr auf die Beine und Igor war nicht stark genug um ihn wieder aufzurichten. Also rollte er ihn kurzerhand aus seiner Wohnung. Allerdings hatte er ihn zu heftig angestoßen. So sauste er wie ein Gewehrgeschoss, laut fluchend die Treppe runter. Doch Igor interessierte sich nicht dafür, dass wenn sein Betreuer unten ankam, er wahrscheinlich heftige Verletzungen von seinen Sturz davon tragen würde. Im Moment hatte er nur Augen für Priscilla. Als er zurück im Wohnzimmer war, lag sie schon komplett entkleidet auf seinem Sofa.

,,Komm her, mein Herr und Gebieter!”, gurrte sie lustvoll.

Wie ein geölter Blitz riss sich Igor seine Kleidung vom Leib und stürzte zu seiner Angebetenen hin. Er setzte sich zu ihr und wurde sofort von ihr mit Küssen überschüttet. Erst küsste sie seine Stirn, dann seinen Mund, seinen Hals, seine Brust, seinen Bauch, die Innenseiten seiner Oberschenkel. Doch als Priscilla sein Lustzentrum küssen wollte, klingelte es an der Tür. Er hatte erneut vergessen die Klingel abzustellen.

,,Los, mach weiter, lassen wir es einfach klingeln!”, keuchte Igor.

Aber Priscilla setzte sich auf und verschränkte die Arme.

,,Tut mir leid, aber das Bimmeln hat mich ganz aus meiner Stimmung gebracht.”

,,Na gut, bis du wieder in Stimmung bist, kann ich ja mal nachsehen wer da ist, aber nicht wieder anziehen, klar?”

Schnell rannte er nackt wie er war zur Haustür. Mit überschlagender Stimme brüllte er in die Sprechanlage:

,,WAS GIBT ES DENN???”

,,Hier ist der Fahrdienst, ich möchte Sie zu Ihrer Arbeit in der Behindertenwerkstatt abholen.”

Igor verdiente sich in einer Werkstatt für geistig behinderte stundenweise etwas zu seiner Rente hinzu, was nicht viel war, aber für ein paar Päckchen Tabak und eine Dose Kaffee im Monat reichte es.

,,Aber ich geh heute nicht zur Arbeit, heut ist mein Geburtstag und ich will einfach nur meine Ruhe haben. Ich habe gestern in der Fahrdienstzentrale angerufen, dass ich heute nicht abgeholt werden möchte!!!”, schrie Igor erregt, allerdings war es diesmal eine der Wut und keine von seiner Geliebten hervorgerufenen.

,,Also auf meinem Fahrplan steht nichts. Wer hat denn die Meldung angenommen? Vielleicht war es der Klaus-Dieter? Der ist nämlich halb taub und da versteht er manchmal auch nur die Hälfte.”

,,Wenn ich den Kerl in die Finger bekomme, hau ich ihm solange auf die Ohren, bis er völlig taub ist! Und jetzt geh mir nicht mehr auf die Nerven und verpiss dich!!!”

Ohne eine Erwiderung abzuwarten schaltete Igor die Sprechanlage und die Klingel ab, und schritt zurück zu seiner Traumfrau. Es dauerte etwas bis sie wieder in Stimmung war, aber dann kam der Zug der Liebe wieder auf Touren. Allerdings wurde sein Tempo erheblich gedrosselt als jemand heftig gegen Igors Tür hämmerte.

,,Also in der Irrenanstalt, wo ich vor ein paar Wochen noch verweilte, war es bedeutend ruhiger als hier!”

Er sprang von seiner Couch auf, sprintete zu seiner Wohnungstür, riss sie auf und schrie aus vollem Hals und mit Schaum vor dem Mund:

,,WAS WOLLT IHR PENNER DENN ALLE VON MIR??? LAST MIR MEINE RUHE!!!”

