Alexander Bachmann

Das Zigarettenetui

Die Frauen sahen ihn schon aus der Ferne kommen. Er fiel auf – nicht nur ihnen, sondern auch den anderen Menschen um sie herum. Er trug einen großen Schlapphut und hatte einen schlurfenden Gang. Man hätte meinen können, dass da ein alter Herr ginge, aber nein; er war es. Und er kam auf sie zu. Als er sich neben sie setzte, nahm er seinen Hut ab, legte ihn auf die Bank, griff in seine Sakkotasche und nahm ein Zigarettenetui heraus.
 
„Das ist mein Zigarettenetui.“, sagte er und klappte es auf. „Ich hatte es verloren geglaubt, doch ich hab es wieder gefunden. Vielleicht hat es auch mich gefunden. Ich weiß es nicht – zumindest habe ich nicht danach gesucht. Es kam sozusagen auf mich zu und nun ist es wieder bei mir. Es hat ein paar Schrammen und kleine Dellen, aber nichts Schlimmes.“ Er sah in das Etui hinein und zählte mit dem Finger die darin liegenden Zigaretten durch. „Es sind zwanzig. Genauso muss es sein.“
 
Die Frauen sahen sich kurz an und blickten dann auf den Mann. „Nein, nein – es hat für mich keinerlei Bedeutung oder so. Im Gegenteil. Ich hatte es schon fast vergessen, weil ich es schon lange nicht mehr gesehen hatte. Wirklich danach gesucht habe ich auch nicht. Es war halt einfach weg. Viele finden Silber nicht schön. Ich mag es. Es hat etwas Magisch-Elegantes. Silber fällt nicht so sehr auf und weist dennoch auf eine kleine Besonderheit hin. Es ist wie ein kleiner funkelnder Stein auf einem Waldboden.“ Der Mann sah die beiden Frauen an und sprach dann weiter: „Sie sehen aus, als ob Sie rauchen möchten. Ich verwende nur selbstgedrehte Zigaretten. Da steckt Arbeit dahinter, aber dafür ist dann jede einzelne Zigarette ein kleines Kunstwerk – eine Kreation. Rauchen Sie Vanilletabak? Ich genieße ihn! Aber ich rauche nur sehr selten – vielleicht zwei oder drei Zigaretten im Monat, höchstens. Für mich ist es wichtig, dass das Etui voll bleibt. Ein leeres Zigarettenetui ist kein Zigarettenetui. Verstehen Sie? Es muss gefüllt sein – es muss innen voll sein.“
 
„Und es ist ein Geschenk.“, fügte er hinzu. Die Frauen sahen verschämt weg. Die eine starrte auf den Boden, die andere sah in die Wolken hinauf. „Ich verstehe.“, sprach er weiter, „Sie wollen nicht zugeben, dass Sie rauchen. Macht nichts. Ich behalte es für mich.“ Dabei lächelte er die Damen an. „Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“, fragte eine der Frauen. Der Mann hielt kurz inne und sagte: „Mir geht es gut. Es ist ein so herrlicher Tag heute und ich habe ein volles Zigarettenetui.“ Die Frauen sahen sich nur schweigend an und blickten wieder zum Boden und in den Himmel. „Was hat es mit Ihrem Etui auf sich?“, fragte die Frau. Der Mann präsentierte es der Frau. „Es ist mein Zigarettenetui. Es begleitet mich. Als ich es gefunden, nein, als es mich gefunden hat, war es das einzige Ding, das ich aus meinem alten Leben noch hatte. Alles andere war weg – nur das Etui ist übrig geblieben.“
„Und nun ist es Ihr besonderer Schatz?“, fragte die Frau weiter.
„Schatz? Oh nein. Es ist nur ein Etui. Mehr nicht.“
„Darf ich mir eine Zigarette nehmen?“
„Bitte was?“, fragte der Mann nach.
„Eine Zigarette. Ich möchte gern mit Ihnen rauchen.“, erwiderte die Frau.
„Natürlich können Sie sich eine Zigarette nehmen.“ Er hielt der Frau das Etui hin. „Nein, warten Sie. Ich gebe sie Ihnen selbst.“ Der Mann zog das Etui zurück, hob die Klammer und nahm eine Zigarette heraus. „Bitteschön.“, sagte er zu der Frau und sein Mund öffnete sich zu einem strahlenden Lachen.
„Ich brauche noch Feuer.“, sagte die Frau. Der Mann suchte in seiner Hosentasche nach einem ebenfalls silbernen Feuerzeug, dass er der Frau entgegenreichte. „Vielen Dank.“, sagte sie und zog an der Zigarette. Der Mann lehnte sich zurück und holte aus seiner Innentasche einen kleinen Beutel hervor.
 
