Der kleine Martl lebte mit seinen Eltern und den vielen Geschwistern auf einem alten Bergbauernhof hoch über dem Dorf in einem engen, steilen Tal mitten in den Bergen. Es war ein karges, arbeitsreiches Leben, das sie führten. Sobald die Kinder groß und stark genug waren, mussten sie im Haus, im Stall, auf dem Hof und auf den Feldern mithelfen. Hunger litten sie allerdings nicht, denn sie konnten doch vom eigenen Getreide gutes Brot backen, die Milch ihrer Kühe zu Butter und Käse verarbeiten und die Apfel- und Birnbäume hingen jeden Herbst voll der saftigsten Früchte.
Im Frühjahr und Sommer hatte der Vater auf den Wiesen und Feldern genug zu tun, im Winter jedoch arbeitete er als Holzfäller im Wald, um noch etwas Geld zum Einkaufen dazu zu verdienen. Es war dies eine schwere und gefährliche Arbeit und eines Tages passierte das Unglück. Ein Baum fiel in die falsche Richtung und erschlug den Vater.
Nun zog große Not auf dem Bauernhof ein. Die Mutter konnte mit den Kindern, die doch noch recht klein waren, die Arbeit nicht mehr allein bewältigen.
So mussten sie nacheinander die Kühe und die Schweine verkaufen, später auch einige Wiesen und Felder.
Nur zwei Ziegen behielten sie, die ein wenig Milch gaben. Diese wurden in der Früh aus dem Stall gelassen und holten sich tagsüber ihr Futter in den steilen Waldwiesen hinterm Haus. Abends musste Martl, der Älteste, sie suchen und zum Melken heim treiben.
Eines Tages jedoch blieben die zwei Ziegen verschwunden. Soviel er auch schaute, lockte und rief, er konnte sie nicht hören und nicht sehen. Aber ohne die Ziegen konnte und wollte Martl nicht heim. Die Seinen brauchten doch die Milch!
Besorgt stieg der Bub höher und höher in den Bergwald. Immer wieder fand er grasbedeckte Lichtungen, aber keine Spur von seinen Ziegen. Er kletterte den steilen Wasserfallweg empor. Dort war er noch nie gewesen. Nun wurde der Weg flacher, und links und rechts rückten die Berge näher heran. Geröll und Steine lagen auf seinem Steig. Sonderbar geformte Steine: ein Pferd, ein Uhu, ein fliegender Vogel. Auch immer bunter wurde das Gestein. Rot, braun, schwarz, grau, grün, gebändert, gemasert, gefleckt, dazwischen glitzerte es im letzten Sonnenlicht wie von Edelsteinen.
Verträumt blieb der Bub stehen und betrachtete den einen oder anderen Stein. „Wenn ich hier einen Schatz fände, wäre alle Not zu Ende“, sagte er voll Sehnsucht. Aber die Angst um seine Ziegen trieb ihn weiter.
Das Tal wurde enger und enger, die Felsen immer steiler. Plötzlich versperrte ihm eine Felsmauer, wundersam weiß-rot-grün gestreift, den Weg. Links schoss ein schäumender Wildbach heraus, rechts aber waren die Wände so steil und glatt, dass ein Durchkommen nicht mehr möglich war. Noch dazu begann bereits die Dämmerung vom Tal aufzusteigen.
Martl versuchte wieder zu rufen und zu locken, aber das Tosen des Wildbaches verschluckte seine Stimme. Was nun tun? Traurig und ratlos setzte sich der Bub auf einen Felsvorsprung, der wie für ihn gemacht, die Form eines bequemen Sessels hatte. Über ihm zündeten die ersten Sterne ihre Lichter an. Heilige nächtliche Ruhe begann sich auszubreiten, sogar der Bach schien langsamer und verhaltener zu rinnen. Ganz eigen wurde es dem Buben ums Herz. Angst hatte er nicht, aber ein sonderbares Gefühl der Sehnsucht und der Erwartung stieg in ihm auf.
