Christiane Mielck-Retzdorff

Rudi ratlos


 
 
Von hier oben hatte Rudi eine weiten Blick über die Landschaft hinter der kleinen Gemeinde. Dort lagen die grünen Weiden in das Sonnenlicht eines erstaunlich warmen Herbsttages getaucht, während sich die Blätter der Bäume langsam gelb und rot färbten. Eigentlich eine schöne Ansicht, aber viel wichtiger war Rudi, was sich sechs Stockwerke unter seinen Zehenspitzen abspielte. Er hatte vorher vermutet, dass der Marktplatz an diesem Sonntag belebt sein würde. Alle wollten auf den Außenplätzen der Cafes und Biergärten den vielleicht letzten sommerlichen Tag genießen. Der Pfarrer belohnte seine sonntägliche Pflichterfüllung mit einem Schoppen Wein. Andere ehrenwerte Bürger hatten dem Bier schon reichlich zugesprochen. Die Damen hatten sich herausgeputzt und löffelten ein mit Likör verfeinertes Eis. Und einige gelangweite Kinder bauten Türme aus Pappuntersetzern.
 
Zwei unbeschäftigte Buben schauten als erste gen Himmel, wo ein Bussard kreiste und entdecken Rudi an der Kante des Flachdaches des häßlichen Rathausneubaus. Stumm sahen sie zu ihm hinauf. Natürlich kannten sie ihn, den ledigen Mittvierziger, der das Archiv der Gemeinde betreute. Immerhin war er hier aufgewachsen. Die beiden tuschelten, wollten aber ihre Entdeckung für sich behalten. Sie ahnten, warum der Mann auf dem Dach stand und warteten gespannt auf das weitere Geschehen. Doch Rudi war das eindeutig zu wenig Aufmerksamkeit. Wenigstens einmal sollten alle diese Menschen zu ihm aufblicken. Er hatte Zeit. Doch irgendwann verloren die Buben die Geduld. Laut sagte der eine von ihnen:
„Wann springt er denn endlich?“
Keiner der am Tisch munter plaudernden Leute hörte jedoch seine Worte. Dafür schimpfte der Zweite: „Halt die Klappe!“
Dieser unflätige Satz ließ dessen Mutter aufhorchen.
„So spricht man nicht mit anderen Menschen“, ermahnte sie ihn streng. Aber dann folgte sie seinem Blick gen Himmel und sah nun auch Rudi an dem Rande des Daches stehen.
„Da oben“, schrie die Frau panisch. Nun schauten immer mehr Leute zu Rudi hinauf, und er lächelte zufrieden.
„Das ist ja der Rudi. Was macht der denn da?“
„Vielleicht die Aussicht genießen.“
„Blödsinn, der will runter springen.“
„Woher willst du denn das wissen. Die kennst ihn doch kaum.“
Mittlerweile hatte sich die Menge zu einer Menschentraube zusammengefunden und starrte aufgeregt nach oben. Die Kellner standen recht ratlos mit ihren gefüllten Tabletts herum, weil die Tische sich geleert hatten. Von der Mitte des Marktplatzes hatte man eindeutig eine besseren Sicht.
„Wann springt er denn nun endlich“, nörgelte der eine Junge ungeduldig.
„Wir müssen die Freiwillige Feuerwehr informieren.“
„Die haben doch heute ihr Grillfest.“
Schon rannte eine Frau los und riß unter den entsetzten Blicken der Kellner die Decken von einigen verwaisten Tischen, wobei Kaffeetassen Bierseidel und Teller umherflogen. Begeistert rief sie dabei aus: „Wir müssen ein Sprungtuch zusammenknoten.“
„Du alberne Spinatwachtel, das hält doch nie.“
„Du nennst meine Frau nicht alberne Spinatwachtel“, ereiferte sich der Ehegatte und plazierte einen gekonnten Faustschlag in dem Gesicht des Unverschämten. Dieser wankte fiel aber nicht um, sondern rächte sich ebenfalls mit seiner Faust. Ein anderer wollte schlichten, wurde aber von einem unaufmerksamen Seitenhieb getroffen. Das rief seinen Bruder auf den Plan, der nun seinerseits mit Gewalt in das Geschehen eingriff. Während dessen versuchte ein Kellner die Tischdecken zurückzuerobern, wurde aber durch den Schlag mit einem Bierseidel auf den Kopf außer Gefecht gesetzt. Das konnten seine Kollegen nicht dulden. Verzweifelt versucht der Pfarrer durch salbungsvolle Worte die friedliche Ordnung wieder herzustellen. Ein heftiger Tritt gegen sein Schienenbein, dessen Verursacher er im Getümmel nicht ausmachen konnte, ließ ihn sein Heil in der Flucht suchen, während um ihn herum die Fäuste flogen und erste Blutstropfen fielen.
 
Ober auf dem Dach stand noch immer Rudi und betrachtete voller Enttäuschung des heftige Treiben. Mütter, die sich in die Keilerei nicht einmischen wollten, brachten ihre Kinder in Sicherheit. Manch Mobiliar der Cafes brach unter der Last umstürzender Gäste zusammen, während anderes als Waffe oder Wurfgeschoß diente. Keiner interessierte sich mehr für die selbstmörderischen Absichten des armen Mannes hoch oben. So hatte sich Rudi seinen Abgang nicht vorgestellt. Vermutlich würde gar keiner bemerken, wenn er sich hinabstürzen und zwischen den Raufenden zerschellen würde. Aber es sollte doch sein großer Auftritt werden. Wieso nahm nie jemand von ihm Notiz? Ziemlich niedergedrückt stieg Rudi vom Dach und trat den Heimweg an. Er mußte seinen Plan auf einen anderen Tag verschieben. Vielleicht beim Weihnachtsmarkt. Da singen sie doch immer: Vom Himmel hoch da kommt ich her.
 
 
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Christiane Mielck-Retzdorff).
Der Beitrag wurde von Christiane Mielck-Retzdorff auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.10.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Christiane Mielck-Retzdorff als Lieblingsautorin markieren

Buch von Christiane Mielck-Retzdorff:

cover

Die Töchter der Elemente: Teil 1 - Der Aufbruch von Christiane Mielck-Retzdorff



Der Fantasie-Roman „Die Töchter der Elemente“ handelt von den Erlebnissen der vier jungen Magierinnen auf einer fernen Planetin. Die jungen Frauen müssen sich nach Jahren der Isolation zwischen den menschenähnlichen Mapas und anderen Wesen erst zurecht finden. Doch das Böse greift nach ihnen und ihren neuen Freunden. Sie müssen ihre Kräfte bündeln, um das Böse zu vertreiben. Das wird ein Abenteuer voller Gefahren, Herausforderungen und verwirrten Gefühlen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (8)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Satire" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Christiane Mielck-Retzdorff

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Aus dem Leben des Grafen R. (12) von Christiane Mielck-Retzdorff (Wie das Leben so spielt)
Der Igel von Kerstin Köppel (Satire)
Der Augenblick von Klaus-D. Heid (Wie das Leben so spielt)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen