Christiane Mielck-Retzdorff

Das letzte Opfer


 
 
Vivian war mit ihrem Leben zufrieden, auch wenn ihr das niemand glaubte. Einige schwere Schicksalsschläge hatten sie ereilt, die mit einer Krebserkrankung begannen. Damals war sie erst Mitte dreißig, glücklich verheiratet und in einer Gärtnerei beschäftigt. Sie liebte ihren Mann und die Arbeit mit den Pflanzen. Und das Paar sparte sogar auf ein Häuschen im Grünen. Doch dann verlor sie zuerst eine Brust und dann ihren Ehemann. Die Chemotherapie vertrieb zwar den Krebs aus ihrem Körper, hinterließ ihr aber eine ernstzunehmende Herzschwäche. Vivian konnte die körperlich oft anspruchsvollen Aufgaben in der Gärtnerei nicht mehr erfüllen. Statt dessen fühlte sie sich oft müde, schwach und kurzatmig. Schließlich entschied ein Amtsarzt, dass sie nicht mehr arbeitsfähig war. Fortan mußte sie von einer kleinen Rente leben.
 
Doch sie fand eine bezahlbare Wohnung in einem der Randgebiete der Großstadt und lernte mit dem wenigen Geld auszukommen. Die bisher ergebnislosen Versuche der Ärzte, ihren Zustand mit Medikamenten zu verbessern, brach sie bald ab. Sie wollte ihre Gesundheit lieber ohne Chemie auf Vordermann bringen. Also zwang sie sich zu täglichen Spaziergängen bei jedem Wetter, die sie allmählich ausdehnte. Als Erstes durchquerte sie den nahen Park, wo meistens eine Gruppe von Hunden auf einer Wiese spielte. Bald wußte sie, dass sich die ausschließlich weiblichen Besitzer der Vierbeiner immer zur gleichen Zeit dort einfanden, um ungestört tratschen zu können, während die Tiere tobten.
 
Vivian bereitete sich auf diese täglichen Begegnungen vor, auch wenn die Frauen die unmodisch gekleidete und schüchterne Beobachterin absichtlich übersahen. Den Hunden entging die Fremde nicht, und bald wurde Vivian sogar von einem begrüßt. Glücklich über diese Aufmerksamkeit holte sie ein Leckerli hervor, das dankbar im Maul des Labradors verschwand. Dann trollte er sich wieder. Schon am nächsten Tag war es mehr als einer, der auf sie zustürmte und schwanzwedelnd vor ihrer Jackentasche Platz nahm. Aber es war genug für alle da. Schnell ließ sich die muntere Horde auch von Vivian streicheln. Als die Besitzerinnen das Treiben bemerkten, reagierten sie ungehalten und untersagten das Füttern ihrer Hunde. Doch weder die Tiere noch Vivian hielten sich an diese Regel. Schließlich wurde die Leckerli-Orgie von allen als Selbstverständlichkeit hingenommen.
 
Vivian hätte gern selbst einen Hund gehabt, aber sie fürchtete, aufgrund ihrer angeschlagenen Gesundheit mit den dann zwingend notwendigen Spaziergängen überfordert zu sein. Sie wollte es auf keinen Fall einem Tier zumuten, ihre gesundheitliche Schwäche ausbaden zu müssen. Aber ihre Wanderungen wurden immer länger und zügiger. Gern hätte sie sich auch Nordic-Walking-Stöcke gekauft, aber diese überschritten ihr Budget. Alles Geld, das sie entbehren konnte, wurde in Leckereien für die Hunde gesteckt.
 
Als Vivian einer Nachbarin stolz berichtete, dass sie nun ihre Spaziergänge schon bis in den Wald ausdehnte, zeigte sich diese höchst beunruhigt. Schnell zeigte Vivian ihr Handy vor, das sie natürlich für Notfälle immer bei sich trug, aber diese Tatsache konnte die Nachbarin nicht beruhigen. Schließlich las man immer wieder von einem Serienvergewaltiger, der den Frauen in Parkanlagen und Wäldern auflauerte und sie im Gebüsch mißbrauchte. Keine Frau sollte sich allein in die Natur begeben. Der Kerl war äußerst gefährlich und hatte bereits zwei Frauen gemeuchelt, während die anderen mit dem Leben davon gekommen waren. Doch keine konnte den Mann beschreiben, da er immer von hintern angriff und seinen Opfern sofort die Kehle zudrückte, bis sie bewußtlos waren.
 
An jenem Tag lockte der Spätsommer mit warmen Temperaturen und von nur wenigen Wolken gestörtem Sonnenschein. Der Park lag hinter Vivian, und im Schatten der Fichten des Waldes war die Wanderung nicht so schweißtreibend. Wie oft in letzter Zeit hing die Frau ihren Träumen nach. Sie fühlte, wie ihr Herz täglich stärker schlug und ihre Schwäche mehr und mehr einer neuen Lebensfreude wich. Ein Specht klopfte eifrig an einem abgestorbenen Baum nach Nahrung. Im Unterholz raschelten Amseln. Farne reckten ihre Fächer und kecke Lichtstrahlen ließen das Moos in einem satten Grün leuchten. Obwohl es ein normaler Werktag war, wunderte sich Vivian doch, dass sie keinen anderen Spaziergängern begegnete, die die letzten sonnigen Tage vor dem sich ankündigen Herbst in die Natur lockte. Doch sie war es gewohnt, allein zu sein und genoß die besinnliche Ruhe.
 
Plötzlich vernahm sie das Knacken eines Astes hinter sich. Obwohl sie nicht ängstlich war, spürte sie eine starke Bedrohung. Bevor sie sich umdrehen konnte, griffen zwei kräftige Hände nach ihrem Hals. Noch bevor diese ihre Kehle zudrücken konnten, entfuhr ihr ein lauter Schrei. Dann sank Vivian in Ohnmacht. Doch schon sehr bald kam sie wieder zu sich und erkannte, dass sie in das Unterholz geschleift wurde. Ihr Verstand zwang sie, die Augen geschlossen zu halten und weiter Bewußtlosigkeit vorzutäuschen. Noch lebte und atmete sie.
 
Sie war sich sicher, dass sie in den Fängen des Vergewaltigers war. Und dieser würde nicht zögern, sie zu töten, wenn sie ihn auch nur ansah. Ihre einzige Möglichkeit, mit dem Leben davon zu kommen, bestand im stummen, regungslosen Dulden seiner Handlungen. Er legte Vivian auf den Boden und öffnete ihre Hose. Das erregte Keuchen des Mannes ließ keinen Zweifel an seinen Absichten. Vivian mußte sich beherrschen, um sich nicht zu wehren. Ekel und Abscheu zitterten in ihr. Doch die vertraute Schwäche ihres Körpers hüllten sie in einen Nebel der Hilflosigkeit, der sie fast betäubte.
 
In den schweren Atem des Mannes mischten sich plötzlich andere Geräusche, die Vivian nicht einordnen konnte. Etwas näherte sich, aber es waren nicht die Schritte eines Menschen. Der Angreifer schien das nicht zu bemerken, sondern riß Vivians Bluse auf. Dann war auf einmal nichts mehr zu hören, nur das gierige Stöhnen des Mannes. Doch plötzlich ertönte ein Grollen von allen Seiten, ein wütendes Knurren. Der Vergewaltiger ließ von Vivian ab. Er schrie panisch, sie sollten abhauen, aber das Knurren tönte nur gefährlicher. Noch immer hielt Vivian die Augen geschlossen, spürte jedoch, dass der Mann sich ein wenig von ihr entfernte.
 
