Florence Siwak

Rita? Kommt nicht mehr!



 
Heute war der 23. des Monats. Die Rente war zum großen Teil ausgegeben. Es blieb noch eine Woche für den Rest vom Geld.
Anneliese hatte mal wieder an alles gedacht: Waschpulver, Shampoo, Hautcreme und was die gepflegte Frau sonst noch braucht,
hatte sie am Monatsanfang besorgt. Meist teilten sich die Frauen die Kosten für Großpackungen Waschpulver.
Im Winter allerdings klappte das nicht. Sie sahen sich nicht so häufig wie in den wärmeren Monaten.
„Wenn wir es richtig einteilen“ klapperte Herbert mit seiner Unterkieferprothese „dann können wir uns noch zweimal was leisten.“
Er hatte beschlossen, sich diesen Monat die Haftcreme zu sparen. Die billige für 99 Cent hielt nicht und die teure für 2,99 –
naja, die war eben zu teuer.
„Wie willst du denn beißen, was wir uns leisten“ frotzelte Anneliese.
„Reißen, nicht beißen.“ Gutmütig ging Herbert auf den Scherz ein.
Die beiden – Anneliese und Herbert – bildeten mit Edith und Wolfgang eine kleine Gruppe von Senioren zwischen 70 und 80,
die sich regelmäßig jeden Tag in der winzigen Grünanlage trafen. Eigentlich kam sonst immer Rita dazu, die sie aber schon einige Tage
nicht mehr gesehen hatten.

„Weiß einer, was mit Rita ist?“
Anneliese klang besorgt, aber die beiden Männer beruhigten sie.
„Was soll sein, sie ist doch schon öfter mal ein paar Tage weggeblieben.“
Das beruhigte die Frauen zwar nicht wirklich, aber sie hatten genug eigene Sorgen, die sie hier auch mal vergessen wollten.
Und Rita wurde auch nicht gern zu Hause überrascht, das hatte sie ihnen mal deutlich klar gemacht, als sie einfach auf einen Sprung
vorbei gekommen waren. Von der Fünfer-Gruppe hatte nur Anneliese eine Wohnung, die so hübsch und warm war, dass man sich dort mal treffen konnte.
Aber – strapazieren wollten sie ihre Freundin nicht; vor allem, wo man nach einem Nachmittag im Park in sein eigenes Reich gehen konnte,
ohne sich genieren zu müssen.

Aber Rita fehlte ihnen. Sie hatte immer die besten Ideen und – sie hatte eine unerschöpfliche Energie, von der die anderen zehren konnten.
Sie wusste, wo es die billigsten und größten Döner gab, wo das Brötchen zur Currywurst nichts kostete und wo man sich für 50 Cent einen
Kaffee nachschenken konnte. Das allerdings war den anderen auch nicht mehr neu.

