Kati Pfau

Der Krug - eine Geschichte aus den Zossener Weinbergen


Kaum
jemand, der über das holprige Kopfsteinpflaster der Straße
„Weinberge“ fährt, weiß, dass diese Gegend schon sehr lange von
Menschen bewohnt ist – viel länger, als in den Ortschroniken und
Heimatkalendern zu finden ist.


Heidi
fuhr mit dem Fahrrad an einem klaren Spätsommermorgen die Weinberge
entlang Richtung Norden zur Mittenwalder Straße. Sie wollte von dort
aus der Hauptstraße durch Zossen bis nach Dabendorf folgen.
Sorgsam
war sie darauf bedacht, nicht allzu sehr vom Kopfsteinpflaster
durchgeschüttelt zu werden, doch sie kannte die Straße und ihre
Tücken seit vielen Jahren.
Heidi
war auf dem Weg zur Arbeit, wie jeden Morgen. Als Arzthelferin in
Dabendorf hatte sie keinen allzu langen Weg, den sie im Sommer gern
mit dem Fahrrad bewältigte.
Ihre
Gedanken waren noch ganz beim heutigen Frühstück. Ihr Sohn Anton
hatte ihr erst jetzt die Klassenarbeit gezeigt, mit einer dicken Fünf
darunter. Der 10jährige wußte ganz genau, dass sie am
Frühstückstisch nicht die Zeit und Ruhe hatte, das Ganze mit ihm
auszuwerten. Dieser Schlingel.
Und
Nadia, ihre 14jährige Tochter, jammerte ihr die Ohren voll, weil sie
irgend so ein schickes neues technisches Gerät brauchte, wie es
angeblich alle ihre Klassenkameraden bereits hatten. Heidi kramte in
ihrem Gehirn, was ihr Nadia darüber schon alles erzählt hatte,
währenddessen sie die Krawatte ihres Mannes Peter band und
gleichzeitig versuchte, seinen Ausführungen über den bevorstehenden
Termin mit seinem Chef zu folgen. Peter arbeitete bei einem großen
Auto-Hersteller in der Verwaltung. Gerade an diesem Tag würde er ein
wichtiges Personalgespräch über seine Karriere in der Firma haben.
Heide
war froh, auf dem Fahrrad den kühlen Wind im Gesicht zu spüren und
endlich ihren eigenen Gedanken folgen zu können.
Sie
hatte noch schnell vor dem Losfahren den Wetterbericht im Radio
gehört. Es würde ein heißer Tag werden.


Sie
war noch nicht lange unterwegs, als es urplötzlich, gerade auf der
Höhe des Grünen Weges, eiskalt und neblig wurde. So neblig und
dämmrig, dass Heidi verwundert langsamer wurde. Es kam ihr vor, als
hätte sie irgendetwas verpaßt. Eben noch hatte sie die ganze Straße
bis zur Kurve in hellstem Sonnenschein gesehen.
Wie
aus dem Boden geschossen stand eine alte Frau vor ihr. Mit
quietschenden Bremsen versuchte Heidi, ihr auszuweichen, verlor das
Gleichgewicht und stürzte. Der Aufprall war nicht eben weich.
Es
dauerte einen Moment, bis Heidi wieder einigermaßen klar denken
konnte. Ihr rechtes Knie und der Ellbogen brannten von den Schrammen,
die sie sich beim Sturz geholt hatte.
Eine
gebräunte, sehnige Hand streckte sich ihr entgegen. Heidi sah auf.
Die alte Frau lächelte zwar, doch ihre Augen sahen seltsam aus.
Bevor Heidi die hilfreiche Hand ergriff, sah sie aus den
Augenwinkeln, dass sie sich wirklich mitten in einer dicken, grauen
Nebelwand befanden. Die Häuser der Weinberge, die Zäune, die Bäume
– nichts war mehr zu sehen. Heidi spürte nur den Sand unter sich,
der das Kopfsteinpflaster der Straße säumte.
Sie
ließ sich von der Frau aufhelfen und schlang fröstelnd die Arme um
sich.
'Das
ist ja wie im November', dachte sie.
„Schön,
dass ich dich getroffen habe“, hörte sie die alte Frau sagen.
