Manfred Bieschke-Behm

Schließt Türen und Fenster und bedenkt die Dicke der Mauern





 
Es ist noch gar nicht so lang her, da kam ich an einem Laden vorbei, der Gemälde verkauft. Neben vielen anderen Bildern, fiel mir sofort das Bild mit dem Namen „Sunday“, gemalt von Edward Hopper aus dem Jahre 1926, auf. Ich fühlte mich sofort von dem Bildmotiv angesprochen. Warum? Was ist das Besonderes an diesem Bild? Ich habe keine Antworten auf diese Fragen. Auf der Bordsteinkante sitzt ein glatzköpfiger Mann in Hemdsärmeln und schwarzer Hose. Auch trägt er eine schwarze Weste und schwarze Schuhe. Seine Arme hat der Mann verschränkt auf seine Kniee abgelegt. Sein Blick ist starr, viellicht gedankenverloren. Worüber denkt er nach? Vielleicht hat der Mann ein ähnliches Transparent gelesen wie ich. Gegenüber vom Gemäldeladen hängt ein Transparent an der Hausfassade auf dem steht: Schließt Türen und Fenster und bedenkt die Dicke der Mauern.
Hinter dem sitzenden Mann befinden sich eine Ladenzeile, das heißt zu sehen sind zwei leere Schaufenster und eine verschlossene Tür dazwischen. Rechts und links von diesem Geschäft befinden sich weitere Läden. Warum sind die Schaufenster leer? Sind alle Waren ausverkauft oder noch nicht eingeräumt? Das Bild gibt auf diese Fragen keine Antworten.
Die Farben des Bildes lassen glauben, dass es Mittagszeit ist. Die Sonne scheint kräftig, damit erklären sich die leuchtenden Farben, die auf dem gesamten Bild verteilt sind. Es muss Sonntag sein, was den Titel des Bildes „Sunday“ erklärten würde und vielleicht auch die nicht vorhandene      Betriebsamkeit Obwohl der Maler leuchtende Farben verwendet hat, hat das Bild etwas Bedrohliches. Braucht der Mann Hilfe? Wartet er, dass er angesprochen wird?
Irgendwie kann ich mir vorstellen, dass ich der Mann auf dem Bild bin. Wie ich mit verschränkten Armen, wartend ins Leere blicke. Aber auf was warte ich? Vielleicht warte ich gar nicht auf "was", sondern auf "wie". Wie soll es weiter gehen? Womit soll es weiter gehen? Ich fühle mich Gedankenverloren, Gedankenverraten, Gedankenverboten.
 
Reden möchte ich. Mit Jemandem sprechen würde ich gerne und dabei meine mir vertraute Stimme hören und die meines Gegenüber. Ohne Zuhörer, nur ins Leere sprechen, ist mehr als deprimierend. Genauso deprimierend wie langes Schweigen. Stumme Worte sind gefährlich.
Sprechen können beinhaltet, dass Gedanken gehört und bestenfalls verstanden werden auch auf die Gefahr hin, dass Gedanken und Worte in Konkurrenz stehen.
 
In meiner Fantasie hebt der Mann auf dem Bild irgendwann seinen Kopf und wagt den Blick geradeaus. Dabei entdeckt er an der gegenüber liegenden Hausfassade ein Transparent, mit der Aufschrift "Schließt Türen und Fenster und bedenkt die Dicke der Mauern". Der Text wird nur oberflächlich von ihm gelesen, vielleicht nicht verstanden. Vielmehr überlegt der Mann, wie lange das Transparent dort wohl schon hängt. Sicherlich schon eine ganze Weile, denkt er, denn er erkennt Verschleißspuren. Jetzt liest der die Aussage des Transparentes noch einmal. Was will der mit brauner Farbe aufgetragene Satz dem Lesenden sagen?, fragt sich der Mann, und hört erschrocken seine eigene Stimme. Ist der Satz als Hilfeschrei zu verstehen? Oder will der Satz vor etwas warnen? Handelt es sich um ein verstecktes Hilfsangebot? Der Mann hat viele Fragen bekommt aber keine Antworten.
 
Während ich mir das Bild weiterhin aufmerksam ansehe spiegelt sich der Schriftzug des Transparentes in der Schaufensterscheibe. Es scheint so, als gäbe es eine Verbindung zwischen dem Bild und dem Transparent. Aber welche? Meine innere Stimme sagt mir, dass dicke Mauern vor Kälte schützen aber auch vor Angriffe. Gleichzeitig können dicke Mauern viel Raum und das Gefühl von Freiheit und Zugehörigkeit nehmen. Verschlossene Fenster und Türen versprechen Sicherheit für diejenigen, die sich dahinter befinden. Denen die außen vor sind, verweigern sie unbegrenzten Einblick und Zugang.
 
Symbolisieren die leeren Schaufenster die Leere, die der Mann in sich verspürt. Fühlt er sich ausgeschlossen von der Gesellschaft ohne zu wissen weshalb? Hat er die Arme verschränkt auf seine Kniee abgelegt, weil er damit seine Verschlossenheit symbolisieren will oder will er sich mit seinem Erscheinungsbild andeuten, dass er sich zu schützen und abzugrenzen weiß? Vielleicht bedeutet es, dass der Mann sich in sich gefangen fühlt. Vielleicht weiß er aber auch einfach nicht wohin mit seinen Händen.
 
Ich lege dem Mann die Worte in den Mund: „Ich bitte euch, lasst mich nicht draußen sein. Öffnet mir Türen und Fenster und gebt mir das Gefühl das dicke Mauern nicht undurchdringbar sind.
Wer denkt so? 
Der Mann auf dem Bild
oder ich?

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.10.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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