Maike Schäfer

Die Zeit steht still


Noch immer
blickte er wie traumatisiert auf die Blutlache vor seinen Füßen. Noch immer
konnte er nicht begreifen, was geschehen war. Er konnte sich nicht bewegen. Er
konnte nichts fühlen. Er konnte nichts denken. Das Geschehen um ihn herum
wirkte auf ihn wie ein Film, der an ihm vorbeirauschte. Menschen rannten umher.
Entsetzt schlugen sie sich die Hände vor den Mund. Sie tauschten Blicke aus.
Blicke, die er nicht sehen konnte. Blicke, die er nicht sehen wollte.

Die Zeit steht still.

Und
dennoch konnte er ihre Blicke spüren. Ihre Blicke, die auf ihm ruhten. Ihre
Blicke, die so viel sagten. Doch er wollte die Botschaft nicht wissen. Es
interessierte ihn nicht. Er wollte nicht wissen, was sie dachten. Er wollte
nicht hören, was sie sagten. Es rauschte an ihm vorbei wie der Wind, der ihm
die Haare aus der Stirn fegte. Er starrte auf die Gestalt vor ihm. Er konnte es
nicht fassen. Er wollte schreien. Er wollte Schmerzen spüren. Er wollte leiden.
Doch er konnte nicht. Er war leer.

Die Zeit steht still.

Laute
Sirenen drangen gedämpft an sein Ohr. Aus den Augenwinkeln sah er das
Blaulicht, das sich unaufhörlich auf ihn zu bewegte. Er rührte sich nicht vom
Fleck. Er konnte nicht. Sein Körper gehorchte ihm nicht. Er wollte irgendetwas
tun. Irgendetwas tun, das alles ungeschehen machen würde. Die Zeit
zurückspulen. Alles auf Anfang. Doch er konnte nicht.

Die Zeit steht still.

Unzählige
Bilder schossen ihm unaufhörlich in den Kopf. Das Lächeln, das sie ihm
zugeworfen hatte, als sie ihn erblickt hatte. Ihre Haare, vom Winde verweht. Das
strahlende Leuchten in ihren Augen. Der Klang ihrer erfreuten Stimme, als sie
seinen Namen rief, trat an sein Ohr. Ihr Lächeln, das kurz darauf wieder
schwand, als sie seinem Blick begegnete. Die Tränen, die in ihre Augen traten,
während sie miteinander sprachen. Der Streit, der sich daraus entwickelte. Der
Schmerz in ihren Augen. Die Tränen, die schließlich an ihren Wangen
hinabrollten. Sie, wie sie mit wehendem Haar die Flucht ergriff und achtlos auf
die Straße rannte. Es geschah alles so schnell. Bevor er hätte reagieren können,
wurde sie schon von einem Auto erfasst. Der Klang von brechenden Knochen, als
ihr Körper mit dem Fahrzeug zusammenprall, lag noch immer in seinen Ohren.

Die Zeit steht still.

Ganz urplötzlich
überkam ihn ein eisiger Schauer und unzählige Gefühle stürzten auf ihn ein. Er
spürte den Schmerz. Er spürte die Trauer. Er spürte die Wut. Die Wut auf sich
selbst. Er spürte die Schuld, die auf ihm lastete. Der Himmel brach auf. Lauter
Donner dröhnte durch die Straßen, strömender Regen platzte auf ihn hinab und
vermischte sich mit seinen Tränen, die nun ungehalten seine Wangen hinab
flossen. Seine Beine gaben nach, er fiel auf die Knie und schlug sich die Hände
vors Gesicht. „Du musst mich vergessen.“, waren die letzten Worte, die er zu
ihr gesagt hatte. Vergessen sollte sie ihn. Sie würde es vielleicht. Wo auch
immer ihre Seele jetzt war. Doch er würde nicht mehr vergessen können. Nicht
jetzt. Nicht in ein paar Jahren. Nie. Nie mehr.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.10.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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