Rose Blanche

Das Totenhemd

 

„Willkommen die Herren. Es freut mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind!“, der Mann, welcher vor uns stand war mittleren Alters, das Haar schon weit zurück gewichen und den­noch mit wachen und jugendlichen Augen.

 
„Wir hatten kaum eine andere Wahl, Euer Hochwohlgeboren. Ihre Anweisungen waren mehr als deutlich.“, antwortete mein Bruder mit leicht mürrischer Miene.
 
Wir schrieben das Jahr 1822. Das Jahr der griechischen Revolution, Veroneser Kongresses und neuerlichen Entdeckungen und Erfindungen. Ein Jahr, welches sich mir wohl ebenso in mein Gedächtnis brannte, wie so viele andere auch. Die Ereignisse von Weimar und Karlsruhe lagen schon lange hinter uns, doch für Jacob und mich waren es Meilensteine, welche uns hatten reifen lassen. Auch wenn mein Bruder noch immer von Reisefieber und Forschungsdrang aus Kassel und von mir getrieben wurde, so war er dennoch ruhiger geworden. Seid Lotte geheiratet hatte, bewohnten Jacob und ich eine kleine Wohnung etwas außerhalb der Stadt und besonders mein Bruder beschäftigte sich intensiver mit seiner „Deutschen Grammatik“.  Vor einigen Tagen hatten wir ein Schriftstück des Rittmeisters Friedrich Johann Freiherr von Recke erhalten, in wel­chem er uns eindringlich bat sich binnen zwei Wochen bei ihm in Jena einzufinden, er hätte einen sehr vertraulichen Auftrag für uns. Jacob ahnte bereits, dass Goethe seine Finger wie­der einmal im Spiel gehabt haben musste, dass ein Mann wie der Rittmeister ausgerechnet an uns heran getreten war. Das bedeutete auch, dass es wieder einmal um eine äußerst prekäre Angelegenheit ging. Mein Bruder wollte dankend ablehnen, denn unsere vergange­nen Zusammentreffen mit dem Dichterfürsten waren stets mit Tod, Verrat und schlaflosen Nächten einher gegangen. Doch Goethe musste dies wohl bereits vorausgesehen haben, denn er hatte dem Rittmeister wohl geraten, dass man uns persönlich bis nach Jena brachte und so wurden wir in einer schwarzen Kutsche quer durch das Land gefahren, unseren eige­nen Gedanken nachhängend. Jacob begann darüber zu spekulieren, in was für eine brisante Affäre wir nun wieder geraten würden und schwor, dass er dem großen Dichter nicht so einfach verzeihen würde. Das Anwesen lag abgelegen der Stadt und war von einer hohen Mauer umzäunt, von düster dreinblickenden Soldaten bewacht und versprühte eine un­heimliche Ahnung, was mir eine Gänsehaut machte. Ich erschauderte etwas und blickte auf meinen Bruder, der meine Gedanken wohl zu erraten schien und leicht nickte.
Wir wurden in einen großen Raum geführt, welcher nur recht spärlich eingerichtet worden war und dadurch eine recht bedrückend wirkte. An einem Tisch saß der rundliche Ritt­meister von Recke und beugte sich über ein weiteres Schreiben, auf die Nase war eine Brille geklemmt, über deren Ränder er zu uns aufblickte. Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen, als er aufstand und zu uns hinüber ging.
 
„Sie hatten hoffentlich eine angenehme Reise, die Herren Grimm. Ich bitte die Umstände zu entschuldigen, aber mir wurde versichert, dass sie die Besten für diese Aufgabe wären.“, seine Stimme hatte diesen leicht aristokratischen und arroganten Ton an sich, war dennoch sanft und hatte diesen thüringischen Singsang.
 
„Versichert? Ich kann mir schon denken, wer Ihnen den Rat gab, sich an uns zu wenden. Allerdings müssen wir ablehnen. Komm Wilhelm.“, mit diesen Worten verneigte sich mein Bruder und wandte sich ab.
 
„Sie meinen, dass der Herr Geheimrat von Goethe mir den Rat gab. Dem ist nicht so, ich habe ihn lediglich um Ihren Aufenthaltsort gebeten. Er warnte mich bereits vor, dass Sie ablehnen würden, aus diesem Grund habe ich Sie auch holen lassen. Sehen Sie es geht um die Comtesse de Chasy-Mirandeau.“
 
Ich sah wie in Jacobs Gesicht eine Veränderung vor sich ging. Alles Blut war aus seinen Wan­gen gewichen, sein Blick wurde starr. Er schluckte und wandte sich um. Von Recke hatte seinen Mund zu einem wohligen Lächeln verzogen, seine Miene spiegelte Triumph wieder, als er auf uns zutrat.
 
„Wie ich sehe, ist Ihnen der Name ein Begriff. Das freut mich, dann brauche ich auch nichts weiter zu den Umständen zu sagen.“
 
Jacob gewann seine Sprache wieder, dennoch brach die Stimme als er sprach: „Marianne Blanche Comtesse de Chasy-Mirandeau?“
 
Der Rittmeister nickte, legte einen Finger an seine Lippen und schien über etwas nachzuden­ken, ehe er sich wieder hinter seinen Schreibtisch niederließ und scheinbar einige Papiere zu ordnen.
 
„Die Comtesse ist tot und Sie, meine Herren, sollen ihr den letzten Wunsch erfüllen. Ihr Haupt und Leib in der Heimaterde zu betten.“
 
Mein Bruder taumelte leicht, wich einige Schritte zurück und blickte mich nun hilflos an. Ich begriff nicht, doch würde ich Jacob nachher fragen, was es mit der Comtesse auf sich hatte. Doch plötzlich stürzte er neben mir voran, stürzte sich regelrecht auf den Tisch und ich glaubte schon, dass er über die Platte greifen und Von Recke am Kragen zu sich herüber ziehen würde. Doch ich konnte nur seinen keuchenden Atem hören. Erst wenige Augenblicke später vermochte ich die Worte von seinen Lippen zu verstehen.
 
„Tot? Sie ist tot? Sie war jünger als ich. Wie kann sie tot sein? Eine Frau in der Blüte ihrer Jahre? Nein, nein. Das ist vollkommen unmöglich. Warum? Warum wir?“
 
Ich trat neben ihn, legte meine Hand auf seine Schulter und blickte nun auf den Rittmeister, welcher mit leicht erschrockenem Blick auf Jacob sah, ehe er seine Fassung zurück erlangte und sich räusperte.
 
