Jan Weck

Begegnungen mit der euphorischen Art

Der Club "The Cross" bot mir während meines Aufenthalts in London einige tolle Abende. Bevor das am restlichen Umfeld gemessene, scheinbar vergessene Fragment der Industrialisierung im Schatten der St. Paul Kathedrale dem Eurostar Umbau weichen musste, beheimateten die 3 Floors der gemauerten Halle bis kurz vor ihrer Schließung im Jahr 2007 einige großartige Events und bislang für mich unvergessene Momente. Dies ist die Erzählung eines dieser Momente, der mir auch nach 12 Jahren noch in guter Erinnerung geblieben ist.

Mit zwei Freunden im Schlepptau machte ich mich auf den Weg über den von Gleisen des angrenzenden Bahnhofs umgebenen Schotterplatz, der sich damals schon mehr nach Baustelle als nach Partymeile anfühlte. Nachdem wir den Eingang hinter uns gelassen und unsere mitgebrachte Garderobe abgegeben hatten, begann die Akklimatisierung mit einigen Getränken an einer der Theken des Hauptsaals. London verstand es mit seinen zahlreichen Clubs sehr gut uns den so sehnlich erwünschten Tapetenwechsel so einfach wie möglich zu gestalten. Meist stand nach einem kurzen Blick auf den Veranstaltungsplaner des Time Out Magazins und den während der Woche empfangenen A-List Einladungen schnell das gewünschte Wochenendprogramm fest. Um uns herum befand sich der für diesen Club so typische Mix aus Geschäftsleuten, Kreativen und feierwütigen Studenten, die den mit elektronischen Beats gefluteten Hallen Leben und Atmosphäre einverleibten. Bis auf ein paar mit Sitzgelegenheiten ausgestatteten Ecken setzte der Club nicht nur optisch auf minimalistisches.

Der Funke der bereits mit Tanzwut infizierten Gäste sprang binnen weniger Minuten auf mich über und lockte mich in die Mitte der bereits gut gefüllten Tanzfläche. Ich schloss meine Augen, ließ mich auf die schnell wechselnde Folge der unterschiedlich hohen und mit wabbernden Bässen unterlegten Frequenzen ein und tauchte immer tiefer ab, während die gewaltige Soundkulisse auf mich einwirkte und mich umschloss. Ich genoss die Blitze des Stroboskops, die synchron zur Musik durch meine geschlossenen Augenlider drangen und mich rasch die vergangene Arbeitswoche vergessen ließen. Ich war in meinem Element, in welches ich die restlichen Stunden des Abends über immer tiefer eintauchen und mich selbst von den Strapazen der hinter mir liegenden Woche reinwaschen wollte. Fünf weitere mit Deadlines, Beschwerden und neuen Aufgaben gefüllte Arbeitstage hatte ich hinter mich gebracht. Dieser Moment gehörte nur mir, ich hatte ihn mir verdient.

Aufgeheizt von der Bewegung beschloss ich nach dem Ende des Sets ein wenig frische Luft und Nikotin im Außenbereich des Clubs zu inhalieren. Ich sammelte meine Begleitung ein, organisierte uns ein Bier und steuerte zielstrebig einen freien Platz zwischen zwei Heizpilzen in der kühlen Londoner Morgenluft dieses Septembers an, den ich inmitten des Gedränges aus der Ferne ausfindig gemacht hatte. Schnell kamen wir mit einigen Gästen ins Gespräch. Musik, die im stetigen Wandel der Metropole wechselnden Clubs und Fußball waren gerne und häufig für den Smalltalk herangezogene Themen. Wobei ich seit dem vergangenen Wochenende das Thema Fußball in meiner damaligen Heimatstadt zu vermeiden suchte, um mir die Schmach der eingefangenen 1:5 Niederlage der deutschen Nationalmannschaft im WM 2002 Qualifikationsspiel gegen England zu ersparen. Als sich die Konversation bedrohlich nahe in Richtung genau dieses Themas bewegte, entschuldigte ich mich freundlich mit dem Hinweis mir noch ein Getränk organisieren zu wollen und machte mich auf den Weg zur nächsten Theke.

Kurz nachdem ich mich in eine frei gewordene Lücke vor der Theke im Inneren des Clubs gezwungen hatte um meine Bestellung aufzugeben, spürte ich eine Hand auf meiner Hüfte, die mir mit ihrer Bewegung sanft aber bestimmt zu verstehen gab etwas Platz neben mir frei zu machen. Durch diese Aktion aufmerksam geworden, blickte ich zur Seite und sah in ein Gesicht mit klar erkennbaren indischen Wurzeln. Ich ordnete die Person neben mir grob der eben verlassenen Gruppe zu, hatte sie aber aufgrund ihres eher unauffälligen und zurückhaltenden Auftretens nicht wirklich wahrgenommen. Bekleidet mit Turnschuhen, Jeans und einer dunkelblauen Sportjacke im Retrolook, hätte sie mit ihrem Kurzhaarschnitt auch ein Kumpel meiner überwiegend männlichen Gesprächspartner der Gruppe sein können. Ihre Augen und Gesichtszüge, sowie die Art wie sie mich zur Seite geschoben hatte, waren neben den unter ihrer Trainingsjacke versteckten, angedeuteten weiblichen Formen die einzigen verbleibenden Merkmale, die auf ihr Geschlecht schließen ließen. Aus der Nähe betrachtet war sie alles andere als hässlich, fiel jedoch nicht besonders durch künstlich betonte Schönheit auf. Sie durchdrang mich mit ihren dunklen, weit aufgerissenen Augen.