Plötzlich fuhr eine feuchte Zunge über ihre Wange. Noch immer wagte sie nicht, sich zu rühren. Es folgte eine Zweite, begleitet von einem aufmunternden Fiepen. Und dieses war ihr wohl bekannt von ihren Hundefreunden. Zaghaft und ungläubig öffnete Vivian die Augen und blickte in die Gesichter zweier vertrauter kleiner Hunde, die sie täglich im Park mit Leckerlis fütterte. Dann erkannte sie auch die anderen großen Tiere, die sich in einem Kreis um den Vergewaltiger versammelt hatten. Mit halb runter gelassener Hose hockte dieser auf der Erde und jede Bewegung von ihm wurde mit einem angriffslustigen Knurren quittiert. Die fünf großen Hunde ließen ihre weißen Reißzähne blitzen. Es bestand kein Zweifel, dass sie diese einsetzen würden, wenn der Mann es wagen sollte zu fliehen.
 
Vivian konnte es nicht fassen. Hatten die treuen Freunde tatsächlich ihren kurzen Schrei gehört, ihre Angst gespürt und waren gekommen, um sie zu retten? Doch nun mußte sie handeln. Sie fingerte ihr Handy aus der Gesäßtasche der Jeans, die neben ihr lag und rief die Polizei an. Es dauerte eine Weile, bis diese den Tatort gefunden hatten. So hatte Vivian Zeit sich wieder anzukleiden und die zerrissene Bluse notdürftig zu verknoten. Derweil achteten die Hunde sorgsam darauf, dass sich der Vergewaltiger nicht rührte. Manchmal mußten sie ihn mit kurzen Attacken überzeugen, wie ernst sie es meinten.
 
Vivian betrachtete den Mann, der sie nun um Hilfe anflehte. Aber er war ihr kein Wort wert. Statt dessen stellte sie mit Verwunderung fest, dass sie kaum in der Lage gewesen wäre, ihn zu beschreiben, falls sie den Angriff überlebt und ihn angesehen hätte. Seine ganze Erscheinung war so durchschnittlich und harmlos, dass er vielen Männern glich, die Vivian begegnet waren. Nichts an dem wimmernd auf dem Boden kauernden Menschen gab Hinweise darauf, dass es sich um einen brutalen Vergewaltiger und Mörder handelte. Beinahe glaubte Vivian schon, sie hätte sich das Ganze nur eingebildet.
 
Am nächsten Tag erhielt sie einen Anruf der Polizei, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass für Hinweise auf die Ergreifung dieses Täters eine Belohnung von 10.000 Euro ausgesetzt war. Diese erhielt nun Vivian. Ohne zu Zögern ging sie ins Tierheim und suchte sich einen Hund aus. Es war ein fröhlicher, friedlicher Geselle mittlerer Größe, der sie nun auf ihren Spaziergängen begleitete. Doch vorher durfte er mit seinen Kollegen spielen auf der Wiese im Park, während Vivian munter mit den anderen Frauen plauderte.              
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Christiane Mielck-Retzdorff).
Der Beitrag wurde von Christiane Mielck-Retzdorff auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Christiane Mielck-Retzdorff als Lieblingsautorin markieren

Buch von Christiane Mielck-Retzdorff:

cover

Die Töchter der Elemente: Teil 1 - Der Aufbruch von Christiane Mielck-Retzdorff



Der Fantasie-Roman „Die Töchter der Elemente“ handelt von den Erlebnissen der vier jungen Magierinnen auf einer fernen Planetin. Die jungen Frauen müssen sich nach Jahren der Isolation zwischen den menschenähnlichen Mapas und anderen Wesen erst zurecht finden. Doch das Böse greift nach ihnen und ihren neuen Freunden. Sie müssen ihre Kräfte bündeln, um das Böse zu vertreiben. Das wird ein Abenteuer voller Gefahren, Herausforderungen und verwirrten Gefühlen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Krimi" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Christiane Mielck-Retzdorff

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Sex ist eigentlich... von Christiane Mielck-Retzdorff (Humor)
Der Türsteher von Goren Albahari (Krimi)
DER KRUMME TANNENBAUM von Christine Wolny (Weihnachten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen