Klaus-D. Heid

Das Liebesmahl

Ein seltsamer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. Ich hatte ein erstes Testhäppchen von Peters orientalischem Essen probiert. Peter wusste genau, dass ich es nicht leiden konnte, wenn ich mit undefinierbaren Zutaten konfrontiert wurde, von denen man nicht wusste, ob sie aus Fisch, Schwein oder Schlange bestanden. Alles, was ich nicht genauestens erkennen oder zumindest erklären konnte, hatte in meinem Mund und in meinem Magen nichts zu suchen. Hätte Peter mich nicht mit Engelszungen angefleht, sein ‚kulinarisches Kunstwerk’, wie er es nannte, zu kosten, gäbe es keinen Grund für mich, davon zu probieren. So aber hatte ich mich von ihm überreden lassen.

Wenn ich Peter glauben durfte, enthielt sein Essen überhaupt nichts von einem Tier. Beim Grab seiner Großmutter hatte er mir versprochen, dass wir ausschließlich exotisches Gemüse auf den Tellern hatten.

„Es sieht zumindest sehr bunt und fröhlich aus“ meinte ich zu ihm, während ich mir ein zweites und drittes Häppchen in den Mund schob. „Etwas ungewöhnlich im Geschmack – aber doch sehr aufregend im Gaumen, Peter. Hast gut gekocht, mein Lieber!“

An meine Worte erinnere ich mich noch sehr genau. Ich erinnere mich auch an Peters Gesichtsausdruck, der mir fast so seltsam vorkam, wie der Geschmack auf meiner Zunge. Da ich selbst ganz gerne koche, fragte ich ihn natürlich, was denn genau seine Zutaten waren.

„Neugierig, Mäuschen? Es bringt nichts, wenn ich’s Dir sage. Es sind soviel Gewürze und Kräuter darin, von denen Du noch nie gehört hast, dass ich es schon selbst vergessen habe!“

Kein Wort glaubte ich ihm. Ich kannte ihn schließlich. Peter liebte es, Geheimnisse zu produzieren. Aus jeder Kleinigkeit machte er gleich ein gewaltiges Mysterium.

Er selbst schien sein Essen auch zu mögen. Ich hatte noch lange nicht aufgegessen, als Peter sich bereits eine zweite Portion nahm. Es sah fast so aus, als ob er immer mehr Hunger bekam, je mehr er aß. Unablässig wanderte die Gabel von seinem Teller zu seinem Mund. So intensiv essend hatte ich ihn noch nie gesehen. Er wirkte regelrecht überkonzentriert, während er mechanisch mit der Gabel für Nachschub sorgte.

„Alles in Ordnung mit Dir? Du schaufelst ja wie ein Raddampfer auf dem Mississippi. Wann hast Du denn das Letzte gegessen? Ich frage ja nur, damit Du Dich nicht auch noch über meine Portion hermachst...!“

Als ich bei diesen Worten in Peters Gesicht sah, kam mir mein Scherz gar nicht mehr lustig vor. Tatsächlich warf er einen kurzen, aber sehr gierigen Blick auf mein Essen. War der Mann, der mir am Tisch gegenüber saß, wirklich der Peter, mit dem ich schon seit einer Ewigkeit befreundet war? Ich kannte ihn schon seit fast fünfzehn Jahren; aber derartig verbissen habe ich ihn noch nie erlebt. Spätestens bei seiner zweiten Portion gab es mich für ihn nicht mehr. Er schaufelte, stopfte in sich hinein und beachtete mich kein bisschen mehr.

„Peter? Peeeter...?“

Nichts. Er reagierte nicht. Stattdessen leckte er seinen leeren Teller gründlich ab, erhob sich, ging in die Küche – und kam mit einem ganzen Topf voll Essen zurück.

„Das glaube ich nicht! Noch mehr? Bist Du verrückt geworden? Spielen wir hier irgendein Spiel, das ich noch nicht verstanden habe? Peter? Hörst Du mich noch?“

Keine Antwort. Mittlerweile aß er auch nicht mehr. Er fraß! Er fraß tatsächlich unästhetisch und ohne jede Manieren wie ein Schwein, das nach vier Wochen Nahrungsentzug einen vollen Trog vor sich sah. Hemmungslos. Eklig. Richtig eklig!

Mir war der Appetit vergangen. Ich konnte unmöglich kultiviert weiteressen, während Peter ganz neuen animalischen Instinkten folgte. Folglich erhob ich mich wortlos von meinem Platz, ging in den Flur, um meine Jacke zu greifen und verließ Peters Wohnung.

Seit fünfzehn Jahren gab es zwischen mir und Peter so eine Art ‚halbe Liebe’. Am Anfang unserer Beziehung, zumindest in den ersten vier Wochen, waren wir sogar ein richtiges Liebespaar. Wir lachten viel zusammen, hatten viel Spaß und guten Sex miteinander, bis...

...bis Peter mir eines Tages eröffnete, dass er sich in eine andere Frau verliebt hatte.

