Manfred Bieschke-Behm

Der Ahornbaum in einem Berliner Hofpark a la Miniature



Mein Name ist Ahorn. Besser gesagt Spitz-Ahorn. Ich kann eine Höhe von zwanzig bis dreißig Meter erreichen und einhundertfünfzig bis zweihundert Jahre alt werden. Meine Rinde ist in der Jugend glatt und blassgrau. Im Alter wird meine Borke dunkelbraun oder grau. Die Struktur ist längsrissig aber nicht schuppig wie bei bei manch anderen Baumarten. Ich habe es aufgegeben meine Lebensjahre zu zählen. Eines Tages, wenn ich aufgehört habe zu leben, mein Stamm zersägt wird, werden die Jahresringe Zeugnis von meinem wahren Alter ablegen. Aber soweit ist es noch nicht. Ich wünsche mir noch viele Jahre hier in dem Berliner Hofpark a la Miniature zu stehen, um all das Treiben um mich herum erleben zu dürfen. Es ist jetzt Ende September und ich stehe im Halbschatten und erlebe einen wunderschönen Spätsommernachmittag. Langweilig wird es mir nie. Es gibt immer wieder Neues zu entdecken und zu erleben. Selbst Dinge, die ich schon oft beobachten konnte, sind gewissermaßen immer wieder neu. Die Situationen werden von Menschen geschaffen, und die sind so unterschiedlich, vergleichbar mit der Vielzahl der unterschiedlichen Bäume. Gerade beobachte ich spielende Kinder. Mit ihren Müttern hocken sie in dem neu gestreuten weichen Quarzsand und versuchen den Sand für sich zu entdecken und mit ihm zu spielen. Es ist schön zu beobachten, wie die Kleinen gedankenverloren ihrem Spiel nachgehen und die Mütter dabei zufrieden zuschauen. Das rotblaue Holzsegelschiff bietet genug Schutz, um sich abgeschirmt und unbeobachtet zu fühlen. Immer wieder kann ich beobachte, dass die Kleinen ganz genau wissen, was sie wollen. Nicht selten höre ich ein kräftiges „Nein“ wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen können und darum kämpfen das zu tun, wozu sie gerade Lust verspüren. Spielerisch lernen die Kinder sich durchzusetzen, zu teilen, vielleicht auch zu verzichten. Auch Mut machen und Verstehen lässt sich lernen wie das Anhäufen von Sand oder das Bauen einer Sandburg.
Zu meinen Füßen, besser beschrieben zu meinen Wurzeln, liegt ein nicht mehr ganz vollständig erhaltener Baumstamm. Seine Herkunft lässt sich nicht mehr feststellen auch nicht wo er einst als Schattenspender gestanden hat. Jetzt dient er als natürliche Begrenzung zu einem kleinen nichtssagendem Sandhügel. Vermutlich wird die Erhebung noch begrünt. Zurzeit ist sie erdig braun und wird von zwei überdimensional großen Holzpilzen geziert.
Immer wieder schaue ich auf den morschen lang gestreckten Baumstamm und frage mich, ob irgendwann mein Stamm auch als Begrenzung genutzt wird. Vielleicht werde ich auch geschreddert und ende als Wegebelag? Ich weiß es nicht, was die Zukunft mit mir vorhat. Will ich es überhaupt wissen? Warum denke ich überhaupt so oft über die Zeit danach nach? Wer kann Einfluss nehmen auf seine Zeit nach dem irdischen Leben? Ich, der stramme Ahornbaum, will mich nicht ins Unabdingbare verlieren, sondern viel lieber im Jetzt und Heute leben.  
Gerade jetzt nehme ich den leicht aufbrausenden Wind wahr. Ich spüre, wie er versucht durch meine Krone zu dringen, was ihm nur bedingt gelingt. Meine Krone ist mächtig. Mein Laub färbt sich, der Jahreszeit entsprechend, langsam bunt, und dennoch ist es kraftvoll genug, dem Wind nicht die Übermacht zu geben. Es tut mir gut, den Wind zu spüren. Ich spüre meine Lebendigkeit. Ich genieße diesen Zustand und beobachte dabei die Birke, die mir in knapper Entfernung gegenüber steht. Auch sie wird nicht vom Wind verschont und wiegt gezwungen ihre zum Teil dürren Äste. Die Birke sieht müde und durstig aus. Ich weiß nicht, ob sie sich hier auf dem Hofpark á la Miniature wohl fühlt. Wenngleich sie, zumindest aus meiner Sicht einen wunderbaren Standort hat. Sie kann sich rund herum frei entfalten. Rings um sie herum ist genug Platz, um zu wachsen, zu gedeihen und sich auszubreiten. Was macht sie dennoch so traurig? Vielleicht ist sie gar nicht traurig. Vielleicht ist sie das nur in meiner Fantasie. Ja, die Fantasie, sie verübt so manchen Streich! Ich habe oft versucht mit der Birke Kontakt aufzunehmen. Leider ist es mir bis heute nicht wirklich gelungen. Merkt die Birke mein Bemühen nicht, oder wünscht sie keinen Kontakt mit mir? Vielleicht bin ich ihr nicht standesgemäß? Was für ein absurder Gedanke? Sie weiß sicherlich, dass meine Lebenserwartung höher ist als die ihrige. Aber sich deshalb so abzugrenzen, so zurückhaltend und ablehnend zu leben? Was spräche dagegen sich gegenseitig wahrzunehmen und sich gedanklich auszutauschen?
