Yvonne Gutsche

Auf der Suche

Das Licht der Mittagssonne umspielte die Lücken der Bäume und erhellte in voller Pracht die kleine Lichtung mit der wunderschönen Villa darauf. Über dem großen mit Säulen links und rechts versehenen Eingang hing ein bunt bemaltes Schild, auf dem "Kinderheim Walddorf" stand. Es lag in der Nähe von München und war seit über fünfzig Jahren im Besitz des Grafen von Prien.

Es war still um die Mittagszeit. Man hätte denken können, das Heim sei unbewohnt, nur herumliegendes Spielzeug auf der Wiese vorm Haus verriet, daß doch Leben in dieser Harmonie herrschte. Hier lebten fünfundzwanzig Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren. Unter ihnen der neunjährige Halbwaise Maximilian. Sein kurzes schwarzes Haar umspielte sein freches Gesicht mit den vielen Sommersprossen und den stahlblauen Augen.

Er kam nach dem Tod der Mutter vor sechs Jahren hierher und seit dieser Zeit war "Walddorf" sein Zuhause und die Bewohner seine Familie. Wo sein Vater lebte, wußte er nicht. Er besaß nur ein altes zerknittertes Foto mit einem Haus darauf, das in einem Tal umgeben von Bergen lag. Maximilian fragte sich oft, ob sein Vater wohl dort leben mag und ob er manchmal an seinen Sohn dachte. Das machte ihn dann immer neugierig. Vielleicht sollte er auf die Reise gehen und nach dem letzten Verwandten suchen. Jedoch wollte er nicht einfach weglaufen, schließlich sollen sich die Freunde hier und seine Lieblingserzieherin Fräu- lein Adelheid keine Sorgen um ihn machen.

Fräulein Adelheid war eine hübsche junge Frau und keiner der Betreuer war so warmherzig zu den Kindern wie sie. Jeder mochte sie und sie erinnerte Maximilian sehr stark an seine ge- liebte Mutter. Oft bürstete er ihr abends das lange blonde Haar und fühlte sich in diesen Momenten vollkommen frei und ge- borgen. Zu ihr hatte er so großes Vertrauen, daß er ihr an einem dieser Abende von seinen Gedanken erzählte. Sie hörte ihm ge- duldig zu, bis seine Worte in ein langes Schweigen übergingen. Nach einer Weile des Nachdenkens sprach Fräulein Adelheid davon, daß sie in zwei Tagen ihren Jahresurlaub antrete und da sie noch nicht genau wüßte, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte, könne sie ihn ja für ein paar Tage mit auf die Reise nehmen, um nach seinem Vater zu suchen. Die Augen des Knaben wurden groß vor lauter Aufregung. War es Angst, die ihn jetzt erfüllte oder Freude, seinen Vater in die Arme schließen zu können? Vielleicht wollte er ihn ja gar nicht. Was wäre, wenn er eine neue Familie hat und Maximilian dann doch wieder auf sich allein gestellt ist? Fräulein Adelheid überzeugte ihn jedoch davon, daß es auf einen Versuch ankam.

Den gleichen Abend rief sie den Grafen an. Er war ihr Vater und ihm erzählte sie Maximilians Geschichte. Gerührt davon ließ er all` seine Kontakte spielen und nach ein paar Telefonaten kam das entscheidene Fax. Maximilians Vater lebte in Frasdorf. Der Ort lag nur ein paar Kilometer von hier entfernt. Als die Nachricht auch Fräulein Adelheid erreichte, hatte sie eine Idee. Sie erklärte Maximilian, sie müsse noch ein paar Erledigungen machen, ehe sie ihn zur gemeinsamen Reise abholen könne. Um dem Jungen eine vielleicht folgenschwere Enttäuschung zu ersparen, fuhr sie vorab nach Frasdorf, um Maximilians Vater auf den kommenden Besuch vorzubereiten und um zu schauen, ob er auch willig war, seinen Sohn wiederzusehen.

Wilhelm war ein freundlicher Mann mit den gleichen großen Augen wie sein Sohn und auch die Sommersprossen und das schwarze Haar ließen keinen Zweifel an der Vaterschaft. Ganz aufgeregt und zitternd saß er an seinem morschen Eßtisch, als Fräulein Adelheid ihm von Maximilians Schicksal und seinem Wunsch berichtete. Nach der Trennung von seiner Frau und dem Kind, brach der Kontakt ab und auch von dem Tod der Mutter wußte er nichts. Die letzten Jahre war er sehr einsam und plötzlich fing er so laut an zu lachen, daß Fräulein Adelheid einen großen Schreck bekam. Doch es war die innere Befreiung seiner. Nun endlich hatte er wieder eine Aufgabe, eine Verantwortung - sein Sohn Maximilian.

Am nächsten Tag fuhren der Knabe und das Fräulein nach Frasdorf. Maximilian wunderte sich etwas, daß seine Vertraute sich hier auszukennen schien. Gezielt führte sie ihn auf einen Berg. Oben angekommen blieben beide stehen. Maximilian wollte sich eine Weile die Aussicht ansehen, bevor sie weiter- gingen. Doch er war längst am Ziel. Ganz deutlich erkannte er inmitten eines Tales das Haus von seinem Foto. Nun war alles geschafft und sein Traum hatte sich erfüllt: er war daheim!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.10.2000. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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