Heidi starrte fassungslos auf ihren Mund. Die Lippenbewegungen paßten
überhaupt nicht zu den Worten, die sie gesprochen hatte.
„Ich
brauche deine Hilfe, Mädchen“, fuhr sie indessen fort und sah sich
aufmerksam um. „Ich weiß nicht genau, wo ich angekommen bin, doch
scheint der Zeitzauber gewirkt zu haben“, murmelte sie dabei und
legte wie selbstverständlich ihre Hand auf Heidis Unterarm. Diese
Berührung war ganz sanft und doch so voller Vertrauen, dass Heidi
ganz warm ums Herz wurde.
Die
alte Frau sah Heidi wieder an. Und nun konnte Heidi genauer sehen,
was so eigenartig an ihren Augen war. Sie strahlten in einem hellen
Violett. Heidi war so irritiert, dass sie unwillkürlich ein Stück
zurückwich. Die Alte zog ihre Hand fort und musterte Heidi langsam
von oben bis unten.
„Du
siehst sehr merkwürdig aus. Trägt man das hier so?“
Heidi
sah an sich herab. Die helle Sommerhose betonte schick ihre Figur.
Allerdings hatte sie die Hosenbeine mit einer Hosenklammer fixiert,
damit sie ihr beim Fahrradfahren nicht im Wege waren. Heide hatte zu
der Hose eine passende, geblümte Bluse angezogen, die sie sich erst
letzte Woche gekauft hatte. Eigentlich fand sie sich ganz hübsch so.
Heidi
setzte also zu einer Antwort an, dass die alte Frau ja wohl selbst
recht merkwürdig aussah mit ihren undefinierbaren Stoffbahnen, die
sie einfach nur um den dürren Leib gewickelt hatte, mit einem
breiten Lederriemen als Gürtel, damit ihr das Ganze nicht
herunterrutsche.
Die
interessanten Dinge allerdings, die an diesem Gürtel baumelten,
ließen Heidi allerdings verstummen. Da gab es eine kleine
Lederscheide, aus der der Griff eines Messers herausragte, ein
Tontöpfchen mit einem, durch ein Loch gezogenen Seil zum Aufhängen,
verschiedene kleine Bündel getrockneter Kräuter, eine kleine,
dickgefüllte Ledertasche, in die seltsame Zeichen eingebrannt waren,
eine Flasche aus einer Frucht, die Heidi nicht kannte, und ein langer
bunter Stoffetzen.
Plötzlich
hob die Frau so gebieterisch die Hand, dass Heidi gar nicht dazu kam,
das Gespräch fortzusetzen.
„Ich
brauche deine Hilfe“, sagte sie noch einmal und diesmal war ihre
Stimme voller Autorität. Ihr Blick duldete keine Unterbrechung.
„Dort, wo ich herkomme, ist ein großes Unglück geschehen. Einer,
dessen Name ich nicht ausspreche, raubte den heiligen Krug mit dem
Getränk der Götter. Er hat ihn längst ausgetrunken, vor meinen
Augen, dieser Schandtäter. Verflucht sei sein Name!“ Voller
Bitterkeit stieß sie die Worte hervor. Für einen kurzen Moment
schwieg die Frau und ihre Augen verschleierten sich, als wäre ihr
Geist gar nicht mehr da. Dann hob sich ihr Brustkorb unter einen
heftigen Seufzer, sie schaute Heidi wieder vollkommen wach an und
sagte:
„Ich
kann den Krug wieder füllen lassen, wenn ich auf Reisen gehe in das
Land der Mittagssonne, in dem die Götter diesen Trank erschaffen.
Wenn ich den Krug nicht zurückbekomme ...“ Die alte Frau seufzte
wieder, kam einen Schritt näher und legte ihre Hand erneut auf
Heidis Arm. Durchdringend sah sie Heidi an. „Nur in diesem Gefäß
darf der Trank der Götter aus den Fässern geschöpft werden“,
raunte sie geheimnisvoll.
Fassungslos
starrte Heidi auf die seltsame Gestalt. Konnte es denn wahr sein,
dass ausgerechnet ihr das passierte? Oder lag sie etwa noch im Bett
und träumte?