Einmal in der Woche war ein Besuch in einem großen skandinavischen Kaufhaus angesagt. Kaffee und Hotdog – wie heute zum Beispiel.
 „Dauert nicht mehr lange“ zerrte Wolfgang an dem zähen Brötchen und fummelte sich Gurken und Zwiebeln aus dem Mantelausschnitt.
„Was dauert nicht mehr lange?“ Edith hatte sich statt des Hotdogs ein Softeis gegönnt.
Ihr Blutzuckerspiegel würde in die Hände klatschen, aber das holte sie locker wieder auf.
„Nächste Woche ist der erste Advent; kalt soll es auch werden.“ Wolfgang schniefte etwas. Er fühlte sich immer verpflichtet,
bei Wintereinbruch mit Schnupfen zu reagieren.
„Na und? Advent hatten wir auch letztes Jahr und auch davor. Hat uns nicht gehindert, jeden Tag pünktlich im Park zu sein“
ielt Herbert kriegerisch dagegen. Er lebte nicht nur – wie die anderen – allein, er hatte auch keine Angehörigen außer einem
Bruder in einem Pflegeheim, im Rentnerknast also. Für ihn waren diese Menschen seine Familie.
„Schon, aber ich gehe zu Weihnachten nach Chemnitz – zu Sonja. Sie will, dass ich schon Mitte Dezember komme, sie hat einiges zu
reparieren in der Laube.“ Stolz schwang in Wolfgangs Stimme mit.
Die drei sahen sich vielsagend an.
Sonja, Wolfgangs einzige Tochter, war wetterwendisch wie der letzte Sommer. Heute eingeladen und morgen rausgeworfen.
Aber – wenn es ihn denn froh machte.
„Schön, da kannst du dich ja freuen“ lenkte Anneliese ein. Es fiel ihr nicht schwer, großzügig zu sein. Sie hatte selbst zwei Kinder und etliche Enkel,
die sie oft besuchten, für sie einkaufen gingen und auch zu ihrer kleinen Witwenrente beisteuerten, so dass sie es eigentlich nicht nötig gehabt hätte,
sich einen Döner zu teilen und mit den anderen „rumzuhängen“. Aber sie mochte diese Menschen und genoss ihre Schnäppchenjagden durch die Discounter.
Sie freute sich auf diese Erfolgserlebnisse und durch das sparsame Wirtschaften, auf das Herbert, Edith, Wolfgang und Rita angewiesen waren,
konnte sie jeden Monat einiges zurücklegen, um ihrer Familie nicht zu sehr auf der Tasche zu liegen und um zum Beispiel Rita mal eine kleine Freude zu machen.
„Hier, die Schokolade hat mir die Nachbarin geschenkt“ sagte sie dann zu Rita. „Du weißt doch, ich darf nicht so viel Süßes.“
Und Rita nahm das Geschenk gern an; es hatte ja schließlich nicht Annelieses Geld gekostet – dachte sie.
Außerdem hing sie durch diese Freundschaft nicht so von ihrer Familie ab; sie wartete nicht so sehnsüchtig auf die Besuche und Anrufe.

„Wir könnten uns ja jeden Tag bei einem von uns treffen“ schlug Anneliese vor.

Verlegenes Schweigen trieb ihr die Röte ins Gesicht. Herbert und Wolfgang – beide verwitwet – konnten in ihren winzigen Wohnungen
kaum einen Fuß vor den anderen setzen und Edith lebte in einem wahren Museum. Dort einen Stuhl zu finden, der auch besitzbar war,
renzte an ein Wunder. Und Rita? Naja, hatten wir ja schon.
„Wenigstens einmal in der Woche bei mir – aber sicher“ plapperte Anneliese und zerrte an ihrem kratzigen Schal.
Zu diesen Gelegenheiten zog sie immer ihre zweitbesten Sachen an. Es wäre ihr peinlich gewesen, so „protzig“ zu wirken.
Wohlgefällig blickte sie an sich herab. ‚Gerade richtig‘ dachte sie. ‚Nicht verwahrlost, aber … strapaziert eben.‘
So wie die Klamotten ihrer Freunde und wie sie selbst.
„Wir können ja jeder was mitbringen. Frühstück oder so“ schlug Herbert vor.
Zustimmendes, zufriedenes Gemurmel antwortete ihm. Wenigstens lief man nicht bis zum Frühling auseinander.
„Ich gehe nächste Woche doch mal bei Rita vorbei.“ Anneliese wischte sich energisch die Krümel der Eiswaffel von ihrem üppigen Vorbau.
„Man kann ja nie wissen. Kann ja was passiert sein.“
Man war sich einig und trennte sich langsam. Herbert ging in die Rankestraße, seinen Bruder besuchen, Wolfgang in seinen Hobbykeller,
in dem er sich länger aufhielt als in seinem Loch von Wohnung, um Sonjas Weihnachtsgeschenk fertigzumachen, ein Gewürzregal.
Edith und Anneliese bummelten zusammen nach Hause; sie wohnten nur drei Häuser voneinander entfernt. Der Heimweg dauerte heute recht lange,
musste doch diskutiert werden, wie Wolfgangs Chancen standen, Weihnachten wirklich bei Sonja zu verleben.
„Wäre schade, wenn es nicht klappen würde. Ich bin ja die ganzen Adventssonntage und zu Weihnachten reihum eingeladen“ seufzte Anneliese zufrieden.
Edith murmelte trübselig vor sich hin. Sie hatte bis auf Nichten und Neffen, die in der ganzen Welt verstreut waren, niemanden, dem sie eine Einladung
wert gewesen wäre.
„Ich gehe wahrscheinlich wieder ins Zentrum“ schnüffelte sie in ihr Taschentuch.
Endlich – es war schon dunkel trennten sich die beiden Frauen kameradschaftlich.
 