Die Birke steht mit mir gleich lange am von Menschenhand bestimmten Platz. Wir sind gemeinsam aufgewachsen und haben so manche Veränderung an uns und um uns herum mitbekommen. Anfänglich standen wir, wie auch die anderen Bäume auf einem eher bescheiden ausgestatteten Hof. Wir waren – soweit möglich - Schattenspender und geduldet. Heute sind wir ein Teil des neu gestalteten Hofparks und können uns glücklich schätzen dazu zu gehören.
Mein Standort ist nicht so komfortabel wie der Standort der Birke. Ich stehe als ein Teil der Randbegrenzung des umfriedeten Hofparkes in einer eher bescheidenen Ecke. Wogegen die Birke – wie schon erwähnt - vollständig frei steht und umgangen werden kann. Zu allem Überfluss besitzt sie noch eine Rundbank, die ihren Stamm umschließt. Wieso sage ich „zu allem Überfluss“. Bin ich eifersüchtig? Gönn ich der Birke diesen Luxus nicht? Was für böse Gedanken. Ich streiche „zu allem Überfluss“ und ergänze es mit „zur Freude der Anwesenden und Nutzer“. 
Noch immer weht der warme Spätsommerwind durch meine Baumkrone. Ich nutze die Gelegenheit und bestimme, dass ein paar meiner Blätter zur Birke hinüber wehen. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass die Birke das Signal versteht und die Kontaktaufnahme richtig zu deuten weiß. Meine Hoffnung erfüllt sich nicht. Schade! Zu sehr ist die Birke mit sich selbst beschäftigt als dass sie mein Bemühen der Annäherung bemerkt. Vielleicht war der Augenblick ungünstig gewählt. Denn gerade als ich meine Blätter verschickte, setzen sich mehrere Menschen auf die Rundbank. Sie genießen die Bequemlichkeit und das Schattenspiel, das die Sonnenstrahlen und die Birkenzweigen erzeugen. Im Gegensatz zu den spielenden Kindern verhalten sich die Erwachsenen sehr ruhig. Sie alle sind damit beschäftigt ihre Gedanken zu Papier zu bringen. Immer wieder schauen sie sich um, um gleich anschließen das Wahrgenommene zu notieren. Auch ich werde angesehen und beobachtet. Ob ich in Worte gefasst verewigt werde, weiß ich nicht. Ich werde es sicherlich auch nie erfahren. Ich verstehe zwar die Sprache der Menschen, aber das was sie schreiben ist und bleibt mir fremd. Die Menschen benutzen Papier, um etwas darauf zu schreiben und machen sich sicherlich kaum Gedanken darüber, dass wir – die Bäume – es sind, die ihnen erst die Möglichkeit geben ihre Gedanken und Gefühle schriftlich festzuhalten.
Ich glaube kaum, dass ich irgendwann zu Papier verarbeitet werde. Eigentlich ein schöner Gedanke Unterlage zu sein, auf dem Worte, Sätze und Geschichten geschrieben werden, die möglicherweise die Zeit allen Daseins überdauern.
Für dieBirke ist es die von Menschenhand geschaffene Rundbank, die sich ihr Stamm zu Eigen gemacht hat. Bei mir ist es der Efeu, der sich zunächst zaghaft, dann aber mit aller Macht an meinem Stamm zu schaffen angerichtet hat. Das immergrüne kletternde Gewächs hat – ohne mich um Erlaubnis zu fragen – immer mehr von mir Besitz ergriffen. Bald schon hat der Efeu meine Baumkrone erreicht und das finde ich gar nicht gut. Ich möchte nicht, dass durch den Efeu meine Äste Schaden nehmen und möglicherweise absterben. Ich hoffe, dass besonnene Menschen das zu verhindern wissen, indem sie den Efeu beschneiden, ihm den Garaus bereiten und damit meinen Zweigen das Leben retten. Wie kann es eigentlich passieren, dass es Situationen gibt, wo irgendwer Besitz des Anderen nimmt oder es zumindest versucht ohne sich hierfür die Genehmigung zu holen? Wie kann das sein? Ich hoffe, dass ich auf diese Frage irgendwann eine erklärende Antwort bekomme. Zurzeit bin ich ratlos und warte auf die Weisheit des Lebens.