„Nun, Herr Grimm, Sie haben Recht. Madame verstarb kurz nach ihrem einunddreißigsten Geburtstag nach einer schwerer Krankheit Zu jung, wie es scheint und dadurch recht tragisch. Aber es war laut des Schreibens ihres Arztes eine Erlösung. Er war es auch, welcher mich über den Wunsch informierte, dass sie von Ihnen zurück in ihre Heimat gebracht werden möchte. Sie werden den Sarg der Comtesse in Straßburg abholen und in Begleitung eines Dieners dann zurück nach Preußen bringen. Dort wird der Sarg übernommen und in der Fa­miliengruft beigesetzt.“, diese gleichgültige Nüchternheit, mit welcher von Recke uns den letzten Wunsch der Comtesse überbrachte.
 
Jacob ließ sich zurückfallen und ich glaubte schon, er würde mir zusammenbrechen, weswe­gen ich ihn unter die Arme griff und nun statt meines Bruders antwortete: „Wann werden wir erwartet?“
 
Der Rittmeister überreichte uns ein Schriftstück, woraus wir alle Informationen entnehmen könnten und senkte seinen Blick dann wieder über die Papiere, bedeutete uns so, dass wir jetzt gehen konnten. Noch immer stützte ich meinen Bruder, ging mit ihm hinaus und half ihm in die Kutsche. Mit einem schweren Seufzer ließ er sich in die Sitzpolster sinken, schloss die Augen und lehnte den Kopf an das Holz des Innenraumes. Wir waren schon eine ge­raume Zeit unterwegs, als ich den Mut fand Jacob über die Comtesse zu befragen. Er hatte aus dem Fenster auf einen weit entfernten Punkt gesehen und schrak bei meiner Frage leicht zusammen. Für einen Augenblick glaubte ich schon, dass er mich anschreien würde, doch dann bemerkte ich den traurigen Ausdruck auf seinem Gesicht. Der Tod der Comtesse ging ihm wirklich sehr nah, allerdings fragte ich mich warum. Er hatte mir nie von ihr erzählt und ich persönlich kannte Niemanden unter diesem Namen.
 
„Marianne Blanche Comtesse de Chasy-Mirandeau war eine alte Bekannte. Ich traf sie auf einem Fest auf meiner ersten Parisreise. Sie war gerade einige Wochen verheiratet und noch recht jung, aber schon sehr wortgewandt. Wir unterhielten uns recht lange und tauschten so manche Geschichte aus. Später erfuhr ich, dass man sie auf Lebenszeiten aus Deutschland verbannt hatte.“, seine Worte verhallten in der Tiefe meines Herzens.
 
„Verbannt? Auf Lebenszeit? Warum?“, Blut schoss in meine Wangen, denn es musste doch etwas sehr schwer wiegendes gewesen sein.
 
„Nun die genauen Gründe kenne ich leider auch nicht, aber ich weiß, dass etwas am Hofe des Königs geschehen war. Mein Gott, tot. So jung.“, die letzten Worte waren eher für sich selbst bestimmt, denn für mich, doch sie trafen mich ebenso.
 
Die ganze Fahrt über dachte ich darüber nach, grübelte was geschehen sein musste, dass man die junge Frau verbannt hatte. Besonders da Jacob sie eher als liebevolles Wesen be­schrieben hatte, welche noch recht früh am Anfang ihres Lebens gestanden haben musste. Eine unbedachte Äußerung war es gewiss nicht oder war sie vielleicht gar nicht so ein liebes Mädchen gewesen? Sie war mit einem Franzosen verheiratet und seit Bonaparte war das Verhältnis nicht sonderlich entspannt und viele Verhandlungen waren bisher gescheitert. Ich wog alle Möglichkeiten ab und in Jacobs Gesicht konnte ich die gleichen Überlegungen er­kennen, allerdings schien da noch etwas Anderes in seiner Miene zu sein. Etwas, was mir bisher bei ihm noch nie aufgefallen war. Es war diese tiefe schmerzliche Trauer, welche der Verlust eines geliebten Menschen mit sich brachte.
Es dauerte über eine Woche ehe wir Straßburg erreichten und uns von den Strapazen der Reise in einer kleinen Herberge erholten. Am nächsten Tag sollten wir die sterblichen Überreste der Comtesse übernehmen und sie zurück nach Preußen bringen. Ganz wohl war mir bei dem Gedanken nicht, doch woher diese Zweifel kamen vermochte ich nicht zu sagen. Etwas kam mir seltsam an der ganzen Sache vor, aber vielleicht hatten mich unsere vergangenen Aben­teuer auch misstrauischer werden lassen.
Der nächste Morgen kam zu früh, besonders für meinen Bruder. Ich hatte ihn die halbe Nacht unruhig in seinem Bett herumwälzen gehört, ehe er dann irgendwann doch einge­schlafen war. Doch ein kräftiges Frühstück weckte unsere Lebensgeister und ich fühlte mich frisch und erholt. Jacob allerdings war blass und hatte tiefe dunkle Ringe unter seinen Au­gen, seine Miene war verbittert. Wir verabschiedeten uns und begaben uns dann zu dem vereinbarten Treffpunkt, dem Büro des Anwalts André Defout. Dieser erwartete uns bereits und führte uns dann in einen prächtigen Salon, in welchem sich schon eine kleine Gruppe von Menschen versammelt hatte. Wir wurden einander vorgestellt, größtenteils waren es Aristokraten und Bürokraten, welche sich mit dem Nachlass der Familie beschäftigten. In mir keimte die Frage auf, was denn mit dem Comte geschehen sein musste, denn er war nicht unter den Gästen. Doch die Frage wagte ich nicht zu stellen, da ich um Jacobs Willen  alle Formalitäten rasch erledigt haben wollte. Wir erfuhren, dass man die Comtesse für die lange Reise einbalsamiert und neben dem standesgemäßen Sarg, noch in einen versiegelten Bleisarg gelegt hatte, dennoch sollten wir den Sarg immer möglichst fern von Wärme und Nässe stehen lassen. Angesichts der nächtlichen Temperaturen und den bisher trockenen Wochen nicht sonderlich schwer und auch erleichternd. Nach binnen einer Stunde hatten wir Papiere unterzeichnet, entgegen genommen und verabschiedeten wir uns wieder. Der Anwalt führte uns in ein kleineres Zimmer, in welchem neben einem ebenholz­farbenen Sarg eine zusammengekauerte Gestalt auf einem Schemel hockte. Ein Bursche von kaum mehr achtzehn oder zwanzig Jahren. Das kurze aschblonde Haar stand unbändig unter der Kappe, welche er sich tief über die Augen gezogen hatte, hervor. Die Kleidung war schlicht und wirkte schon seit langer Zeit abgetragen und etwas zu groß für die zarte Gestalt.
 