Es folgte ein Monat, in dem wir uns nicht sahen. Irgendwo trafen wir uns danach zufällig in der Stadt, tranken Kaffee zusammen und vereinbarten, gute Freunde zu bleiben. Peter erzählte mir, dass die Geschichte mit seiner neuen Freundin bereits wieder erledigt sei. Ich spürte, dass er aus diesem Grund wieder daran dachte, seine Beziehung zu mir fortzusetzen. Vielleicht wäre ich sogar auf dieses Risiko eingegangen, wenn ich Peter mehr als nur ‚halb’ geliebt hätte! So aber war es mir ganz lieb, dass wie weiterhin befreundet bleiben konnten, ohne uns aneinandergekettet zu fühlen.

Wir trafen uns regelmäßig und unregelmäßig. Mal öfter und mal seltener. Bei jedem unserer Treffen verhielt sich Peter absolut vernünftig und rücksichtsvoll. Nie machte er eine Szene, weil er die alte Beziehung wieder aufleben lassen wollte. Trotzdem war da immer diese gewisse Spannung, die ich registrierte. Ein Knistern. Vielleicht sogar ein bisschen erotisches Knistern, weil man so oft zusammen war, ohne sich näher als nahe zu kommen.

Ab und zu erzählte mir Peter von seinen kurzen Affären. Ganz locker. Ich erzählte ihm ebenfalls von meinen Freunden und Liebschaften, die sich aber auch alle als kurzfristige Flops erwiesen. Wirklich ganz locker. Wir konnten über unsere Beziehungen sprechen, wie man es bei einem Gespräch unter guten Freunden erwarten durfte.

Es war meine feste Überzeugung, dass ich Peter besser kannte, als sonst jemand auf der Welt. Ich kannte alle seine Gewohnheiten und Macken. Ich wusste seine Fehler ebenso einzuschätzen, wie seine positiven Besonderheiten. Ich kannte ihn eben so, wie eine Schwester ihren Bruder kennt. Unsinn! Denn schließlich habe ich ihn ja auch auf eine Art und Weise kennen gelernt, die über ein Bruder- und Schwesterverhältnis hinausging.

Während ich die Wohnung verließ, um mich irritiert und auch schockiert auf den Heimweg zu machen, verspürte ich ein eigentümliches Gefühl im Magen. Meine Hände fühlten sich plötzlich seltsam feucht an. Obwohl es draußen schon relativ kalt war, begann ich regelrecht zu schwitzen. Mir wurde heiß. Kochendheiß. Kleine Schweißperlen rannen mir über die Stirn. Was war bloß los mit mir? Wurde ich etwa krank? Eine Grippe vielleicht? Hatte ich mir irgendeinen Virus eingefangen – oder war mit dem Essen etwas nicht in Ordnung? In meinem Kopf begann sich alles zu drehen. Nun spielte auch noch mein Kreislauf verrückt! Überall sah ich kleine bunte Sternchen, die wie wild um mich kreisten.

Warum auch immer – aber genau in dem Moment, in dem ich beinahe in Ohnmacht gefallen wäre, stand Peter neben mir, um mich aufzufangen.

„...Peter...?“

Ich ließ mich in seine Arme fallen, um erst Stunden später in seinem Bett aufzuwachen. Das erste, was ich wahrnahm, war dieser wirklich seltsame Geschmack in meinem Mund. Der Schweißausbruch und auch das Schwindelgefühl schienen allerdings wie weggeblasen zu sein. Es ging mir sogar sehr viel besser. Ich übertreibe auch nicht, wenn ich sage, dass es mir mehr als ausgezeichnet ging.

Seit diesem Nachmittag leben Peter und ich wieder als Paar zusammen. Ich liebe ihn. Ich verstehe nicht, wie ich es ohne ihn solange aushalten konnte! Peter ist genau der Mann, mit dem ich am liebsten jede Sekunde meines Lebens verbringen möchte. Am Besten denke ich nicht darüber nach, wie furchtbar ein Leben ohne ihn sein musste.

„Liebling? Essen ist fertig!“

Peter ruft. Es gibt heute wieder sein Lieblingsessen. Orientalisch. Inzwischen ist es auch mein Lieblingsessen. Jeden Tag. Ich liebe diesen seltsamen Geschmack der geheimnisvollen orientalischen Zutaten fast so sehr, wie ich Peter liebe...

Manchmal geht die Liebe seltsame Wege. Manchmal geht sie durch den Magen - und manchmal findet man sie auch... im Magen! KDHKlaus-D. Heid, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.10.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Langsam gehe ich auf das sechzigste Lebensjahr zu. Da hinter mir nahezu jede emotionale Erinnerung »verschwindet«, besitze ich keinerlei sichtbare Erinnerung! Vieles von dem, was ich Ihnen aus meinem Leben berichte, beruht auf alten Notizen, Erinnerungen meiner Frau und meiner Mutter oder vielleicht auch auf sogenannten »falschen Erinnerungen«. Ich selbst erinnere mich nicht an meine Kindheit, Jugend, nicht an meine Heirat und auch nicht an andere hochemotionale Ereignisse, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin.

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