Rachida Zoubid

Drillingsgeburt im Freien

 
Es geschah am Silvesterabend des Jahres 1960,  kurz vor Mitternacht, als ihre Mutter im Stadtviertel Sidi Boujida in der Altstadt Fés in Marokko die Geburtswehen bekam und ins Krankenhaus Rassani in einem privaten Krankenwagen gefahren wurde. Höchstwahrscheinlich hatte sie es eilig vor dem neuen Jahr geboren zu werden. Tatsächlich begrüßte sie Kurz vor der Einfahrt des Krankenwagens ins Krankenhaus ihre Mutter und die neue Welt mit den Füssen und dem Gesäß; ein paar Sekunden danach schlüpfte ihr Kopf aus der Gebärmutter, um die fremden Geschöpfe Gottes um sie ich herum kennen zu lernen und die kalte Luft des Dezembers tief einzuatmen.
ihre Geburt bereitete ihrer notleidenden Mutter sicherlich große Qual, da es sich um eine Endlagegeburt handelte. Kaum wurde ihre Mutter vor dem Krankenhauseingang auf einer Bahre getragen, dass die französische Hebamme entsetzt um Hilfe rief:
„Catherine, Isballe, holt bitte schnell den Gynäkologen, die Dame hat noch ein Kind drin… macht schnell, sonst werden Mutter und Kind ersticken.  ersticken! Pressen sie jetzt, ich sehe den Kopf, nochmals pressen.. und nochmals. Sie haben es geschafft, ihr zweites Kind ist da.“
Man fürchtete um das Leben ihrer Mutter, da sie am Ende ihrer Kräfte war und kaum noch in der Lage war, rechtzeitig und richtig zu pressen. Das Schicksal wollte, dass keine von den Zwillingen in einem richtigen Krankenhauszimmer auf ein bequemes Bett geboren wird. Eilig hatten sie es alle gehabt: Ihre Zwillingsschwester kam tatsächlich zu Welt auf eine Tragbahre, im kalten Flur des Krankenhauses, nächst der Kreissaaltür, am 01. Januar 1961. Sie war sehr schwach und wurde deshalb sofort auf der Intensivstation weggebracht, um medizinisch versorgt zu werden. Als die Hilfskrankenschwestern dabei waren das Bett in einem  Krankenhauszimmer für die Mutter einzurichten, schrie die Mutter um Hilfe, da sie noch ein starke Bewegung in der Gebärmutter stark spürte. Es war tatsächlich noch ein Säugling da, das dabei war zu ersticken, sich jedoch noch bewegen konnte. Ihre Mutter kann sich nicht mehr daran erinnern, wie das dritte Mädchen zu Welt kam und ob, die Geburt auch auf dem Flur des Kreissaals oder davor oder anderswo stattfand. Gleich danach fiel die Mutter der Drillinge in Ohnmacht, bevor sie ihre lebenden Sprösslinge in den Arm nehmen konnte.
Die zweiten letzten Zwillinge wurden nach Mitternacht, am 01. Januar 1961 und ihre Schwester vor Mitternacht am 31.12.1960, geboren.
Einige Verwandte erzählten, sie wären Zwillinge, andere behaupteten, sie wären doch Drillinge gewesen und ihre Eltern hätten es am Anfang aus Angst vor dem bösen Blick verschwiegen. Die Wahrheit darüber habe sie doch nie erfahren können. Wichtig ist es auch nicht mehr, da sie die Einzige ist, die überleben durfte. Sie wog bei der Geburt 3500 Gramm und ihre  Zwillingsschwestern, die kaum ein Jahr alt wurden, viel weniger. Ihre Mutter wusste gar nicht, dass sie eine Zwillings- oder Drillingsgeburt erwartete, obwohl sie mehrfach während der Schwangerschaft Vorsorgeuntersuchungen im gleichen Krankenhaus unterzog und einen voluminösen Bauch hatte.
Die meisten Hebammen im Krankenhaus Rassani waren zu jener Zeit Französinnen, die nach der Unabhängigkeit Marokkos die erfolgreiche berufliche und persönliche Existenz, die sie sich im Lande gebaut hatten, nur ungern zu verlassen beabsichtigten. Außerdem hatten sie sich eingelebt und fühlten sich zuhause.
Ihre Eltern erzählten danach ganz stolz von der Drillingsgeburt, die sehr schön gefeiert wurde. Fast alle Nachbarfamilien in Sidi Boujida und Verwandte waren eingeladen. Sie beglückwünschten ihre Eltern und beschenkten sie reichlich.
Sie war die zweite Tochter und das dritte Kind nach ihrem Bruder Harun und ihre Schwester Zineb. Ihre Zwillingsschwestern kamen nach ihr zu Welt und waren dann das vierte und fünfte Kind. Wenn sie ihre drei Halbgeschwister zähle, war sie das fünfte und ihre Zwillingsschwestern das sechste und siebte Kind zuhause.
Ihre Familie wohnte im Gymnasium Moulay Rachid auf den Platz der Märtyrer in der Altstadt von Fés. Ihr Vater arbeitete als Chefkoch im Internat des Gymnasiums. Der Schuldirektor, ein Franzose namens Guillaume, hatte ebenfalls ein Diensthaus im gleichen Gymnasium. Er wohnte dort mitsamt seiner Ehefrau und seinen beiden Töchtern. Beide Familien, die französische und die marokkanische, respektierten und unterstützten einander in allen Lebensbereichen. Die Erziehung der Kinder beider Familien wurde zwischen ihrer Mutter und Frau Guillaume geteilt. ihre Eltern erzählten, dass sie der Familie Guillaume die Sicherung der beruflichen Existenz ihres Vaters und die erfolgsversprechenden Ratschlägen betreffs Kindererziehung, Kindernahrung und nicht  zuletzt der frühe Einschulung ihrer älteren Geschwister, Harun und Zineb, verdankten.
 
Nach dem Tod ihrer achtmonatigen und einjährigen Zwillingsschwestern Najat und Hayat, wurde Herr Guillaume nach Paris versetzt. Der Abschied fiel beiden Familien sehr schwer. Ihr Vater wurde auch in einer landwirtschaftlichen Bildungsstätte, in einem Vorort der Stadt Fés namens Saïss versetzt. Er sollte dort weiterhin als Chefkoch  im Internat arbeiten und bekam wieder mitten eines öffentlichen landwirtschaftlichen Gebietes ein schönes, geräumiges Diensthaus mit einem geräumigen Hoff und einem großen Garten, wie es zu jener Zeit üblich war.
Nachdem viele Franzosen das Land verließen, blieben zahlreiche Dienstwohnungen leer, die daraufhin einigen marokkanischen Angestellten zu Nutze kamen. Ganz unentgeltlich waren die so genannten Dienstwohnungen nicht, da die marokkanischen Beamten und Angestellten einen symbolischen Mietpreis zahlen mussten.
Im Gegensatz zu den übrigen benachbarten Einwohnern hatten sie Strom und Leitungswasser und durften sogar alle übrigen Freizeitanlagen der Bildungsstätte unbegrenzt benutzen, wie das geräumige Schwimmbad, die Sporthallen, die Kinderspielplätze und der Reiterhoff.     
Drei Monate vor dem Tod ihrer Zwillingsschwestern wurde ihre Mutter wieder schwanger. Am 04. Juli 1962 ist sie einem gesunden Sohn, ihrem Bruder Othmane, entbunden. Ihr Vater freute sich über jedes neugeborenes Kind und half ihrer Mutter sowohl im Haushalt als auch bei der Kindererziehung.
Als Sie vier Jahre alt wurde entband ihrer Mutter eines hübschen gesunden Mädchen. Sie kann sich sehr gut an einigen Einzelheiten dieser Hausgeburt erinnern. An diesem Tag war ihr Vater vereist und die Geschwister waren spielen gegangen. Es war am späten Nachmittag des 15.07.1964 als die Geburtswehen ihre Mutter überraschten. Das einzige Bild, das in ihrem Kopf geprägt wurde, war das Festhalten ihrer Mutter an einem Strick, der an einem Feigenbaum im Garten befestigt war. Unter dem Baum lag ein mit warmen Wasser und Kräuterblättern gefüllter Kunststoffbehälter und mehrere schneeweiße Frottiertücher. Ihre Mutter schrie wie am Spieß und bat Allah um Beistand; gleichzeitig bat mich darum, nicht hin zu schauen und ins Haus zu gehen. Die Geburt dauerte nicht lang; nach einiger Zeit hörte sie das Baby schreien. Sie konnte nicht sehen, wie das Baby zu Welt kam, weil sie vor lauter Angst und Aufregung ihre Augen schloss, weshalb sie nur das Geschrei ihrer Mutter weiterhin hörte. Der Platz, wo ihre Mutter stand war voller Blut; es sah so aus, als ob dort ein Huhn geschlachtet wurde. Die Mutter umhüllte das frisch geborene schreiende Baby in einem sauberen Frottiertuch, trug es ganz vorsichtig ins Schlafzimmer und verschwand irgendwo im Haus(...).
Sie freute sich sehr, endlich ein jüngeres Schwesterchen zu haben, mit der sie spielen konnte. Sie hatte zwar eine ältere Schwester, aber sie konnte mit ihr nichts anfangen, da sie sehr zurückhaltend war. Obwohl Zineb nur vier Jahre älter war als sie, wirkte sie durch ihr Verhalten und ihre Zurückgezogenheit älter als sie tatsächlich war.
Ihre neue Schwester bekam den Vornamen Malak. Sie war außergewöhnlich süß und sehr ruhig. Erst am vierten Tag nach ihrer Geburt kam ihr Vater nach Hause zurück. Er freute sich sehr, als er wusste, es war ein Mädchen und nicht ein Junge. Er liebte auch ihre Brüder, aber die Mädchen hat er einfach mehr geliebt.
Ihre Mutter hatte immer eine sehr schlechte Schwangerschaft. Ihr war es während der ganzen neun Monate dauernd übel. Sie ekelte sich auch schnell und war ihrem Vater gegenüber sowohl aggressiv als abweisend. Ihr Vater versuchte sie während dieser Zeit so häufig wie möglich auszuweichen, um jeden Streit mit ihr zu vermeiden.
Obwohl ihre Mutter sich über jede neue Geburt freute glaube sie nun, dass sie mit der Kindererziehung und der Haushalsführung sehr überfordert war, obwohl ihr Vater sie dabei unterstützte. Ihre Mutter war eine Perfektionistin und wollte, dass dem Haushalt und den Kindern nichts fehlt. Neben den Kindern und den Haushalt pflegte sie auch die Hühner, die Kuh und anderen Haustiere, die die Familie besaß, und machte auch Gartenarbeit, da sie Pflanzensammlerin war. Wenn sie alle versorgt waren, nähte sie Kleidung für die Kinder, strickte ihnen warme Pullover und spann Schafwolle, um damit Wolldecken und Teppiche zu weben. Es machte ihr viel Spaß auch am Webstuhl zu sitzen und ihrer Mutter beim Teppichweben zu helfen. Sie tat dies schon als Kleinkind. Handarbeit jeder Art gehörte zu ihren wichtigsten Hobbies.
An kalten regnerischen Wintertagen saßen sie alle abends um den Kamin herum, knabberten leckeres salziges oder süßes Gebäck, das ihr Vater selbst zubereitete und hörten die spannenden Kindergeschichten, die ihre Mutter ihnen erzählte, oder die anregenden Kriegsgeschichten, die ihr Vater während des zweiten Weltkriegs in Europa erlebte. Wenn ihre Mutter gut gelaunt war,  unterhielt sie die Familie mit ihrer bezaubernden Stimme und sang wunderschöne amazighische Melodien.
Sie hatten ein interessantes, inniges und abwechslungsreiches Familienleben, bis ihr Glück von einem empörenden Fehlverhalten ihrer Halbschwester gestört wurde (...).
 
 
 
 

Das schlimmste, was einer schwangeren Frau passieren könnte, sagte meine Mutter, als ich sie nach meiner Geburt fragte, ist zu spät zu erfahren, dass sie mehr als ein Baby in sich trägt. Sie fügte hinzu, dass sie sich schämte, weil sie die drei Herzen ihrer Babys nicht gehört hatte, nicht hören konnte. Ich persönlich habe bis jetzt die Geburt meiner jüngeren Schwester, die ich mit vier Jahren mit (halb)geschlossenen Augen beobachtete nie vergessen. Rachida Zoubid, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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