Wie Leben entsteht, kann ich momentan sehr gut beobachten. Gleich rechts neben mir entstehen neue Rasenflächen. Die eine Fläche zeigt bereits ihr saftiges üppiges Grün, wobei auf dem angrenzenden Feld erst zaghaft erste zerbrechlich wirkende Rasenhalme sprießen. Wie mühelos versucht die junge Saat sich zwischen den Steinen zu behaupten. Wer wird siegen? Das Gras? Oder werden es die Steine sein, die ein Emporkommen verhindern? Gras ist genügsam und geduldig. Gras nimmt sich den Platz, der ihm zur Verfügung steht. Ich glaube nicht, dass Gras kämpft. Gras, in seiner Bescheidenheit lebt in unauffälliger Zufriedenheit und weiß, dass Verzicht eher dafür spricht zu überleben.
Was mir ganz besonders gefällt, sind die vielen Steine, die den gesamten Platz unterschiedlich schmücken. Ihre Größen, Farben und Formen lassen glauben, dass der Hofpark – wenn die Menschenkinder nicht da sind – trotzdem lebt. Ich überlege, wo die Steine wohl herkommen? Sie haben bestimmt eine lange Reise hinter sich. Und wie alt mögen sie sein? Bestimmt viel älter, als alle Hofbäume zusammen. Wo haben sie vor der Zeit hier gelegen? An der Nordsee oder an der Ostsee? Im Harz oder im Schwarzwald? Die Sprache der Steine und meine Sprache verstehen sich nicht und deshalb wird es keine Antworten auf meine Fragen geben.
Jetzt haben die Steine eine neue Heimat gefunden und fühlen sich hoffentlich wohl. Durch Menschenhand sind kleine Mauerkunstwerke entstanden. Geschickt wurden Natursteine und bunte Ziegel in Verbindung gebracht. Zusammen bilden sie eine kleine schlangenförmige Mauer beziehungsweise einen Bogen mit einem runden Durchbruch. Fein geordnet umfassen Pflastersteine ein Rondell mit grob bearbeiteten bunten Quadersteinen. Gerade jetzt zum Beginn der untergehenden Sonne ergibt sich ein wundersamer Glanz, der die Steine noch wertvoller erscheinen lässt, als sie es ohnehin sind.
Steine und Bäume gibt es schon so lange, wie die Welt besteht. Ob Steine auch träumen können, so wie Bäume? Leben Steine überhaupt? Oder sind sie trotz ihrer Schönheit leblose Objekte? Ich und meine Geschwisterbäume können träumen. Ja, ich kann träumen. Manchmal, wenn sich meine Krone sanft hin und her wiegt, ist es nicht unbedingt der Wind, der die Bewegung bringt. Nein, es sind meine Träume, der mich glauben lassen die Welt ist so wie ist, in Ordnung. Noch ist mein Umfeld zu unruhig um träumen zu können. Aber bald, wenn die Kinder müde vom Spielen sind und mit ihren Müttern nach Hause gehen, wenn auch die letzten Sonnenstrahlen sich verabschiedet haben, wenn die Kühle der Nacht ihre ersten Vorboten schickt, dann beginnt meine Zeit der Träume. Aber noch ist die Zeit nicht gekommen. Noch heißt es, das Leben um mich herum bei vollem Bewusstsein wahrzunehmen.
Soeben erreichen mich völlig unerwartet zarte gelbgrüne Birkenblätter, die der Wind mir zuweht. Was hat das zu bedeuten? Ganz bestimmt ist es kein Zufall. Möchte die Birke nun endlich Kontakt mit mir aufnehmen? Ich schaue hoffnungsvoll zu ihr hinüber und glaube zu erkennen, dass die Birke meine Sehnsucht erkannt hat. Ob das der zarte Beginn einer Freundschaft ist? Ich kann es nicht voraussagen. Nur wünschen. Und der Wunsch in mir, lässt keine Zweifel aufkommen. Er wird begleitet von dem Gedanken, dass das Leben das ist, was gerade passiert und das es wichtig ist, diesen Augenblick zu leben und nicht durch neue Pläne schmieden den Moment, der Glück bedeuten kann, verpasst.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Manfred Bieschke-Behm).
Der Beitrag wurde von Manfred Bieschke-Behm auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.10.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Manfred Bieschke-Behm als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Kleiner Spatz was nun von Karin Rokahr



Ein Gedichtsband über Träume, Sehnsüchte und Hoffnungen einer Verliebten, angereichert mit Momentaufnahmen des alltäglichen Lebens, geschrieben von einer ganz normalen Frau.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Manfred Bieschke-Behm

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Sonderangebote von Manfred Bieschke-Behm (Mensch kontra Mensch)
Wunschträume von Claudia Savelsberg (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Erinnerungen an einem verkorksten Leben 1.Kapitel von Joachim Garcorz (Lebensgeschichten & Schicksale)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen