Jürgen Berndt-Lüders

Irren ist amtlich

Erika Waczlav, die Leiterin einer Arge in Berlin, kam von der Mittagspause. Sie wollte eben um die Ecke der alten Kaserne, in der einige Ämter untergebracht waren, als sie Geräusche hörte. Sie blieb stehen und wurde so Zeugin eines Gesprächs.

Sie lauschte. Manchmal gaben solche Gespräche Klarheit über die wahren Absichten ihrer Kunden, wie man die Empfänger von Transferleistungen in Ämtern nennt.
 
„Ich melde mich dann“, rief eben ein junger Mann. Es hallte laut von den Wänden her. Wem dieses Versprechen galt und von wem es kam, konnte Erika nicht feststellen.
 
„Bis morgen“, rief der junge Mann.
 
Feste Männerschritte hallten über den Flur und entfernten sich.
 
„Eh, du dürfst hier doch nich roochen“, fand eine belegte Mädchenstimme.
 
„Ick hab doch det Fensta uff.“ Die Stimme des jungen Mannes kam ihr nun bekannt vor. Sie schnupperte. Tatsächlich, es war nichts zu riechen.
 
„Denn schnippste bitteschön ooch nich de Asche uff’n Flur.“
 
„Watt du ümma hast. Merkste nich wie det zieht? Der Wind macht det wech. Willste ooch eene?“
 
„Nee, glei kommt die Olle um de Ecke, un denn kost det wieda Abzuch. Wir sinn uff die anjewiesn. Am besten du machst de Kippe aus un det Fensta ssu.“
 
Frau Waczlav hatte genug gehört. Sie ging um die Ecke und erblickte Frederic Müller und seine Schwester Conny. Die beiden hatten tatsächlich einen Termin um 14:00 Uhr bei ihr.
 
„Sie haben geraucht“, stellte sie fest. „Rauchen ist in diesem Dienstgebäude verboten.“
 
„Nee, det kommt von draußen. Desterwehjen mach ick jrad det Fensta ssu.“
 
Arbeitsscheu, durchtrieben und verlogen, dachte Frau Waczlav. Sie bat die beiden in ihr Dienstzimmer und bot ihnen Plätze an.
 
„Ich habe Ein-Euro-Jobs für sie“, sagte sie und wartete auf eine erste Reaktion.
 
„Watt denn?“, fragte Conny.
 
„Sie teilen bei der Tafel Nahrungsmittel aus, und ihr Bruder harkt Laub im Park.“
 
„Nee, nich schon wieda. Hammse nüscht andaret?“
 
Frau Waczlav suchte die richtigen Worte. „Ihre Arbeit entspricht der einer gelernten Verkäuferin. Es ist doch egal, was sie verteilen. Aber nicht das Beste einstecken und mitnehmen.“
 
„Mack ick nich. Ick bin Tonnenshoppa. Un meen Bruda?“
 
„Der ist zu keiner anspruchsvolleren Tätigkeit fähig, wie wir schon öfter feststellen konnten.“
 
„Ohooo“, rief Conny. “Se kenn’ meene Keule nich.”
 
Keule? kam da eine Bedrohung auf Frau Waczlav zu?
 
„Keule, Atze, det is een Ausdruck aus Balin. Det heeßt Bruda, Kumpel un so. Se sind wohl nich von hier?“
 
„Woher ich bin tut hier nichts zur Sache. Ich kenne die Schulnoten und die mangelnde Ausbildung Ihres Bruders. Das reicht.“
 
„Sie berühren da ein empfindliches Thema“, fand Frederic in bestem Hochdeutsch. „Gute Schulnoten sorgen für einen guten Ausbildungsplatz, und wenn man die nicht hat...“
 
„...und weshalb haben sie keine?“ unterbrach Frau Waczlav.
 
„Ich wurde gemobbt. Sehen Sie,  mein rechtes Bein ist um acht Zentimeter kürzer als mein linkes. Ich humpele erbärmlich. Es war nicht auszuhalten. Diese Lästerei; ich habe oft gefehlt.“
 
Das mit dem Bein stand nicht in der Computerdatei, aber man konnte es deutlich sehen.
 
„Gut, ich muss davon ausgehen, was Aktenlage ist“, stellte Frau Waczlav fest. „Ihr Schicksal geht mich nichts an. Dafür sind andere zuständig.“
 
„Dafür war niemand zuständig“, korrigierte  Frederic. „Ich habe mir während meiner Arbeitslosigkeit einiges an Kenntnissen angeeignet. Die dürften weit über das hinaus gehen, was ich zum Laub harken benötige. Geben sie mir einen Job, bei dem ich programmieren kann.“
 
„Über so etwas verfügen wir nicht, außerdem dürfen wir nicht mit gewerblichen Unternehmen konkurrieren.“
 
„Ich habe vielleicht eine Arbeit“, wandte Frederic ein. „Eine richtig tolle Anstellung, mit Lohnsteuerkarte und so. Ich mache ab morgen ein 14tägiges, bezahltes  Praktikum. Da wird sich heraus stellen, ob ich Anderes kann als Laub zu harken.“
 
„Das sind faule Ausreden“, fand Frau Waczlav. „Das kennen wir schon. Erst läuft monatelang gar nichts und dann ist plötzlich Arbeit in Aussicht. Sie harken ab Morgen Laub.“
 
Frederic zog einen Zettel aus der Tasche. „Hier, rufen Sie dort bitte an. Das ist der Chef.“
 
Frau Waczlav wiegte zweifelnd den Kopf. „Woher soll der so plötzlich kommen?“
 
„Während wir warteten, kam der plötzlich auf Frederic zu und sprach ihn an. Was er denn so mache. Einen ausgesprochen positiven Eindruck habe er von Fred.“
 
Frau Waczlav staunte. „Wieso sprechen sie beide plötzlich ein so gutes Hochdeutsch?“
 
Fred lachte. „Berlinern ist unsere Muttersprache, und unser Hochdeutsch verwenden wir immer dann, wenn es drauf ankommt.“
 
Frau Waczlav verkniff sich einen Kommentar. Bei ihr kam es den beiden offensichtlich nicht darauf an. Sie wählte Frederic’s Telefonnummer und erreichte den Inhaber des Anschlusses. „Mein Name ist Erika Waczlav, von der Arge. Vor mir sitzt ein junger Mann namens Frederic Müller...“
 
„...jaaa“, unterbrach der Mann. Er freute sich unverkennbar. „Sind sie jetzt beim Arbeitsamt endlich so weit, dass sie erkennen, wer was taugt und wer nicht? Er zeigt mir ab morgen was er kann.“
 
„Tatsächlich sind wir fast so weit“, log Frau Waczlav. „Gut, er kommt dann morgen zu ihnen.“
 
„Ehe ich’s vergesse, er soll seine Schwester mitbringen. Wir benötigen noch Verkaufs- und Beratungspersonal.“
 
Frau Waczlav legte auf. „Ich mache ihnen einen Vorschlag. Die Ein-Euro-Jobs halte ich für sie zurück. Kommen sie einfach nächste Woche wieder, wenn aus der Arbeit nichts wird.“
 
...und das wird bestimmt nichts, dachte sie, als die beiden das Dienstzimmer verließen. Das war schon immer so gewesen und würde auch immer so bleiben. Sie nahm sich vor, darauf zu achten, ob Frederic seinen Verdienst angab oder nicht. Selbst wenn er nur wenig bekam, weil er wieder nur drei Tage durchhielt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.10.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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