Es vergingen weitere Sekunden, die mir wie eine gefühlte Ewigkeit vorkamen. Da jegliches, sonst einen Flirt begleitendes Lächeln oder vergleichbare Reaktionen ausblieben, fragte ich sie verwirrt von der Situation was sie gerne trinken würde und bestellte zwei Vodka-RedBull, während sie still und ohne eine Miene zu verziehen an meiner Seite verweilte und mich weiter regungslos anstarrte. Ich bezahlte unsere Getränke und schlug vor das wir uns wieder auf den Weg zu unseren Freunden machen sollten, sie bejahte mit einem kurzen Nicken und folgte mir. Wieder in der Gruppe angekommen, die sich noch immer angeregt über das Thema Fußball unterhielt, brach sie nach einer Weile ihr Schweigen mit einer Frage nach meinem Lieblingsverein und Spieler. Jetzt war ich absolut verwirrt. Eine Frau die alle ihre Reize versteckt, mich regungs- und emotionslos anstarrt und nun das Thema Fußball als Wegbereiter für den Smalltalk wie ein Mann anschneidet? Ich ertappte mich dabei, wie ich innerlich die mit Lesbe beschriftete Schublade in meinem Kopf aufzog, während wir uns in der Konversation vertieften und über die technischen Qualitäten eines Wayne Rooney und Christiano Ronaldo fachsimpelten. Ich war mir nun ziemlich sicher nicht angeflirtet worden zu sein und versuchte meine, aus den tiefen, scheinbar emotionslosen Blicken resultierende Verwirrung endgültig abzuschütteln.

Ich stellte mein Glas ab, verabschiedete mich freundlich und begab mich in Richtung Tanzfläche. Binnen weniger Minuten hatte mich die nun etwas House lastigere Musik wieder in ihren Bann gezogen. Ich tanzte, lachte und genoss die Musik, bis ich erneut eine Hand auf meiner Hüfte spürte. Geblendet vom bunten Licht der kreisenden Scanner sah ich mich um und erkannte die dunkelblaue Sportjacke wieder, deren Besitzerin mich erneut mit ihren großen, dunklen Augen durchbohrte. Dieses Mal machte sie jedoch Anstalten mit mir tanzen zu wollen.Wir tanzten einige Minuten lang, bis sie mich schließlich schweigend an die Hand nahm und mich weg von der Tanzfläche in Richtung einer der Sitzecken des Clubs zog. Noch bevor ich mich richtig hinsetzen und die Situation besser einschätzen konnte, spürte ich ihre warmen, weichen Lippen auf meinen.

Mit ihrer Zunge drang ein bitterer Geschmack in meinen Mund, der mir schlagartig eine Erklärung für ihr Verhalten lieferte. Ich unterbrach den Kuss mit den Worten: "Let's stop this. I don't want you to regret this later on, as you seem to be out of your senses", erntete aber nur ein bestimmtes "I know exactly what I want!" gefolgt von weiteren Küssen. Hier saß ich also mit einer Frau, die mich völlig ohne Vorwarnung auf einem Sofa eines meiner Londoner Lieblingsclubs mit Küssen überzog. Dieser Moment kam mehr als überraschend für mich, denn ich war es gewohnt das Situationen wie diese mehr oder weniger langsam über den Austausch von Blicken und dem ein oder anderen zugeworfenem Lächeln zustande kommen. Ihr mich völlig durchdringender Blick hatte als einzige Emotion Verwirrung in mir erzeugt.

Da ich sie durch ihr gesamtes Erscheinungsbild gedanklich unter dem Buchstaben "L" einsortiert hatte, suchte ich mit meinen Augen die nähere Umgebung ab, in der Hoffnung eine potentielle Partnerin zu finden, die sie durch diese Aktion eifersüchtig zu machen versuchte. Doch bis auf ein weiteres beschäftigtes Paar befand sich niemand im Bereich unserer dunklen, mit Tarnnetzen verhangenen Sitzecke, auf den diese Beschreibung hätte zutreffen können. Ihre gesamte Aufmerksamkeit galt in diesem Moment mir und meiner Hand, die sie zielstrebig zwischen ihre Beine zu lotsen versuchte. Ich befreite mich aus ihrer Umklammerung und schlug vor wieder die Tanzfläche aufzusuchen, wurde aber von ihrer Bitte zurückgehalten.

"Join me after the party, I'll make sure that you won't regret it" offerierte sie angeregt. "I'm afraid I can't. I have a friend from Germany with me that depends on crashing at my place and as I live outside the city, there's nowhere else he could stay. Besides, I don't want to see him stranded on a nightbus heading into the wrong direction." argumentierte ich. "Don't worry about him, he can crash on my couch. I'll make breakfast for both of you." Die Situation schien ausweglos und sie zu keinerlei Kompromiss bereit. Sie hatte sich in ihrem Zustand ein Ziel gesetzt und versuchte dieses nun mit aller Macht in die Tat umzusetzen.

Ich war ungebunden, hatte mir selbst kein Zölibat auferlegt und war auch sonst kein Kostverächter, doch irgendetwas gefiel mir an diesem Spiel nicht. Ohne Vorwarnung in ein delikates Tête-à-tête zu stolpern, ist sicherlich der Stoff aus dem viele Träume gemacht sind, doch so ganz ohne aktive Teilnahme an der Jagd die Trophäe zu erhalten war wider meiner Natur. Ich erklärte uns weitere Getränke besorgen zu wollen, suchte meine Begleitung zusammen und verließ fluchtartig den Club mit dem guten Gefühl unser beider Gesichter gewahrt zu haben. Nachdem ich den Taxifahrer über unser Reiseziel informiert hatte, stellte ich mich dem Kreuzverhör meiner Begleitung. Im nächsten Laden würde sicherlich alles besser laufen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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