„Du
mußt mir helfen. Unser ganzes Dorf ist in Gefahr, wenn ich den Krug
nicht zurückbekomme“, fuhr die Alte eindringlich fort
„Aber
… aber … wie kann ich denn helfen?“, stammelte Heidi.
Wieder
sah sich die Alte aufmerksam um.
„In
meiner Zeit ist dort ein See.“ Sie zeigte zu dem sumpfigen Gebiet,
das beidseits des Grünen Weges lag. „Er hat den Krug in diesen See
geworfen.“
stieß
sie mit triefender Verachtung hervor. „Das hier … „, sie machte
eine ausladende Handbewegung, „ … ist ein magischer Nebel. Ich
kann ihn nicht verlassen. Aber du kannst dorthin.“ Ihr langer
Finger schoß wieder in Richtung Sumpf. „Und du kannst mir den Krug
holen.“
„Wie
bitte?“ rief Heidi entsetzt. Doch in dem faltigen Gesicht der Frau
erschien ein vertrauensvolles Lächeln.
Heidi
sah sich zum Grünen Weg um. Der Nebel ließ gerade die ersten
zwanzig Meter erahnen.
„Aber,
der Grüne Weg ist ganz schön lang. Wo soll ich denn da anfangen?
Und wie soll ich in den Sumpf kommen? Und wie sieht überhaupt dein
Krug aus?“
Bei
den letzten Worten drehte Heidi sich zu der Alten um.
Doch
die war verschwunden. Genau wie der Nebel.


Morgensonne
blendete sie und es roch nach Sand. Heidi saß auf dem
Kopfsteinpflaster in der Nähe des Grünen Weges. Neben ihr lag ihr
Fahrrad und die schöne Sommerhose war jetzt nicht mehr hell, sondern
ziemlich schmutzig. Am rechten Knie schimmerte ein kleiner Blutfleck.
'Da
bin ich wohl ganz schon auf den Kopf geknallt.' dachte Heidi und
tastete vorsichtig ihren Schädel nach Beulen ab. Als sie nichts
fand, stand sie mühsam auf und schob ihr Fahrrad nach Hause. Sie
mußte sich unbedingt umziehen.
Eine
halbe Stunde später fuhr sie, frisch angezogen und frisiert, mit dem
Auto ihrer Freundin und Nachbarin wieder los zur Arbeit. An diesem
Tag geschah nichts außergewöhnliches mehr und Heidi glaubte
letzendlich, dass sie wohl nur halluziniert hatte.


-
Pause -


„Was
ist denn los, Heidi?“
Peter,
ihr Mann, brachte ihr wie jeden Sonntagmorgen auf einem Tablett ihr
Frühstück ans Bett. Er stellte es auf ihrem Schoß ab, wobei das
Geschirr leise klirrte, und setzte sich neben sie. Heidi rieb sich
die Stirn und stöhnte.
„Du
siehst total blaß aus. Geht’s dir nicht gut?“, fragte er.
„Doch,
schon“, murmelte sie. „Ich träume nur andauernd von dieser alten
Frau. Das macht mich ganz verrückt.“
„Was
denn für eine alte Frau?“
Heidi
biß in eines der Marmeladenbrötchen. Ein großer Schluck aus dem
Kaffeebecher belebte ihre Sinne.
„Ach,
ich weiß auch nicht“, sagte sie unzufrieden. „Eine alte Frau
eben. Sie schaut mich immer nur an und lächelt seltsam.“ Heidi
vermied es, Peter in die Augen zu sehen. Von dieser Sache auf der
Straße hatte sie ihm nichts erzählt. Heidi hielt sich ja selbst
schon für verrückt genug, da brauchte sie nicht auch noch Peters
skeptischen Blick
„Na,
dann lasse ich dich mal in Ruhe.“ sagte und stand auf. Im nächsten
Moment war er durch die Tür verschwunden. Im Grunde war er froh,
dass Heidi ihn jetzt nicht in ein längeres Gespräch verwickelt. Sie
wusste das. Er ging zum Fußballspiel. MSV Zossen 07 gegen Glienick.
Seine Freizeitbeschäftigung war die langjährige Mitgliedschaft im
Sportverein.
Nadia,
ihre Tochter, hatte bei einer Freundin übernachtet und würde erst
am späten Nachmittag zurück kommen. Und Anton spielte in seinem
Zimmer.
Heidi
atmete durch. Sie hatte tatsächlich einmal Zeit für sich ganz
allein. Rasch aß sie auf, griff sich ihren Laptop und begann im
Internet zu suchen. Irgendetwas würde sich doch bestimmt finden
lassen.


All
zu viel gab die Recherche allerdings nicht her. In wikipedia fand sie
den Eintrag, dass nördlich der Weinberge Reste einer
bronzezeitlichen Siedlung gefunden worden waren. Hier und da noch ein
Hinweis. Das war's.
Am
Donnerstagnachmittag saß sie in der Zossener Stadtbibliothek. Sie
war gerne hier in dem alten Hause, dass so schön wieder hergerichtet
worden war. Heidi hatte sich in den bunten Ohrensessel am großen
Fenster zurückgezogen und blätterte bei einer Tasse Kaffee in
uralten Heimatkalendern. Am Montag war sie gleich nach der Arbeit
hierher gekommen, doch die Zeit hatte nicht gereicht. Da war noch
viel mehr zu lesen und zu entdecken. Vor lauter Forscherdrang war sie
inzwischen an jedem einzelnen Tag dieser Woche hierher gekommen.
Gedankenverloren
sah sie aus dem Fenster auf den Kirchplatz. Ein paar Leute liefen
eilig zwischen den parkenden Autos hindurch.
Heidi
fiel plötzlich auf, dass sie von der alten Frau nicht mehr geträumt
hatte, seit dem sie angefangen hatte zu recherchieren. Eigentlich
hätte sie ja jetzt wieder damit aufhören können, aber es ließ sie
einfach nicht mehr los. Offensichtlich war das ganze Gebiet unterhalb
der Weinberge vor langer Zeit tatsächlich ein See gewesen. Überall
in dieser Gegend hatte es noch viel mehr Sumpf und Seen gegeben als
heute. Im Sommer und Winter wurde es trockener und sie gingen
zurückgingen. Im Frühjahr und Herbst überschwemmte wieder das
ganze Land und wurde zum großen Seen-Gebiet, das kaum passierbar
war.
Langsam
nahm sie den letzten Schluck Kaffee und klappte das Buch zu.
Wie
nur konnte sie der Alten helfen? Wo sollte sie anfangen, den Krug zu
suchen? Wie er ungefähr aussehen mußte, konnte sie sich inzwischen
vorstellen, denn sie hatte Foto's im Internet gefunden über Funde
aus der Bronzezeit.
Und
auch, wenn das ganze vollkommen verrückt war und irgendwie aus einem
Fantasy-Roman zu stammen schien – Heidi machte das ganze einen
riesigen Spaß. So begeistert war sie schon seit Jahren nicht mehr
gewesen.


Am
nächsten Samstagmorgen hielt es Heidi nicht mehr aus. Sie musste am
Frühstückstisch ihrer Familie erzählen, was sie alles
herausgefunden hatte.
Nur
sagte sie, sie hätte einen Dokumentation gesehen über die
Geschichte des Weinanbaus. Und die wäre so interessant gewesen, dass
sie begonnen hätte, weiter zu forschen.
„Na,
was meint ihr, warum unsere Straße Weinberge heißt?“ erzählte
sie weiter. Peter, Nadia und Anton sahen sie fragend an und Felix,
ihr alter Polnischer Hütehund, verkroch sich unter dem Tisch. „Weil
hier mal Wein angebaut wurde“, beendete Heidi ihren Satz
triumphierend. „Schon im Mittelalter begann man, in Brandenburg
Wein anzubauen. Die alten preußischen Kurfürsten und Könige haben
hier Leute angesiedelt, die den Weinbau betrieben, nach dem im
Dreißigjährigen Krieg das Land fast entvölkert war.“
Ihre
Kinder verdrehten die Augen und Peter wurde unruhig. Heidi winkte ab.
„Könnt
ihr auch alles selbst nachlesen.“
Peter
stand auf und gab ihr einen Kuß auf die Wange.
„Weißt
du was, ich fahre jetzt zu meinen Eltern nach Telz und erledige auf
dem Rückweg gleich den Wochenendeinkauf.“ Dann beugte er sich
etwas vor und sagte leise in Heidis Ohr. „Und ich bringe eine
schöne Flasche Wein mit für uns beide.“
Am
Nachmittag überredete Heidi die Kinder zu einem Spaziergang auf dem
Grünen Weg. Immer wieder zog sie es hierher, manchmal sogar zweimal
am Tag. Gassi-gehen Felix war da ein guter Vorwand.
Der
Himmel war heute grau-verhangen und drückende Schwüle kündigte ein
Gewitter an.
„Willst
du etwa den ganzen Weg auf und ab gehen?“ fragte Nadia mürrisch.
Heidi
sah sie von der Seite an und lächelte schelmisch.
„Stell
dir mal vor, wir würden einen uralten Krug suchen, sagen wir mal aus
der Bronzezeit, so ungefähr tausend Jahre vor der Zeitrechnung. Es
ist ein heiliges Gefäß, in dem Wein geschöpft wurde, um es dann an
die Menschen zu verteilen.“ Nadia sah ihre Mutte verblüfft an.
„Stell dir vor, er wäre dem einzigen Menschen, der diesen Krug
berühren darf, gestohlen worden.“ fuhr Heidi fort.
„Einem
Priester,“ rief Anton, der vor ihnen lief und mühsam versuchte,
Felix' Leine zu halten.
„Oder
einer Priesterin“, murmelte Heidi.
„Wie
hätte dieser Krug den ausgesehen?“, fragte Nadia, die offenbar
Feuer gefangen hatte.
„Er
wäre vermutlich aus dunklem Ton, mit geritzten Mustern, breiter
Öffnung, einem Henkel und einem gedrungenen Bauch.“
„Aber
haben die denn früher wirklich schon Wein getrunken?“, sagte Nadia
skeptisch.
„Ja,
Weinanbau ist schon uralt. Ganz sicher weiß man es schon von vor
achttausend Jahren vor der Zeitrechnung. Da gibt es Funde in der
Türkei und in Georgien. Aber Forscher vermuten, dass er noch viel
älter ist.“
„Man,
das ist ja 'n Ding“, rief Anton, während Felix ihn weiterzerrte.
Am Tabaksland angekommen, drehten alle wieder um und gingen zurück.
Nach
einer Weile blieb Felix stehen und begann, sein Geschäft zu
verrichten.
„Wein
war eine lange Zeit ganz wichtig für die Menschen“, erzählte
Heidi weiter, während sie auf Felix warteten. „Nicht nur als
tägliches Getränk, sondern auch in ihren Glaubensvorstellungen und
als Heilmittel. In der Bibel wird er ganz oft erwähnt. Und es gibt
uralte antike Sagen, zum Beispiel über den berühmten griechischen
Weingott Dionysos. Er wurde auch Trank der Götter genannt.“ Heidi
klangen die Stmme der alten Frau noch im Ohr. Sie hatte diese Worte
benutzt. Trank der Götter. Und sie hatte gesagt, dass sie in das
Land der Mittagssonne reisen würde, dort, wo die Götter den Trank
erschaffen. Dieses Land lag ganz sicher im Süden, wo schon vor
langer Zeit Wein angebaut wurde. Ganz klar, die alte Frau suchte
einen Weinkrug.
Heidi
ließ die vielen Dinge, die sie in der letzten Woche erfahren hatte,
noch einmal in ihren Gedanken Revue passieren. „Wein wurde eine
lange Zeit auch als Heilmittel benutzt. Viele Ärzte in der Antike
und im Mittelalter haben ihn empfohlen.“
„Dann
muß es für die Leute doch ganz schön schlimm gewesen sein, wenn
sie den dann nicht mehr hatten“, sagte Anton, während er Felix
beobachtete.
Heidi
nickte nachdenklich und sagte leise:
„Ja,
ein ganzes Dorf könnte darunter leiden, vielleicht sogar sterben.“
Das musste es gewesen sein, was die alte Frau gemeint hatte. Sie
glaubte, dass sie ohne den Trank der Götter nicht überleben
konnten. Nicht, um sich zu betrinken, sondern um zu heilen und ihre
Rituale auszuführen.
„Leider
wurde wohl später der Alkoholismus ein großes Problem ...“, fuhr
Heidi fort, „... so dass man davon abkam. Wie immer ist es die
Frage, das richtige Maß zu finden. Es gab aber auch andere Methoden,
an denen man nicht betrunken wurde. Hildegard von Bingen zum Beispiel
kochte alle ihre Kräuter in Wein aus, aber so lange, dass gar kein
Alkohol mehr drin war.“
„Wer?“
fragte Nadia dazwischen.
„Eine
Frau aus dem Mittelalter, eine Nonne. Sie hat ein ganzes Buch über
Krankheiten und Heilung geschrieben“, antwortete Heidi. Sie nahm
Anton die Leine ab und lief mit dem Hund weiter.
„Man,
woher weißt du denn alles?“, fragte Anton, der inzwischen sein
Mobiltelefon aus der Hosentasche gezogen hatte und auf das Display
starrte. Heidi wunderte sich jedesmal, wie er es schaffte, dabei
nicht zu stolpern oder gegen einen Baum zu laufen.
„Habe
ich recherchiert.“ sagte sie stolz.
„So,
und wir suchen jetzt also einen uralten Weinkrug, der ausgerechnet
hier herumliegen soll?“ sagte Nadia.
Heidi
zwinkerte ihr zu und zuckte lächelnd die Schultern.
„Er
ist eben verzaubert.“
Nadias
Augen leuchteten. Sie liebte Fantasy-Romane und war ganz begeistert
von der Idee, Zeitreisen zu machen und andere Welten zu erkunden. So
eine Geschichte war ganz nach ihrem Geschmack.
Plötzlich
riß die Wolkendecke auf und ein einzelner Sonnenstrahl leuchtete
quer über den Weg. Er endete am Fuß einer alten Weide, ein paar
Schritte entfernt vom Weg. Wie ein Pfeil sah er aus, als wollte das
Licht Heidi etwas zeigen. Einen kurzen Moment sah sie das Gesicht der
alten Frau vor sich. Die violetten Augen sahen sie auffordernd an.
Plötzlich durchfuhr Heidi ein Schreck. War etwa da der Krug
irgendwo? Und wenn sie ihn fand? Was machte sie dann damit? Darüber
hatte sie sich überhaupt noch keine Gedanken gemacht.
Heidi
riß sich zusammen und tat so, als hätte sie nichts gesehen.
Entfernt waren die ersten Donner zu hören. Zielstrebig zog sie Felix
hinter sich her. Sie wollte nach Hause.
„So,
geheimnisvolle Suche beendet“, verkündete sie. „Wenn's
gewittert, will ich zu Hause sein.“
Den
Krug mußte sie ohne die Kinder finde. Diese ganze Sache war einfach
zu mysteriös. Und außerdem war es ihr Geheimnis, es gehörte ihr
ganz allein.


Das
Gewitter entlud sich den ganzen Abend bis in die Nacht hinein.
Inzwischen war das Stunden her, doch Heidi konnte nicht schlafen.
Immer wenn sie die Augen schloß, sah sie violette Augen. Was für
eine verrückte Geschichte! Immerzu kreisten ihre Gedanken um diese
Stelle unter der Weide. Skeptisch sah sie durch das offene Fenster in
die Dunkelheit. Das Gewitter hatte den Himmel blank geputzt. Die
Sterne funkelten in der klaren, mondlosen Nacht.
Heidi
sah hinüber zur anderen Betthälfte. Peter schnarchte leise neben
ihr.
„Ach,
was solls“, murmelte sie schließlich, schwang sich aus dem Bett
und zog sich an. Mit Gummistiefeln und Taschenlampe ausgerüstet,
ging sie die Straße entlang bis zum Grünen Weg. Heidi wußte nicht
einmal, wie spät es war. Es war immer nächtlich still hier. An der
Ecke angekommen, blieb Heidi stehen und sah den stockdunklen Grünen
Weg hinunter. Das Herz klopfte ihr nun doch vor Aufregung. Und
unheimlich war es auch. Lange stand sie unschlüssig da im Licht der
Straßenbleuchtung und überlegte.