Die nächsten Tage kam die kleine Gruppe kaum mal vollzählig zusammen. Mal ein Arztbesuch, mal ein Weg zum Amt.
Jeder hatte irgendwann was vor.
Am Freitag endlich bei schönem, wenn auch kaltem Wetter, saßen sie in ihre dicksten Mäntel gehüllt im Park, zwei Döner vor sich,
die Herbert langsam in vier Portionen zerteilte. Jedes Ritual musste ausgekostet werden. Edith hatte an Pappteller gedacht und Anneliese
steuerte wunderbar heißen Kaffee aus einer Thermoskanne bei.
Nur Rita fehlte wieder.
 
Herbert zerstreute die Bedenken. „Sie ist weg“. Er runzelte konzentriert die Stirn und blickte starr auf die Pappteller. „Wohin denn wohl?“
protestierten die Frauen. „Sie hat doch keine Verwandten. Woher willst du das denn wissen?“
„Na, ich war bei ihr in der Nähe und habe im Zeitungsladen nachgefragt und Hanne meinte, er hätte gesehen, dass sie mit einem Koffer aus dem Haus kam.“

Er verteilte die Teller und blickte seine Freunde mit ungewohnt ernsten Augen an.
„Lassen wir es gut sein. Vielleicht kommt sie ja im Frühjahr wieder.“
„Ja vielleicht.“

Sie kauten versonnen und dachten an Rita, die fröhliche, verschmitzte, kleine Frau, die Älteste von ihnen. An Rita, der es nie an Ideen mangelte.
Hoffentlich hatte sie einen schönen, warmen Winter.
Das dachte auch Herbert.
Einen warmen Winter würde sie haben!

Hatte er gelogen? Nein, nicht wirklich. Hanne hatte ja gesehen, dass Rita und ihr Koffer das Haus verlassen hatten, vor zwei Wochen schon.
Nur – wiederkommen würde sie nicht, bestimmt nicht.
Sie war weg. Nicht ihr Körper – nein, den gab es noch – in der Rankestraße, in dem Pflegeheim.
Als er seinen Bruder besucht hatte, bemerkte er in der Eingangshalle ein vertrautes Gesicht.
„Rita, bist du das?“ Zweifelnd ging er auf die winzig kleine alte Frau zu, die zusammen gesunken in einem tiefen Sessel saß.
Erst als sie ihm eifrig zunickte, erkannte er einen Schimmer ihrer alten Lebensfreude in den blitzenden dunklen Augen.
„Dieter? Bist du das? Holst du mich?“.
Flehend streckte sie ihm ihre Hände entgegen. Da kam auch schon eine weiß gekleidete Schwester auf sie zu.
„Nein, Frau Schiller, das ist nicht Dieter. Kommen Sie, ich bringe Sie zu Bett.“
Resolut zog sie Rita aus dem Sessel, nickte Herbert verschwörerisch blinzelnd zu und ließ ihn dort zurück.
Seitdem hatte er Rita noch zweimal besucht, aber er würde es nicht mehr tun, es machte ihn traurig und sie nicht froh. Wozu also?
Und die anderen? Die mussten das nicht wissen. Sie würden sie sehen wollen, sie besuchen.
Und das wäre ihr nicht Recht gewesen, der Rita, die er kannte, die sie alle kannten.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Langsam gehe ich auf das sechzigste Lebensjahr zu. Da hinter mir nahezu jede emotionale Erinnerung »verschwindet«, besitze ich keinerlei sichtbare Erinnerung! Vieles von dem, was ich Ihnen aus meinem Leben berichte, beruht auf alten Notizen, Erinnerungen meiner Frau und meiner Mutter oder vielleicht auch auf sogenannten »falschen Erinnerungen«. Ich selbst erinnere mich nicht an meine Kindheit, Jugend, nicht an meine Heirat und auch nicht an andere hochemotionale Ereignisse, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin.

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