„Das Schöne ist, wenn man Zeit hat.“, sagte er. Dabei öffnete er den Beutel, holte einen kleinen Zigarettenfilter, ein Zigarettenpapier und etwas Tabak heraus. „Zeit ist das Wertvollste, was der Mensch hat. Verstehen Sie? Ohne Zeit wäre man tot.“ Er breitete das Papier auf seiner linken Hand aus, legte den Filter hinein und tat den Tabak hinzu. Mit seinem rechten Zeige- und Mittelfinger drückte er den Tabak ein, zog das Papier nach rechts und griff mit seinen linken Fingern unter das Papier. Sofort machte er sich daran, den Tabak und den Filter einzurollen. Binnen weniger Augenblicke war die Zigarette fertig. Er roch an ihr und legte sie in das Zigarettenetui. Den Beutel verstaute er wieder in der Innentasche. Der Mann lächelte. „Es muss immer voll sein.“, sagte er.
„Warum muss es voll sein?“, fragte die Frau.
„Ganz einfach: Es soll doch zu etwas taugen, oder? Also muss es voll sein. Es darf nicht leer sein.“
„Aber es war jetzt gar nicht leer. Sie gaben mir doch bloß eine Zigarette.“, erwiderte die Frau.
„Wenn eine fehlt, ist das Etui leer. Wenn alle fehlen, ist das Etui leer.“, sagte er und versicherte sich sogleich, ob noch alle Zigaretten im Etui waren.
„Tut mir leid. Das verstehe ich nicht. Sie haben doch noch genügend Zigaretten, sollte mal eine fehlen.“
„Sie verstehen wirklich nicht. Sie müssen nicht immer von fehlenden Zigaretten sprechen. Das Etui nimmt nur eine begrenzte Menge auf. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist für zwanzig Stück ausgelegt. Nicht mehr und nicht weniger. So auch unser Leben. Es ist auf eine genau bestimmte Zahl an Tagen festgelegt. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist ja gerade der Witz: Sie können keine Tage hinzulegen. Jeder Tag, der verstreicht, kommt nicht wieder. Aber Zigaretten kann man nachlegen. Das Etui sollte immer voll sein.“
 
Er sah die Frau an, aber sie hatte ihren Blick wieder abgewendet und sah auf einen gegenüberliegenden Baum. Er klopfte auf das Etui und sagte: „Vor vier Jahren war ich bei einem Arzt. Er teilte mir mit, dass ich Krebs habe und nur noch vier Jahre zu leben hätte. Als ich das Behandlungszimmer verlassen hatte, griff ich als erstes zu meinem Etui und füllte es mit Zigaretten auf. Damals fehlten sieben Zigaretten im Etui.“
Einen Atemzug lang herrschte eine Stille vor, wie man sie nur aus Konzerten kennt, kurz bevor das Orchester zum Spielen einsetzt. Dann sprach er weiter: „Es ist ein Gefühl der Glückseligkeit, immer wieder auffüllen zu können. Wenn der Mensch jeden Tag auffüllen könnte, den er verloren hat, dann wäre er im Paradies.“
 
Er lächelte die Frau an und sagte zu ihr: „Rauchen Sie diese Zigarette und sehen Sie sich den Rauch an, wie er in der Luft zersetzt wird. Er löst sich auf. Sie können ihn nicht einfangen. Er geht ins Nichts. Sie können nur eine neue Zigarette kaufen.“
Die Frau sah auf den Rauch, der von ihrer Zigarette nach oben stieg. Sie schwieg. Da sagte der Mann weiter: „Mein Etui ist voll. Und wenn ich nicht mehr bin, ist mir mein Etui egal. Das ist das Schönste daran, wenn man weiß, dass es irgendwann vorbei sein wird.“ Dann sagte er nichts mehr. Er nahm seinen Schlapphut, erhob sich von der Bank und verabschiedete sich. Erst jetzt sahen sie sein Gesicht und erschraken.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.09.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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