Rachida Zoubid

Liebe auf den ersten Blick



Es geschah vor sechsundzwanzig Jahren an einem sonnigen Frühlingsdonnerstag, in einem Hörsaal der Fakultät für Literatur- und Geisteswissenschaften in Fes, als ich gerade wegen eines nostalgischen Gefühls nach einem Jahr meine Fakultät und den Fachbereich für Anglistik kurz besuchte, als ich IHN zum ersten Mal sah und vom blendenden, verführerischen Blitz SEINER AUGEN getroffen wurde.  Der Hörsaal war überfüllt mit Fremdsprachenstudenten. Es ging dabei um eine Vorlesung für Arabisch oder Islamkunde, ein Pflichtnebenfach für alle Fremdsprachenstudenten, darunter Anglistikstudenten. Er war ungefähr meines Alters, dachte ich jedenfalls, hatte wunderschöne dichte, dunkelblonde lockige Haare, attraktive Gesichtszüge, zauberhafte betonte Lippen und trug eine sportliche dunkelblaue Feinkordhose und ein halbarmiges graues T-Shirt. Er saß ganz hinten im Hörsaal auf einem Tisch mit anderen Studenten, da es nicht genügend Stühle für alle anwesenden Studenten gab. Zitternd näherte ich mich seinem Tisch und stand nun direkt hinter ihm. Er sah aufgeweckt und lebenslustig aus. Er lauschte der Vorlesung, vermerkte ab und zu Erklärungen und  hin und wieder flüsterte er kichernd etwas ins Ohr eines Studenten neben ihm. Irgendwann drehte er sich um und warf einen schnellen, unbestimmten Blick meiner Richtung. Ich blieb nur etwa eine halbe Stunde im Hörsaal und verließ dann die Fakultät, um nach Rabat, wo ich im zweiten Anglistikjahr immatrikuliert war, zurückzufahren. Seit diesem Tag sah ich immer seine wunderschönen, großen, leuchtenden Augen in meinen Träumen. Ich erzählte meiner besten Freundin von ihm, versuchte jedoch meine starke Zuneigung nicht ernst zu nehmen, aber es war vergeblich. Er war immer anwesend in meinen Sinnen.
Am Ende des Universitätsjahres scheiterte ich in den Abschlussprüfungen, da ich wegen unerwartet eingetretener trauriger Todesfälle in meiner Familie mich für einige Fächer gar nicht genug vorbereiten konnte und ich mich um meine kürzlich verwitwete älteste Schwester und ihren einjährigen Sohn kümmern sollte, nachdem sie innerhalb eines Monats ihren vierunddreißigjährigen Ehemann sowie ihren neugeborenen Säugling verlor. Das Jahr, das ich bei ihr verbringen musste, war für mich sehr aufreibend und stressig. Ich litt weiterhin an gefährlichen Asthmaanfällen und konnte nachts wegen chronischer Atemnot und Hustenreiz gar nicht durchschlafen. Und wenn es mir gelang einzuschlafen, weckte mich meine Schwester, so dass ich laufend ihren wie am Spieß schreienden Sohn beruhigte, da er meistens ohne mich nicht einschlafen konnte.
Ich fiel in zwei Fächern durch. Auch wenn es absurd sein mag, freute ich mich jedoch instinktiv darüber und traf die Entscheidung, mich im zweiten Jahr erneut an meiner ehemaligen Fakultät in Fes für Anglistik zu immatrikulieren. Meine Eltern erfüllten mir alle Wünsche und freuten sich darauf, mich wieder bei sich zu haben, da ich nach der Meinung meiner Eltern die Lebensflamme und das gesegnete sorgenfreie glücksbringende Kind unseres Hauses war. Meine jüngste Schwester war auch sehr glücklich, mich wieder zuhause zu sehen und dass ich ihr wieder Gesellschaft leisten würde.
Ich begann dann regelmäßig zur Uni zu gehen, freute mich unheimlich darauf, meine alte Umgebung sowie die vertrauten alten Schulfreundinnen wieder zu treffen und in meinem gewohnten bequemen Bett zu schlafen. Ich lernte eifrig und war sehr gesittet im Vergleich zu einigen Studentinnen meiner Fakultät. Ich bemerkte, dass der Student mit den wunderschönen Augen, der im letzten Frühling meine Seele und mein Herz im Hörsaal eroberte, mit zahlreichen Studentinnen verkehrte und sogar sich von ihnen augenfällig liebkosen ließ. Ich beobachtete sogar auch eines Tages, wie er einer hübschen Studentin aus dem Norden Marokko etwas ins Ohr flüsterte und sie daraufhin mit den Fingern am Kinn streichelte. Eines Tages erblickte ich ihn mit einer anderen zierlichen Studentin, die ihn gerade am entblößten Bauch  kraulte und er sah aufgelegt aus, fühlte ich jedenfalls. Ich tat, als ob ich nichts merkte und verschwand wutentbrannt. Ich kam mir