Als Igor durch den Schleier aus Wut und Hass wieder klar sehen konnte, erblickte er die größte Nervensäge die er kannte. Sein Name war Chris und er hatte ihn eines Tages in der Tagesstätte für seelischkranke Menschen getroffen, was für sein Nervenkostüm ein schicksalhafter Tag war. Denn kaum hatte er ihn angesprochen, wurde er von Chris mit Worten bombardiert. Was im Prinzip nicht so schlimm wäre, aber das nervige daran war, dass er lauter Zeug von sich gab, was Igor überhaupt nicht interessierte.

,,Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag mein Freund! Deine Klingel ist kaputt und da hab ich gerade mal bei deinen Nachbarn sturmgeklingelt und die waren dann auch so freundlich mich reinzulassen. Wer ist eigentlich der fette Typ der da unten an der Wand klebt? Kennst du den? Na ja, ist ja auch egal, brauchst nicht darauf zu antworten! Kann ich vielleicht mal reinkommen?”

Ohne eine Antwort abzuwarten trat Chris ein.

,,Also draußen ist ein Wetter sag ich dir, der reinste Albtraum. Jetzt brauch ich erst mal einen Kaffee.”

Er betrat ungefragt die Küche, als wenn er bei Igor zuhause wäre, und machte sich sofort an der Kaffeemaschine zu schaffen. Mit einer dampfenden Kaffeetasse in der Hand, setzte er sich, wenige Zeit später, zu Igor ins Wohnzimmer auf die Couch. Und wieder fing er zu erzählen an, und wie immer lauter Zeug was Igor nicht die Bohne interessierte, sondern zu tote langweilte:

Wie viele Medikamente er bekam!

Wie viele Brötchen er heute morgen beim Becker kaufte!

Und wie viele Pickel er am Hintern hatte!

Doch das alles wollte Igor gar nicht hören. Das einzige was er wollte, war in Ruhe sich mit Priscilla zu vergnügen. Manchmal muss man zu drastischen Mitteln greifen um seine Ruhe zu bekommen!, dachte Igor genervt. Igor rannte in die Küche und kam mit einem riesigen Fleischermesser zurück mit dem er auf Chris zustürmte. In Panik sprang dieser auf und vergoss vor Schreck seinen Kaffee auf seine Hose. Laut schreiend floh Chris aus der Wohnung und schnellen Schrittes die Treppe hinunter.

,,Ja, lauf nur, und komm ja nicht wieder, sonst mach ich Hackfleisch aus dir!!!”, brüllte Igor mit Wahnsinn in der Stimme.

Er schlug die Tür zu und rannte vor sexueller Erregung hechelnd zurück ins Wohnzimmer, wo seine Angebettete immer noch wartete.

,,Jetzt sind wir endlich unter uns, geliebte Priscilla!”

,,Unter uns? Machst du Witze? Wir sind erst ungestört wenn wir in der Geisterwelt sind. Bist du bereit die fleischliche Welt zu verlassen und für immer mit mir zusammen zu sein?”

Igor würde für seine große Liebe alles tun! Und diese Welt bedeutete ihm sowieso nichts. Es war an der Zeit in die Anderswelt überzutreten. Igor schnitt sich mit dem Fleischermesser die Pulsadern an beiden Armen durch. Das Blut spritzte, wie das Wasser aus einem Springbrunnen, aus seinen Venen. Igor wurde schnell schwächer und schwächer bis er ohnmächtig wurde und schließlich starb. In der Geisterwelt nahm ihn Priscilla an die Hand und er würde sie nie wieder loslassen. Er hatte die perfekte Liebe gefunden, eine Liebe die nur ihm gehörte und die er in der realen Welt nie gefunden hätte.  

Diese Geschichte widme ich meinem guten Freund Dietmar! Leider kann er sie nicht mehr lesen, weil er letztes Jahr verstarb. Was sehr traurig ist, weil er mich mit seiner seelischen Krankheit zu ihr inspiriert hat. Aber irgendwann sehen wir uns im Jenseits wieder und dann erzähle ich sie ihm und ich hoffe er wird begeistert sein.
Michael Hübner, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.09.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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