Da
stieg auf einmal ein dichter Nebel auf und umhüllte sie.
Merkwürdigerweise wurde es aber diesmal heller. Der Nebel schien von
innen heraus zu leuchten. Dann stand die alte Frau vor ihr mit ihrem
rätselhaften Lächeln.
„Ah,
da bist du ja.“ sagte sie, als hätten sich die beiden hier
verabredet. Heidi hatte auf einmal überhaupt keine Angst mehr,
sondern das Gefühl, eine alte, liebe Freundin zu treffen.
Eine
Zeit lang sahen sich die Frauen nur an.
„Es
ist Wein, nicht wahr?“, fragte Heidi unvermittelt.
Die
Alte nickte nachdenklich.
„So
heißt das Getränk der Götter wohl in deiner Zeit“, sagte sie
langsam. Ihr Blick schien wieder in andere Welt zu gleiten. „Es
wird einmal einen König geben, der sogar hier Wein anbauen lassen
wird.“ sagte sie mit einer weiten Geste auf die Straße. Ihr Stimme
hatte sich verändert, war dunkler und rauer geworden. Heidi bekam
eine Gänsehaut.
Die
Alte schüttelte heftig ihren Kopf, als wollte sie die Bilder, die
sie eben gesehen hatte, vertreiben. Sie sah Heidi wieder mit klaren
Augen an und sagte mit einem schelmischen Lächeln:
„Ach,
nein, zu deiner Zeit ist der längst wieder tot. Und Weinanbau gibt
es vermutlich auch nicht mehr.“
Heide
nickte zur Bestätigung.
„Was
mache ich, wenn ich den Krug finde?“, fragte Heidi.
Das
Lächeln der Alten wurde breiter.
„Du
hast ihn doch schon gefunden.“
Heidi
seufzte. Warum mußte diese Frau immerzu in Rätseln sprechen?
Die
Alte kicherte. Dann drehte sie sich um und zeigte zu einer Stelle
über dem Abhang hinter den Häusern auf der östlichen Straßenseite.
„Bring
ihn dorthin. Dann ist er in meiner Zeit am richtigen Platz und ich
kann ihn finden.“
Die
Frauen sahen sich wieder an. Heidi wollte den Anblick in sich
aufnehmen, denn sie ahnte, dass dies die letzte Begegnung mit der
Alten sein würde.
„Wenn
du das getan hast, ist mein Dorf wieder in Sicherheit“, sagte die
Frau.“Wenn du das getan hast, ist alles getan. Dann verschwinde ich
aus deinem Leben.“
Die
Worte hallten bedeutungsvoll in Heidi nach, als wäre sie in einer
Kirche.
„Ich
werde das nie vergessen.“ sagte Heidi. „Ich hätte nicht
geglaubt, was für ein Zauber in dieser Straße steckt.“ Die Alte
nickte langsam mit ihrem seltsam wissenden Blick. „Und ich habe
noch nie so beharrlich etwas herausfinden wollen.“ fügte Heidi
hinzu.
„Ich
weiß nicht, welchen Göttern ihr in deiner Zeit dient“, sagte die
alte Frau. „Aber ich weiß, dass es wundersame, unerklärliche
Dinge in allen Zeiten gibt. Unsere Begegnung gehört dazu. Auch ich
lernte Neues.“
Heidi
hätte gern gewußt, was das wohl war, aber die Alte machte eine
Handbewegung zum Grünen Weg hin.
„Und
nun geh und vollende es.“
Heidi
sah zum Weg, der sich in tiefster Dunkelheit verlor. Ihr fröstelte
vor Unbehagen.
„Aber
wie soll ich ihn finden?“ fragte sie skeptisch.
Doch
die Alte war nicht mehr da. Sie war mitsamt ihrem Zaubernebel
verschwunden.
„Na
gut“, sagte Heidi leise und straffte die Schultern. „Ich bring
das jetzt zu Ende.“
Tapfer
hielt sie die Taschenlampe vor sich wie ein Schwert und folgte dem
Lichtkegel. Der Weg wirkte wie eine dunkle Höhle, die sie betrat.
Vorsichtig
sah sie sich um. Wo war diese Stelle denn nur gewesen? In der Nacht
sah alles ganz anders aus.
In
diesem Moment ging die Taschenlampe aus. Heidi stand vollends im
Dunkeln. Verzweifelt schüttelte sie die Lampe, aber es nützte
nichts. Vielleicht war die Batterie alle. Sie hatte schon ewig nicht
mehr die Taschenlampe benutzt.
Leise
schlich sich Panik ihren Nacken hoch.
Plötzlich
erschien ein seltsames Licht, vielleicht zehn Meter vor ihr. Heidi
sah genauer hin. Es sah aus wie der leuchtende Nebel der Alten.
Vorsichtig näherte sie sich dem Licht und merkte bald, dass sie
unter der Weide stand, die sie gesucht hatte.
Zu
ihren Füßen schaute tatsächlich zwischen Schilf, Gras und
Baumstamm der Hals eines Kruges heraus. Und er sah genauso aus, wie
sie sich ihn vorgestellt hatte. Seltsam, dass er einfach so hier lag
und ihn noch niemand entdeckt hatte.
Doch
als Heidi den Krug berühren wollte, griff sie durch ihn hindurch. Es
war ein Nebelgebilde, eben nicht von dieser Welt. Einen Augenblick
war Heidi irritiert. Dann aber umfaßte sie vorsichtig den Nebelkrug
wie ein Küken und hob ihn auf. Er fühlte sich überhaupt nicht fest
an. Sie trug tatsächlich ein Stück Nebel vor sich her.
Heidi
konzentrierte sich ganz auf den Schatz in ihren Händen und lief los.
Sie mußte nicht auf den Weg achten. Sie hatte das Gefühl, der Krug
wissen ganz von selbst, wohin er gehörte. Heidi ließ ihn einfach
die Richtung bestimmen. Ihre einzige Aufgabe war, ihn zu halten und
einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es dauerte nicht lange und sie
betrat die beleuchtete Straße, folgte ihr ein Stück und gingen dann
den dunklen Feldweg zwischen den Häusern hinauf.
Irgendwann
stand sie wieder im Dunkeln. Sie mußte sich jetzt über dem Abhang
hinter den Häusern befinden, aber es kam ihr seltsam unwichtig vor.
Vielleicht träumte sie ja doch.
Der
Nebelkrug zog ihre Hände regelrecht auf den Boden. Hier wollte er
her.
Vorsichtig
legte Heidi ihn ab. Sie war ganz benommen von der Berührung mit ihm.
Fasziniert sah sie, wie ddas Gebilde, eben noch seltsam leuchtend,
sich auflöste und in der Nacht verschwand.


Heidi
wachte in ihrem Bett auf. Sie wußte nicht mehr, wie sie nach Hause
gekommen war. Ihre Jeans lag über dem Stuhl, aber das T-Shirt von
gestern nacht trug sie noch. Also war es doch kein Traum gewesen. Sie
rieb sich die Augen, stand auf und öffnete das Fenster. Die
Morgensonne tauchte alles in ihr schon herbstliches Licht. Die Luft
war zwar kühl, doch die Hitze war schon zu spüren. Dies würde ein
letzter heißer Sommertag werden. Heidi atmete die Morgenluft tief
ein, schloß wieder die Augen und ließ den Zauber der Nacht noch
einmal in sich erklingen.
„Komm
wieder ins Bett“, lockte sie Peter zärtlich.
Heidi
kicherte und schlüpfte zurück unter die Decke.
Irgendwann
würde sie ihm vielleicht von ihrem Abenteuer erzählen.

Seit
dieser Nacht fuhr Heidi, ob nun mit dem Fahrrad oder mit dem Auto,
mit einem ganz neuen Gefühl durch die Weinberge. Auch wenn ihr die
alte Frau nie wieder begegnete, selbst in ihren Träumen nicht, so
wusste sie doch, dass es wundersame Dinge überall geben konnte,
sogar hier.
Und
jedesmal, wenn Heidi am Grünen Weg vorbeikam, lächelte sie.

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Kati Pfau).
Der Beitrag wurde von Kati Pfau auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.09.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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