so winzig klein, unbedeutsam und unwürdig vor und fühlte mich rundherum elend. Ich rannte etwa eine Stunde über das Campusgelände wie eine Besessene, die plötzlich erkannte, dass sie viele Monate umsonst von einem Weberheld, einem vergebenen Traummann geträumt hatte;  er hatte mich sicher gar nicht bemerkt, ich jedoch war zutiefst niedergedrückt, obwohl ich eigentlich ausschließlich in meinen Träumen mit ihm zu tun hatte und er mich höchstwahrscheinlich überhaupt nicht wahrnahm. Ich wünschte, er würde nur ein kleines bisschen an mich denken, mich vielleicht sogar bemerken, doch schien er leider gar nichts für mich übrig zu haben. Meine alten Freundinnen warfen mir meine Leidensmiene vor, die ich allzeit aufsetzte, seit ich ihn zum ersten Mal sah und ihn nie anfassen, nie berühren, nie riechen und nie lieben konnte, da er Anderen gehörte, die er aussuchte, die ihn umschwärmten und die mit ihm vielleicht alles erlebten.
Das erste Wiedersehen
Eines Tages, als meine beste Freundin aus Rabat mich besuchte, weil sie wegen der Studentendemonstrationen  in Rabat vorlesungsfrei hatte, begleitete sie mich zu einer Kompaktvorlesung für Anglistikstudenten, so dass ich ihr das lebende Herzstück meiner Träume zeigen konnte. Ich wusste, dass er zweifelsohne kommen würde. Er war sehr eifrig und verpasste kaum eine Vorlesung.
Die Vorlesung sollte in einem Parterresaal der Fakultät stattfinden. Da wir ein bisschen später kamen, fanden wir gar keine Sitzplätze mehr. Einige Studenten, die vergeblich um mich warben, hatten einen Sitzplatz für mich und meldeten sich nacheinander bei mir in der Hoffnung, dass ich zu ihnen ginge. Ich lehnte jedoch ab, da ich zwei und nicht nur einen Platz brauchte. Mein Geschätzter wartete, bis unsere Blicke sich trafen und unsere Herzen sich berührten, meldete sich mit dem Zeigefinger, dass er zwei frei Plätze hatte.
Unsere Augen trafen sich und es geschah etwas Unglaubliches, etwas Unbeschreibliches. Es war, als ob wir uns seit unserer Geburt kannten, als ob wir zusammenwuchsen, als ob wir uns schon immer liebten. Es war die fantastischste, unermesslichste Liebe auf den ersten Blick. Als erstes hatte ich mich in ihn verliebt und ich in meinen Träumen nach seinen Blicken gesehnt, er jedoch erwiderte meine Gefühle erst später, vielleicht in dem Moment, als ich mich neben ihn setzte. Ich traute meine Augen nicht, lief dann mit meiner Freundin sofort in seine Richtung und flüsterte ihr gleichzeitig ins Ohr, dass er der Mann mit den wunderschönen Augen, der Mann meiner ewigen unwandelbaren Träume war.
Kaum saß ich neben ihm, als mein Herz zu rasen begann, mein Gehirn wie aufgewühlt war und mir ganz heiß wurde. Ich bedankte mich leise bei ihm, während ich ihn mit seinem Vornamen ansprach. Er beobachtete mich mit seinen unvergleichlichen Augen und sagte zu mir: „du kennst ja meinen Vornamen, ich DEINEN auch“. Ich wurde rot vor Scham und wünschte, der Boden würde aufgehen und mich verschlingen. Ich versteckte mein Buch, so dass wir beide aus seinem Buch lasen. Ich bemerkte, es kam ihm auch gelegen. Ich hatte den Eindruck, dass alle Studenten, vor allem seine Freunde und auch seine Rivalen, uns neugierig und musternd beobachteten. Er wollte wissen, wer meine Begleiterin sei. Ich beantwortete seine Frage mit zitternder Stimme und bebenden Lippen. Er bemerkte meine Schamröte und meine Verwirrung und sagte nichts mehr. Ich hörte sein Herz schlagen, das Blut in seinen Adern fließen; ich roch seinen Atem und schlüpfte blitzschnell in seinen Wesen und  fand sofort Zuflucht in seiner Seele, in seinem Herzen. Ich sah unsere beiden Herzen sich umarmen. Ich wünschte, die Vorlesung würde nie enden und die Zeit würde für immer stehen bleiben, damit ich ewig neben ihm, bei ihm bleibe, auch wenn ich noch nicht wusste, was er von mir wirklich hielt; ich fühlte es jedoch. Es war mir sehr peinlich, meine Liebesgluten andeutend oder unverkennbar gezeigt zu haben, aber es war übermäßiger als ich wollte. Nach der Vorlesung verließen wir den Saal und begaben wir uns in die Nähe der Cafeteria an einen besonnten Platz. Ich traute mich nie, in die Cafeteria zu gehen, da dort üblicherweise nur unanständige Studentinnen gingen, hieß es. Ich wollte auch meinem jüngeren Bruder, der an der gleichen Universität Rechtswissenschaften studierte, ausweichen, da er überall Freunde hatte, die mich verpetzen würden, wenn sie mich dort sähen. Mein Geliebter bemerkte oder wusste es, fragte uns gar nicht, ob wir mit ihm hinein gehen wollten, verschwand  für einige Minuten und kam heraus mit zwei Minzeteegläsern. Er gab meiner Freundin ein Glas, übergab mir das zweite und meinte, wir sollten beide aus einem Glas trinken, bis es leer sei, dann würde er noch ein drittes Glass holen. Ich lächelte verlegen, antwortete jedoch nicht, trank einen Schluck Tee und übergab ihm den Rest. Wir tranken beide abwechselnd aus dem gleichen Glas. Jeder Schluck schmeckte für mich wie Paradieshonig, duftete nach Paradiesfrüchten. Wir sprachen über die Studentendemonstrationen, Studentenarmut, den Unterschied zwischen den Universitäten Rabat und Fes und selbstverständlich über zeitgemäße politische Themen. Er fragte mich, warum ich im letzten Jahr nicht in Fes studierte; er hätte mich sonst bemerkt. Ich erzählte ihm meine vollständige Familiengeschichte, gab aber nicht zu, ich hätte ihn bereits vor einigen Monaten gekannt. Er bemerkte jedoch meine Verwirrung und ersparte mir weitere Fragen. Als wir ihm sagten, dass wir nach Medina fahren würden, schlug er uns vor, uns zu begleiten, da er in Sidi Bujida wohnte und sich dort sehr gut auskannte. Ich war überrascht und teilte ihm mit, dass ich auch in Sidi Bujida geboren bin; ich fügte hinzu, dass ich während meines ersten Lebensjahres  mit meiner Familie im Gymnasium Mulay Rachid, wo er auch einst studierte, lebte. Geboren sind wir auch im gleichen Krankenhaus, neben der geisteswissenschaftlichen Universität in Fes. Wir unterhielten uns über die vielen Gemeinsamkeiten, die wir sogar seit unserer Geburt teilten.
Ich hatte den Eindruck, Gott führte uns zueinander. Es war von Gott vorgegeben, dass ich in den Abschlussprüfungen sitzen blieb, dass ich die Fakultät zweimal hintereinander wechselte, dass meine Freundin mich unangemeldet besuchte und, dass ich mich mit ihr neben ihn setzte, um ihn nun hautnah zu stehen, um mit ihm zu sprechen und von ihm zu erfahren, dass wir noch viel mehr miteinander teilten, als wir jemals dachten. Es war kein Zufall, es war unser segensreiches Schicksal, uns einander wieder zu begegnen, um den gleichen gemeinsamen Lebensweg miteinander zu gehen, um unsere Seelen miteinander unendlich schweben, verschmelzen zu lassen.  
Was danach geschah, als wir uns trennten, ist unbeschreiblich; wir trafen uns immer zufällig; ich begann, die gleichen Vorlesungen wie er zu besuchen, auch wenn ich manchmal auf andere Professoren eingeteilt war; er machte auch das Gleiche. Wir haben uns aber nie offiziell verabredet, da er am Anfang nur das Erotische von mir anspielend ersehnte. Einmal fragte er mich, ob ich mit ihm in der Mensa zum Mittag essen würde. Ich war enttäuscht, da er doch wusste, dass ich neben der Fakultät wohnte und dass dies für mich nicht in Frage käme und gar nicht selbstverständlich wäre. Außerdem spionieren mein Bruder immer hinter mir her und würde mir den Hals umdrehen, wie er immer zu sagen pflegte, wenn  er wüsste, ich würde mich mit einem Studenten an der Fakultät herumtreiben. Nach zwei Tagen kam er wieder zu mir und fragte mich, ob ich ihn zu Hause besuchen würde, da seine Eltern verreist wären und die Bude würde dann frei sein. Ich war zutiefst verzweifelt und wusste nicht mehr, wohin mich meine Liebe für ihn führen würde. Selbstverständlich hatte ich nie vor, mich seinen Gelüsten zu unterwerfen, nur um neben ihm zu sein. Ich wollte seine Liebe gewinnen, sein Herz erobern, genauso wie er es mit meinem Herzen gemacht hat. Ich entschied mich für langmütige, ausdauernde Besonnenheit und wartete weitblickend, mit beharrlicher Ausdauer auf Godot.

(Rachida Zoubid  10.11.2012)

Es gibt nichts Schöneres im Leben als die zweite Hälfte zu finden und eigene Träume zu leben und nicht "eigenes Leben zu träumen". Rachida Zoubid, Anmerkung zur Geschichte

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