„Messieurs Grimm, dies ist Cétric,  der Diener der Comtesse, welcher Sie beide begleiten wird.“, mit diesen Worten sprang dieser auf und verbeugte sich.
 
Ich trat lächelnd auf ihn zu, streckte ihm meine Hand entgegen und war überrascht, dass diese doch recht kräftig gedrückt wurde.
 
„Jacob und Wilhelm Grimm, Letzterer meine Wenigkeit. Mein herzliches Beileid, Herr Cétric. Standen Sie schon lange im Dienste der Comtesse?“, erkundigte ich mich mit sanften Ton und versuchte dabei einen Blick unter die Kappe zu erhaschen.
 
Unvermittelt hob der Diener den Kopf und blickte mich direkt an, die Augen waren größten­teils durch Haar verborgen, doch ich konnte eine einfache Brille darunter erkennen und zwei dunkle Pupillen. Ein eher mitleidiger Ausdruck lag auf den Lippen und er wandte den Kopf zu dem Anwalt, welcher neben mich herantrat und eine Hand auf die Schulter von Cétric legte.
 
„Der Arme ist Zeit seines Lebens stumm. Aber er ist des Schreibens und Lesens mächtig, weswegen Sie Messieurs Sie auch keinerlei Probleme haben dürften, dass er sich verständig macht. Allerdings besteht darin auch ein größeres Problem, denn der gute Cétric ist Ihrer Sprache nur im Verstehen vollkommen mächtig.“
 
Erst jetzt vermochte ich die Tafel um seinen Hals zu erkennen, auf welche er eifrig mit einem Stift etwas schrieb. Jacob trat nun ebenfalls näher heran, getrieben von der Neugier. Dann ließ der Bursche die Tafel wieder sinken und deutete auf das geschriebene. Es war eine recht schwungvolle Schrift, mit der Leichtigkeit jahrelange Übung und Perfektion. Es waren nur eine Zahl und zwei Wörter: „ Nicht Herr! 17“
 
„Ah verstehe, siebzehn Dienstjahre und wir sollen ihn nicht mit Herr ansprechen. Nun ja, ange­sichts der Tatsache, dass er lediglich ein Diener der Comtesse war, ist diese Bitte auch ver­ständlich nach zu vollziehen. Aber eines würde mich noch interessieren, Herr Defout, was ist mit dem Gatten der Comtesse geschehen. Ich habe ihn weder unter den Gästen gesehen, noch wurde sein Name genannt.“, Jacobs Stimme zitterte leicht, doch hatte sie wieder jenen sonst so festen Klang.
 
Defout zog die Luft scharf zwischen den Zähnen ein, nickte leicht und wandte uns den Rü­cken dann zu, schien sich kurz in dem Raum umzublicken, als würde er etwas suchen.
 
„Der Comte de Chasy-Mirandeau ist auf einer Reise nach Afrika, wo sich einige Diamanten­minen der Familie befinden, verschollen. Sein Schiff kenterte unweit der portugiesischen Küste, alle sind ertrunken. Das war auch der Grund für die schwere Erkrankung der Com­tesse.“, langsam kehrte er zu uns zurück, blickte dabei auf dem Boden und blieb dann schließlich vor uns stehen.
 
Er hob den Kopf und blickte Jacob dann in die Augen, dieser war einen Schritt zurück gewi­chen und betrachtete kurz den Sarg und Diener, ehe er sich wieder Defout zu wandte und verstehend nickte.
Ich war erleichtert, als wir endlich aus dem Haus traten und die bedrückende Stimme hinter uns lassen konnten. Hinter uns ging Cétric in Begleitung von vier großen und stämmigen Sargträgern, welche den Sarg auf eine eigens dafür gefertigten Kutsche schoben und vertoll­ten, als wäre es eine Schiffsladung.  Solch eine Kutsche hatte ich bisher noch nicht gesehen. Sie sah aus, als wäre sie aus einem Torwagen und einer Berline zusammengebaut und mit einem weiteren Achsenpaar versehen worden. Das Holz war schwarz lackiert und mit einigen silbernen Verzierungen und einem Wappen, wel­ches wohl das Familienwappen sein musste, verschönert worden. Allein schon der Anblick war düster, doch mit den sechs Rappen und dem vollkommen in schwarz gehüllten mürrisch drein schauenden Kutscher auf dem Bock hatte es schon etwas aus einem Schauermärchen. Unser Gepäck war bereits aus der Herberge auf dem Dach verstaut worden und Cétric klet­terte rasch in den Innenraum, wo er es sich bequem machte. Ich folgte dem Diener und Jacob setzte sich mir gegenüber neben den Burschen. Wir verließen Straßburg und schwie­gen für eine sehr lange Zeit, ehe Jacob derjenige war, welcher das Wort an unseren Begleiter richtete.
 
„Weißt du wer wir sind?“
 
Cétric nickte und schrieb dann eifrig unsere Namen auf die Tafel.
 
„Wir sind Sammler. Wir sammeln Märchen, Legenden und Sagen aus ganz Deutschland. Obgleich es eher auf Wilhelm zutrifft.  Aller­dings würde mich interessieren, ob es auch in deinem Land bestimmte Geschichten gibt. Wenn du eine kennst, würden wir uns sehr freuen, wenn du sie uns niederschreiben wür­dest.“
 
Erneut schrieb Cétric etwas auf die Tafel, es dauerte etwas länger, denn er schien ab und zu zu überlegen, ehe er weiter schrieb. Hin und wieder wischte er etwas ab, schrieb dann er­neut um es dann abermals weg zu wischen. Dann nahm er die Tafel von seinem Hals und überreichte sie Jacob.
 
„Geschichten gibt es viele. Sie zu erzählen dauert lange. Einige werden Sie kennen, andere nicht. Aber sie sind gleich. Wenn wir in Hambach übernachten, schreibe ich Ihnen.“, las mein Bruder vor und blickte mich lächelnd an, ehe er die Tafel zurück gab.
 
„Hat dich die Comtesse unsere Sprache gelernt oder woher kannst du sie verstehen?“, fragte ich nun unvermittelt.
 
Der Diener löschte seine Aufzeichnungen und schrieb dann erneut. Auch wenn es ein recht ungewöhnliches Gespräch war und sich durch das Schreiben und Löschen in die Länge zog, war es doch sehr interessant. Cétric erklärte uns, dass er schon mit jungen Jahren in die Dienste der Familie de Chasy-Mirandeau getreten sei, dort hätte man ihm Schreiben und Lesen gelehrt und auch Deutsch und Englisch, denn er begleitete die Familie stets auf Reisen und war seinen Herrschaften immer treu zu Diensten gewesen. Besonders sein Schweigen hätte man dadurch zu schätzen gelernt und es gab viele Geheimnisse, welche ihm anvertraut worden sein. Jacob erkundigte sich sehr oft über die Gemütszustände der Comtesse, wie sich über die Jahre hinweg gar verändert hatten und die junge Frau immer gramvoller und einsamer geworden war. Ob sie denn keine Kinder hätte, welche nun über den Nachlass bestimmen  oder von Verwandten versorgt werden müssten. Cétric verneinte dies, die Ehe der Herrschaften sei Kinderlos geblieben und nun würde das ganze Vermögen den jüngeren Geschwistern des Comtes zufallen. Ich meinerseits fragte mich nun, warum allein die Familie des Comtes erbte und nicht auch ein kleiner Teil der Verwandtschaft der Verstorbenen zukam. Hatten sie sich verstritten? Oder hatte es gar etwas mit dem Umstand zu tun, dass man sie aus ihrer Heimat verband hatte.
 
„Cétric, ich weiß nicht ob du mir diese Frage beantworten kannst, aber warum wurde die Comtesse verbannt?“, fragte ich nun unvermittelt und sah erst zu spät den warnenden Blick meines Bruders.
 
Der Bursche zuckte mit den Schultern und schüttelte mit dem Kopf. Gegen Mittag kehrten wir in einer Waldschenke ein, wo wir uns ein recht kräftiges Mahl bringen ließen. Der Kutsche hatte sich weit ab von uns in einer dunklen Ecke niedergelassen und löffelte die bestellte Suppe rasch und gierig in sich hinein, dass ich meinte er würde sofort aufspringen und weiterfahren wollen. Bisher hatte der Kerl noch kein Wort mit uns gesprochen und so fragte ich mich, ob er uns verstand und besonders wie sein Name war. Er wurde uns nicht vorgestellt und ich fand es recht unwürdig ihn nur mit Kutscher anzusprechen. Also fragte ich Cétric und zum ersten Mal seit wir den jungen Diener kennengelernt hatten, verzog dieser die Lippen zu einem schelmischen Grinsen. Dann wischte er sich die fettigen Finger an einem Tuch ab und begann eifrig Buchstaben auf die Tafel zu schreiben: „Philippe“
 
Den ersten Abend glaubte ich in der Kutsche verbringen zu müssen, der Diener hatte sich auf seinem Platz gleich einem Kätzchen zusammengerollt und schlummerte scheinbar friedlich und völlig sorglos. Ich vermochte ebenso wenig in einen entspannten Schlaf zu fallen, wie mein Bruder, welcher sich neben mich gesetzt hatte. Mein Kopf ruhte auf seiner Schulter, meine Augen waren geschlossen, dennoch schlief ich nicht. Jacob blickte aus dem Fenster, lauschte auf die Nacht und die regelmäßige Atmung unseres Begleiters. Der Mond stand bereits hoch am Himmel, als die Fahrt auf einer kleinen Lichtung endete und die Tür sich öffnete. Im schwachen Schein einer Laterne erhellte das Innere und einen Teil des Gesichts von Philippe. Der schmallippige Mund wurde von einem rotblonden gestutzten Bart umrahmt. Die Haut war leicht blass und sah gut gepflegt aus, nicht wie ich es sonst kannte, gegerbt und von der Witterung gezeichnet. Obwohl er von großer und kräftiger Statur war, war sein Gesicht feingeschnitten und hatte etwas eines Aristokraten.
 
„Wir halten!“, der Bass seiner Stimme und starke französische Akzent ließ mich zusammen fahren und ich setzte mich unwillkürlich auf.
 
Inzwischen war der Kutscher schon beiseite getreten, leuchte allerdings immer noch zu uns hinein und wartete darauf, dass wir ausstiegen. Jacob stieg vor mir aus, wodurch ich leicht zur Seite fiel und mich noch im rechten Moment abfing. Zärtlich legte ich eine Hand auf den schlafenden Cétric, wollte ihn wecken, doch plötzlich schoss eine Hand unvermittelt nach vorn.
 
„Non, schlafen lassen. Aussteigen. Bitte.“, ich blickte irritiert zu dem Kutscher, beschloss aber seinen Worten besser Folge zu leisten.
 
Meine Glieder waren steif geworden von dem langen Sitzen und vor allem von meiner unbequemen Position. Ich musste einige Schritte gehen, ehe ich das Gefühl wieder hatte auf dem Boden zu stehen, warf aber einen Blick zu dem Sarg, welcher mit der Nacht beinahe verschmolzen war. Es dauerte nicht lange und wir saßen um ein wärmendes Feuer, eingehüllt in derbe Decken und in den Händen eine Schale mit dampfender Suppe. Wirklichen Hunger verspürte ich nicht, vielmehr wollte ich mich hinlegen und in einen tiefen und festen Schlaf fallen. Philippe ließ uns nicht aus seinen Augenwinkeln, als er sich um die Pferde kümmerte, ich konnte seinen Blick in meinem Nacken spüren.
 
„Merkwürdig.“, ich sah meinen Bruder an.
 
„Was ist merkwürdig?“, hakte ich nach und blies auf meine Suppe.
 
„Dieser Philippe. Meinst du nicht auch? Ehe wir los gefahren sind, habe ich ihn mit Cétric beobachtet. Er behandelt den Burschen nicht wie einen Diener oder Freund, eher als würden er ihn beschützen und hegen. Ich meine, er scheint doch recht grobschlächtig und mürrisch.“, raunte Jacob und löffelte dann etwas von seiner Suppe.
 
Ich nickte lediglich, meine Augen wollten mir zufallen und so stellte ich die Schale nur halbgeleert beiseite und wandte mich kurz zu unserer Kutsche um, wo der Franzose auch das letzte Pferd abgespannt und zu den Anderen geführt hatte.
 
„Cétric ist nun einmal sehr jung. Vermutlich kennt er ihn schon von Kindesbeinen an und  Philippe hat väterliche Gefühle entwickelt, denn der Bursche hat keine Familie, wie mir scheint.“, murmelte ich schläfrig und sah dann Jacob an.
 
Dieser schien aber bereits mit seinen Gedanken woanders zu sein, ich sah es ihm an. So legte ich mich nieder und schlief rasch ein, denn die Nacht würde gewiss nicht so lange sein, dass ich erholt erwachen würde. Der Morgen bracht recht früh an und mein Bruder weckte mich. Nur schwerlich richtete ich mich auf, wischte mir den Schlaf aus den Augen und zog die Decke fester um mich, da es recht kühl geworden war. Ich sehnte mich nach dem prasselnden Feuer eines Kamins und dem wohligen Geruch eines kräftigen Frühstücks. Stattdessen setzten wir uns hungrig und halb steifgefroren in die Kutsche, wo bereits Cétric mit fröhlicher Miene und einem „Guten Morgen“ auf seiner Tafel auf uns wartete. Es mochten drei Stunden vergangen sein, als wir in einem kleinen Dorf einfuhren und dort in einer Gaststube die Kälte aus den Knochen und den Hunger aus unseren Mägen vertreiben konnten. Unser Kutscher sprach mit dem Wirt, welcher uns neugierig beobachtete und schließlich mit einem Kopfnicken verschwand. Es dauerte nicht lange und eine rundliche Frau trat an unseren Tisch, das dunkle Haar umrahmte in großen Wellen ihr leicht gerötetes Gesicht, wodurch die grünen Augen noch mehr hervorstachen. Sie verzog ihre rotbeschmierten Lippen zu einem süßlichen Lächeln, als sie ihre Hände abwischend zu uns sprach.
 
„Sie geschmeckt? Fahren gut mit Essen, was ich machen für Sie. Hambach erst Abend, kein Essen mehr. Louise kümmern sorgen um Messieurs Grimm, dass gut fahren mit Essen. Monsieur Gérard geben schönes Wein für Lehrer. Monsieur Defout zahlen Reise und Essen. Ich machen schönes Essen, nur nicht Sorgen.“
 
Ratlos sahen mein Bruder und ich uns an. Das der Anwalt die Reise samt Kost und Logis aus der Hinterlassenschaft der Comtesse bezahlt, war uns bekannt. Allerdings war nur schwer zu verstehen, was die Wirtin uns sagen wollte und vor allem, weswegen. Sie erkannte wohl, dass wir sie nicht wirklich verstanden hatte und sah sie sich um und sprach darauf hin Cétric an. Dieser nickte nur und schrieb dann auf, was ihm diktiert wurde. Dann reichte er uns die Tafel.
Ich überlegte, ob ich der armen Frau nicht einfach offenbaren sollte, dass wir sie durchaus in ihrer Muttersprache verstehen würden.
 
 
„Mdm. Louise bereitet Essen für unterwegs. M. Gérard schickt einen guten Wein mit. Die Fahrt bis nach Hambach wird noch lange dauern und ein Mittaghalt ist nicht vorgesehen.“, las ich und gab dem Diener die Tafel mit einem Dank zurück.
 
„Danke Mdm. Louise.“, sagte ich mit einem Lächeln und sah mich nach unserem Kutscher um.
 
Gegen Abend erreichten wir Hambach, Cétric blickte aus dem Fenster und folgte den Menschen auf der Straße mit seinen Blicken. Er schien wie ein kleines Kind, welches zum ersten Mal in seinem Leben Schnee zu sehen bekam und irgendwie beschlich mich das Gefühl, dass etwas an seinen Erzählungen nicht stimmte.
 
„Siebzehn Jahre. Siebzehn Jahre ist er nun im Dienst der Familie und man hatte ihm Deutsch beigebracht. Warum? Sie wusste, dass sie nicht zurück konnte. War das Alles geplant von ihr? Nein, sie konnte kaum davon ausgehen, dass ich sie holen kommen würde. Warum kann er dann deutsch? Wer würde schon einen Stummen einstellen?“, murmelte Jacob über seine Suppe gebeugt, als wir allein im Schankraum einer Herberge saßen.

Philippe hatte sich ebenso wie Cétric schon früh zurückgezogen, wobei der Diener in unserem Zimmer mit schlief. Nun er war eben noch recht jung und hatte womöglich schon lange keine längere Reise mehr unternommen. Vermutlich war dies auch seine erste wirklich größere Reise. Den ganzen Abend über saß mein Bruder nun schon über der Suppe, bröselte das Brot hinein und stellte eine Frage nach der Anderen, welche allerdings stets unbeantwortet blieben. Ich vermochte ihm keine wirklich hilfreiche Antwort geben zu können, sondern versank in meinen eigenen Überlegungen.
Es war recht spät, als wir uns auf unser Zimmer begaben. Auf Zehenspitzen schlichen wir uns durch den Raum, möglichst bedacht den Burschen nicht zu wecken. Lautlos entkleideten wir uns und schlüpften in unser Bett. Mitten in der Nacht wurde ich durch leises Murmeln und Schluchzen geweckt. Zuerst meinte ich, mir müsste wohl noch träumte oder von der Straße her rühren musste. Doch dann wurde mir bewusst, dass jemand in unserem Zimmer redete und leise weinte. Ich beugte mich zu Jacob hinüber, welcher tief und fest schlief. Also schob ich mich aus dem Bett, schlich durch das Zimmer und folgte den Lauten, welche mich direkt zu dem Bett von Cétric führten. Eine Sinnestäuschung? Hatte der Anwalt nicht gesagt, dass der Diener schon immer stumm war? Und nun flüsterte und raunte dieser in seinem Bett, als würde er von einem schwerem Albtraum geplagt. Im Mondlicht vermochte ich die Tränen auf seinen Wangen zuerkennen und plötzlich bohrten sich Worte in mein Bewusstsein.  Es war mehr wie ein Windhauch, dennoch war es deutlich.
 
„Evelyne bleib. Bitte, verzeih mir.“
 
Mir stockte der Atem, denn obwohl die Stimme so lieblich klang, süßlich in meinen Ohren widerhallte, wog der starke französische Akzent schwer. Hatte uns Defout betrogen? Oder war auch er betrogen worden? Aber wer war Cétric wirklich? Mir schossen die Worte von Jacob durch den Sinn. Siebzehn Jahre hatte er als Diener bei der Familie gedient und hatte Lesen, Schreiben, sowie Deutsch und Englisch gelernt. Dinge, welche nicht einfach so einem gewöhnlichen Diener beigebracht werden, besonders da die Handschrift weich und elegant war. Der Lehrer war nicht darauf bedacht gewesen, dem Burschen nur die Schriftführung zu zeigen, sondern achtete auch auf Schönheit und Brillanz. Wenn wir Cétric Feder, Tinte und Papier reichen würden, dann würde nicht ein Tropfen vergeudet werden. Das Papier nicht unbeholfen aufgekratzt und durchbohrt worden. Vor mir tauchte das Bild des Erben Bonapartes auf. Die Nacht, in welcher uns Goethe die ganze Wahrheit über den Verbleib des Kindes offenbart  und wir dem badischen Königshaus den Rücken gekehrt hatten. Ich schüttelte den Gedanken von mir, wischte über meine Augen und blinzelte in das Mondlicht. Nein, genug der Intrigen und Spiele des Dichterfürsten. Er war es letztlich nicht gewesen, welcher uns dem Rittmeister von Recke empfahl, sondern es war ein Schriftstück der verstorbenen Comtesse, ihr letzter Wille. Ich schlich mich zurück in mein Bett und schloss die Augen, für einen kurzen Moment dachte ich über alles nach, lauschte den leisen gehauchten Bitten des Burschen und schlief dann wieder ein.

 

Am nächsten Morgen wollte ich meinem Bruder davon berichten, was ich gehört hatte, doch er war bereits aufgestanden und frühstückte in der Schankstube. Cétric war ebenfalls schon auf den Beinen, er hatte sich vor den Spiegel über die Waschschüssel gebeugt und wusch die Tränen der Nacht aus seinem Gesicht. Leise setzte ich mich auf, beobachtete den Diener und versuchte mich der Stimme zu entsinnen. Dann richtete er sich auf, die Augen waren geschlossen, das Haar feucht und nach hinten gestrichen, so dass ich nun in das feingeschnittene jugendliche Gesicht sehen konnte. Schließlich öffnete er die Augen und ich sah nun wie groß und traurig sie waren. Es schien, als hätte dieser junge Mensch schon zu viel Elend gesehen, um noch über irgendeine Grausamkeit zu erschrecken.
 
„Guten Morgen, Cétric. Wie hast du geschlafen?“, fragte ich fröhlich.
 
Mit einem sanften Lächeln wandte sich der Bursche um, nickte und schien heiter. Dennoch hielt er die Fassade aufrecht und schwieg, so dass ich beinahe überzeugt war, dass ich nur geträumt haben musste. Ich beobachtete, wie er seine Brille auf die Nase schob, sich durch das Haar fuhr und die langen Strähnen in sein Gesicht zog, ehe der Diener die Kappe auf den Kopf setzte und sich das Hemd in die Hose stopfte. Zum Schluss hing er sich die Tafel um den Hals und deutete eine Verbeugung an, ehe er dann auch hinunter in die Stube ging. Erfrischt und gewaschen verließ ich nur wenige Augenblicke später das Zimmer, setzte mich an den Tisch wo bereits der Kutscher, Jacob und Cétric Platz genommen hatten und hörte noch wie mein Bruder über die weitere Route zu diskutieren schien. Plötzlich schlug der Kutscher mit einer Hand auf die Tischplatte, worauf die Karte lag und seine tiefe Stimme unterbrach plötzlich die Ausführungen meines Bruders. Erst Augenblicke später wurde mir bewusst, dass es Philippe war, welcher sprach.
 
„Monsieur Grimm, diese Strecke ist umständlich und dauert zu lange. Wir sollten auf den vorgegeben Wegen bleiben, so umgehen wir die größeren Städte und somit auch den Gendarmen. Ich habe kein Interesse daran mich vor einem Ihrer Königen und Herzögen zu rechtfertigen. Diese Aasgeier warten nur auf eine Gelegenheit uns einen Streich zu spielen und la Madame ist der beste Köder. Non, ich riskiere nichts.“, grummelte er und schnaubte.
 
„Philippe, sein Sie bitte vernünftig, wir können Frankfurt nicht so einfach umfahren, das würde die Aufmerksamkeit noch mehr auf uns lenken. Bedenken Sie doch, wir haben schließlich kein gewöhnliches Gepäck bei uns und die Durchfahrt erspart uns vier Stunden durch den Wald und womöglich einen Bruch der Achse oder Räder zu riskieren. Außerdem verstecken sich noch immer viele Deserteure dort und einen Überfall können wir noch weniger riskieren.“
 
Der Kutsche knurrte ungehalten auf, öffnete den Mund und wollte wohl erneut wiedersprechen. Es war Cétric, welcher seine Hand auf die Schulter des kräftigen Mannes legte und so dessen Blick auf sich zog. Die harte Miene machte eine Veränderung durch, der Ausdruck wurde zärtlich, ja liebevoll und sanft.
 
„Bien, fahren wir nach Frankfurt. Sie allein tragen alle Verantwortung Monsieur Grimm.“, knirschte Philippe und erhob sich.
 
Geschlagen verließ der Franzose das Gasthaus, ließ die Tür hinter sich laut ins Schloss fallen und stapfte am Fenster vorbei zu dem Stall, wo Kutsche und Pferde standen. Irritiert blickte ich meinen Bruder an, legte den Kopf leicht auf die Seite und beobachtete, wie er die Karte wieder zusammen faltete.
 
„Warum um Himmels Willen, willst du unbedingt nach Frankfurt? Philippe hat Recht, es ist ein Umweg und vermutlich werden wir dort länger aufgehalten.“, warf ich ein und lehnte mich etwas zurück.
 
„Ich möchte nur sicher gehen.“, murmelte er und beugte sich leicht zu mir hinüber.
 
„Du hast ebensolche Bedenken wie ich bei dieser ganzen Angelegenheit. Und was damals in Karlsruhe geschehen ist, dürfte dir wohl kaum entfallen sein. Ich möchte einfach nicht wieder in irgendeine Intrige oder Staatsangelegenheit hineingezogen werden.“, raunte er und blickte sich nach dem Diener um.
 
„Karlsruhe? Jacob, Cétric ist bei weitem älter und kann unmöglich… .“, mein Bruder gebot mir zu schweigen.
 
„Das habe ich nicht behauptet und auch nicht gemeint. Aber überlege doch einmal selbst. Eine angesehene und sehr vermögende Familie stellt einen stummen Knaben als Bursche ein. Er kann sich nicht verständigen und so wird beschlossen, dass er unterrichtet wird und nicht nur in seiner eigenen Muttersprache, sondern auch in zwei anderen Sprachen, welche er verstehen und niederschreiben kann. Die Handschrift ist geschwungen und elegant. Dem Jungen wurde nicht einfach nur Buchstaben schreiben gelehrt. Cétric überlegt was er schreibt, wie er es schreibt und korrigiert seine eigene Handschrift.  Glaubst du nicht, dass es für einen einfachen Bediensteten zu viel Gelehrsamkeit ist? Zu viel Wissen? Genauso gut könnte Cétric auch ein Sohn aus gutem Hause sein, es würde keinen Unterschied machen. Ich bin mir sicher, dass er eine überaus gebildete und gute Erziehung genossen hat.“, murmelte Jacob und tippte mir kurz gegen die Stirn.
 
„Du glaubst also, dass Cétric nicht der ist, der er vorgibt zu sein. Folge ich dir richtig?“
 
Jacob nickte und schob mir dann sein Frühstück zu. Ein halbes Ei auf Brot und dazu einen halben Humpen Milch. Misstrauisch betrachtete ich meinen Bruder, welcher noch immer Cétric aus einem Augenwinkel heraus betrachtete.
 
„Gewiss, denn  der Comte de Chasy-Mirandeau war ein strenger und hartherziger Mann. Ein Aristokrat, adlig von Geburt an und über das gemeine Volk sah er stets hinweg. Bedienstete waren für ihn nicht bedeutsam  und er schenkte ihnen keinerlei Beachtung.  Er war ein Gegner der Citoyen und selbst in der Bourgeoisie galt  für ihn  einzig beachtenswert, wer ein Gelehrter oder hoher Beamter war, diesen schenkte er seine Aufmerksamkeit auch wenn sie keinen Adelstitel trugen. Der Comte war ein Royalist  und ein Franzose mit Nationalstolz, nie wäre ihm in den Sinn gekommen sich mit England oder Preußen zu verbünden. Ich gehe sogar so weit zu behaupten dass er ein  Sympathisant Napoleons war und er wäre gegen uns in den Krieg gezogen, wenn es nicht Marianne in seinem Leben gegeben hätte. Warum also sollte ein Mann wie er, einem Diener wie Cétric eine solche Erziehung gönnen?“
 
Jacob sah mich an, legte einen Finger an seine Lippen und hob eine Augenbraue, wie er es für gewöhnlich immer zu tun pflegte, wenn er intensiv über etwas nachdachte oder eine Theorie hatte und nun meine Meinung dazu hören wollte. Ich allerdings aß von dem Brot, trank von der Milch und vergrub mich für einen Moment in meine eigenen Gedanken. Immer wieder kam mir diese Stimme in den Sinn. Als ich wohl nicht sofort reagiert,  umschloss Jacob mein Handgelenk und ich blickte auf.
 
„Woher weißt du so viel über den Comte? Kanntest du ihn näher?“, fragte ich ihn unvermittelt und legte kurz meinen Kopf auf die Seite.
 
Mein Bruder ließ mich los, blickte sich kurz um und schüttelte dann vehement den Kopf, so als wollte er einen schlechten Gedanken abschütteln. Röte schoss kurz über seine Wangen: „Was? Nein, ich sagte dir doch, dass die Comtesse eine Bekannte war.“
 
„Das schon, aber du hast mir nie von ihr erzählt. Jacob, war sie der Grund für deine zweite Reise nach Paris?“, jetzt wollte ich es doch näher wissen.
 
Damals war ich davon ausgegangen, dass einzig und allein die Studien Jacob stets aus meinen Armen gerissen hatte und die Ruhelosigkeit sich seiner bemächtigte, wenn er Deutschland verließ. Ich wartete darauf, dass ich eine Nachricht aus Afrika, Indien oder China erhalten würde, in welcher mir Jacob von den Schönheiten der fernen Länder berichtete. Ich hatte es nie nachvollziehen können, warum er in die Ferne fuhr, wo es doch in unserem Lande so manch schöne Idylle lockte und zum träumen anregte. Er war schon immer mehr der Realist und Denker gewesen, welcher sich mit trockenen Theorien von Wissenschaft und Religion beschäftigte. Ihn aus der Ruhe zu bringen, vermochte ich nie, umso erstaunte war ich, dass meine Worte solch eine Reaktion verursachten. Jacobs Augen wurden glasig, seine Lippen zitterten leicht und Röte schoss ihm in Stirn und Wangen.
 
„Unsinn.“, zischte er und wandte sich ab.
 
Scheinbar suchte er nun nach einem Themawechsel, aber ich war neugierig geworden. Da stand doch mehr dahinter, als es den Anschein haben mochte. Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus, ich neigte mich nach vorn und blickte ihm keck in die Augen.
 
„Hast du sie geliebt, Jacob?“, neckte ich ihn.
 
„Nein, das habe ich nicht. Sie war nur eine Bekanntschaft und sie war verheiratet.“, er wagte es nicht seine Stimme zu erheben.
 
„Das mag ein Argument sein, aber gewiss kein besonders großer Hinderungsgrund. Du hast gesagt, sie war jünger als du. Und auch Cétric hast du sehr intensiv über sie ausgefragt. Und du warst zwanzig, ein junger und leidenschaftlicher Mann. Warum also nicht?“, erklärte ich ihm darauf hin mit gleichgültigen Ton und entsann mich an die viele Male, in welchen ich in heißblütiger Liebe zu einer Frau entbrannt war.
 
Laut Jacobs Erzählungen war sie gerade frisch verheiratet gewesen und vermutlich auch ein hübsches Mädchen gewesen, als er sie kennengelernt hatte. Und man mochte von meinem Bruder behaupten was man wollte, ich konnte mir kaum vorstellen, dass nicht auch er schwach bei einer Schönheit wurde. Warum dann also nicht auch die Comtesse?
 
„Nein, Wilhelm, nein. Ich hatte keine Liebschaft mit ihr unterhalten.“
 
Mir stockte der Atem und für einen Augenblick schienen meine Gedanken nur so zu rasen. Auch wenn es stets Jacob war, welcher offensichtliche Tatsachen in einen Zusammenhang brachte, so war ich es nun, der mit einem leicht triumphierenden Grinsen vor ihm saß und mahnend einen Finger hob.
 
„Das habe ich auch gar nicht behauptet. Ei, großer Bruder. Da hast du dich wohl selbst verraten.“
 
Jacobs Gesicht glühte und ich glaubte schon, er würde aufspringen und mir lautstark erklären, was für ein Narr ich doch sei und auf welche Gedanken ich doch käme. Doch stattdessen knirschte mit den Zähnen und presste ein „Genug jetzt.“ hervor. Ungewohnt störrisch wandte er sich ab und betrachtete Cétric, der offensichtliches Vergnügen daran hatte, dem Wirt einige Wortspiele aufzudrängen.
 
Mir kam ein Einfall und so lehnte ich mich mit einem sanften Lächeln zurück schloss die Augen und legte meine Hände auf den Bauch, ehe ich Jacobs Aufmerksamkeit zurück gewann und meinte, dass ich vielleicht Cétric befragen sollte, ob mein Bruder ein gern gesehener Gast im Hause de Chasy-Mirandeau gewesen war. Und vor allem ob der Comte immer zugegen gewesen sei.  Ich trank einen erneuten Schluck von der Milch. Doch ich bereute kurz darauf meine Entscheidung und meine Worte, denn  die darauffolgende Antwort, hätte ich nie erwartet. Jacob stierte mich aus wütenden Augen an, seine Hände öffneten und schlossen sich.
 
„Du lässt meinen Jungen in Frieden.“, knurrte er und es schien, als wollte er mich am Kragen packen und mich auf die Wange schlagen.
 
Es dauerte einige Zeit, ehe ich meine Fassung zurück bekam und es schien mir als würde in meinem Hals das Brot mit dem Ei stecken bleiben. Ich hustete etwas, wischte über meinen Mund und rieb mir die Tränen aus den Augen, ehe mir Worte über die Lippen kamen: „Deinen Jungen?“
 
Über seine unbedachten Worte wohl selbst erschrocken, fiel Jacob leicht in sich zusammen, erbleichte und errötete zugleich, ehe er aufstand und mich von oben herab an sah. Noch im selben Atemzug wandte er sich mit einem „ Ach, lass mich zufrieden.“ ab und wollte gehen, doch ich hielt ihn zurück, erinnerte ihn an die Worte von Cétric. Hatte dieser nicht erzählt, dass die Ehe sei kinderlos geblieben war? Wie also kam mein Bruder nun auf einen solch absurden Gedanken? Ich konnte mir auch nur schwerlich vorstellen, dass Jacob einfach ein Kind mit einer verheirateten Frau gezeugt und sie dann einfach ihrem wütenden Ehegatten überlassen haben soll.  Und entgegen meinem Bruder hatte ich das Gesicht des Burschen gesehen, es gab keinerlei Ähnlichkeiten zu ihm. Weder eine Geste, noch Mimik oder ein Blick, selbst im Schlaf nicht. Aber ich wusste auch nicht, wie die Comtesse aussah, es war also gut möglich, dass er ihr ähnlich sah. Mein Bruder blieb stehen, blickte erst auf meine Hand und dann wandte er den Kopf zu mir um und sah mich an. Ich kannte diesen Blick. Diesen ernsten wissenden Blick, welcher mich immer wieder eines Besseren belehrte.
 
„Überlege doch einmal selbst Wilhelm. Die Bildung, der Umgang von Philippe und dieser resignierte Blick, als er sich gegen Frankfurt wehrte. Ein gestandener Mann hört auf einen Knaben? Glaubst du wirklich, dass man einem Kind der Comtesse erlauben würde Preußen einfach so zu bereisen? Ein Diener ist unauffällig und es gibt keine Frage, besonders da er stumm ist. Du warst in Karlsruhe dabei, du hast diese ganze Intrige doch mitmachen müssen. Glaubst du, dass das Haus Baden die Einzigen sind?“
 
Bei seinen Worten schreckte ich zusammen, zog meine Hand, welche bis dahin sein Handgelenk umschlossen hatte zurück und ließ mich dann wieder auf meinen Stuhl sinken. Sicherlich war die Erziehung des Dieners ungewöhnlich, besonders weil der Comte zu seinen Lebzeiten kein so angenehmer Mensch gewesen sein soll. Aber war es wirklich so sehr auszuschließen? Warum sollte die Comtesse nicht eine Möglichkeit gesehen haben, dass Cétric als Sohn des Comtes erzogen und dann das Erbe angetreten haben mochte? Aus Jacobs Worten hatte ich entnommen, dass sie einen sehr großen Einfluss auf ihn gehabt haben mochte. Gut möglich also, dass sie ihm diesen Vorschlag unterbreitet und sich dann der Aufgabe angenommen hatte. Ebenso glaubte ich nicht, dass der Diener so jung war, auch wenn er sehr zierlich und schmächtig wirkte. Er musste an die zwanzig sein und wenn der Bursche wirklich der Sohn meines Bruders wäre, dann müsste er jetzt sechzehn Jahre zählen. Cétric schrieb auf die Frage nach seinen Dienstjahren die Zahl siebzehn auf die Tafel. Allerdings wollte ich Jacob nicht auf diesen kleinen Fehler hinweisen, denn er müsste es doch selbst bemerkt haben. Es war wohl die bessere Entscheidung. Ich ließ es mir nicht nehmen, ihn darauf hinzuweisen, dass in Karlsruhe die Intrige um Napoleons Erben, den zukünftigen Herrscher des französischen Reiches, gesponnen wurde und nicht um den Sohn einer verbannten Frau, auch wenn sie einen noch so großen Einfluss gehabt haben mochte.
 
„Jacob, ich bitte dich. Cétric ist lediglich ein gut erzogener Diener und es wird eine andere Erklärung dafür geben. Auch wenn es erfreulich gewesen wäre, du als Vater. Ach Jacob, mein armer Bruder, du siehst um dich herum nur Intrigen und Betrug.“, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.
 
Ich wollte nicht, dass er sich falsche Hoffnungen machte, nur damit er nachher enttäuscht wäre. Doch Jacob war nicht von der Idee abzubringen, dass konnte ich in seinem Gesicht ablesen und ich kannte ihn auch nur zu gut. Er warf den Kopf kurz in den Nacken und meinte dann mit der so gewohnt gefassten und nüchternen Art: „Ich warte bis Frankfurt, dann bin ich mir sicher.“
 
Eben in diesem Moment trat Cétric an unseren Tisch, ließ sich neben Jacob auf den Stuhl sinken und lächelte uns fröhlich an. Getrieben von den Worten meines Bruders, suchte ich in seiner Mimik nach Ähnlichkeiten während ich den Rest des Frühstücks verspeiste. Jacob sank neben den Burschen nieder, sein Atem schien zu stocken, seine Lippen zitterten leicht und ich konnte sehen, wie er sich gegen das aufkeimende Bedürfnis sträubte, den vermeintlichen Sohn in die Arme zu schließen. Sein ganzer Leib war an gespannt und die Knöchel an den Händen färbten sich weiß. Oh ich vertraute auf die Vernunft von Jacob, hoffte dass er über seine Worte noch einmal nachsann oder vielleicht selbst seinen Fehler bemerkte. Plötzlich schwang die Tür auf und kalte Luft strömte hinein.
 
„Wir fahren weiter.“, dröhnte die Bassstimme durch die Stube und ließ mich kurz zusammenfahren.
 
Philippe hatte ich vollkommen vergessen und auch dass er die Pferde angespannt hatte und nun darauf drängte weiter zu fahren. So schlang ich den Rest des Frühstücks hinunter, wischte mir die Lippen sauber und bedankte mich bei dem Wirt, welcher doch recht verwirrt drein blickte.  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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