Und plötzlich, mitten hinein in diese traumhafte Stille zwischen Tag und Traum begann eine glockenhelle Stimme zu singen. Es waren fremdartige Worte, die Martl nicht verstehen konnte, aber die Melodie ergriff ihn so sehr, dass er mit seiner rauen Bubenstimme einfach mitsingen musste. In seinen Worten war die Bitte um ein bisschen Glück und Freude.
Langsam verklang die wundersame Melodie und der Vollmond begann über die Berge zu klettern. Plötzlich richtete er einen Strahl genau auf den träumenden Buben, wovon dieser erwachte. Der Mondstrahl begann nun, einen Weg durch die gestreiften Felsen zu zeichnen. Verträumt und verschlafen folgte der Bub dem Pfad und siehe da, er kam plötzlich ganz leicht durch das vorher noch so undurchsteigbare Felsenlabyrinth. Oben angelangt, tat sich vor ihm eine grüne, saftige Wiese auf und auf dieser standen stillvergnügt und satt seine beiden Ziegen.
Hinter diesen kam eine wunderschöne, mit einem sternenübersäten weißen Gewand bekleidete Frau, die den Buben aufs freundlichste begrüßte. Sie fragte: „Willst du deine Tiere den Sommer über auf meiner Wiese lassen? Ich werde es dir reichlich lohnen.“
Martl wusste darauf nichts zu antworten. Er hätte doch erst die Mutter fragen müssen! Bei dem Gedanken an daheim kamen ihm die Tränen und er stellte sich vor, wie sie ihn jetzt wohl alle suchen würden.
Da legte ihm die weiße Frau ganz zart ihre Hand auf die Schulter und sprach: „Sei nicht traurig, ich werde dich gleich heimführen. Aber warte noch ein wenig.“ Damit drehte sie sich um und verschwand durch eine Felsritze im Berg. Bald erschien sie wieder mit einem schweren, randvoll mit guten Sachen gefüllten Korb. Als sie aus dem Berg zurückkam, erkannte der Bub hinter ihr einen hell erleuchteten, funkelnden Raum, der sich aber sofort wieder schloss. Die Frau gab ihm den Korb, reichte ihm die Hand und führte ihn auf einem anderen, kürzeren Weg hinaus, direkt vor sein Heimathaus. Dort verschwand sie so plötzlich, dass sich der Bub nicht einmal recht bedanken konnte.
Vor der Haustür erwartete ihn die besorgte Mutter, umringt von der Kinderschar. Welch freudige Begrüßung und welche Freude, als Martl in der Stube seinen Korb ausleerte. Von den guten Sachen konnten sie den ganzen Sommer leben, auch stand jeden Morgen ein Eimer Ziegenmilch vor der Tür. Im Herbst brachte die weiße Frau die Ziegen zurück und nahm den Martl den Winter über zu sich in ihr Felsenschloss, wo er vieles bei ihr lernte, was er später als guter und tüchtiger Bauer, der dann wurde, brauchen konnte.
Am allerschönsten aber empfand er immer wieder die wundersamen Stunden, wenn ihm die weiße Frau mit ihrer glockenreinen Stimme die alten schwermütigen Lieder aus ihrer Heimat vorsang, die er dann später an seine Kinder und Kindeskinder weitergab.
ChA 2008
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Christa Astl).
Der Beitrag wurde von Christa Astl auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Christa Astl als Lieblingsautorin markieren
Schneerosen: 24 Geschichten zur Advent- und Weihnachtszeit
von Christa Astl
In der heutzutage so lauten, hektischen Vorweihnachtszeit möchte man gerne ein wenig zur Ruhe kommen.
Einfühlsame Erzählungen greifen Themen wie Trauer, Einsamkeit, Krankheit und Ausgrenzung auf und führen zu einer (Er-)Lösung durch Geborgenheit und Liebe.
24 sensible Geschichten von Großen und Kleinen aus Stadt und Land, von Himmel und Erde, die in dieser Zeit „ihr“ Weihnachtswunder erleben dürfen, laden ein zum Innehalten, Träumen und Nachdenken.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: