Kerstin hatte Monika angeboten, ihr beim Ausräumen der Schränke zu helfen. Obwohl sie bald den ersten Zyklus – das Trauerjahr – geschafft hatten,
kamen der jüngsten der drei Schwestern immer wieder die Tränen, wenn sie von ihrem Vater redete, seine Sachen aufräumte oder an gemeinsame Erlebnisse
erinnert wurde.
Dabei, dachte Monika, stand Kerstin ihrem Vater gar nicht mal am nächsten. So offensichtlich jedenfalls nicht.
„Komm, setzt dich mal her – hier aufs Sofa“ zog Monika ihre Jüngste neben sich, als diese wieder einmal zu schnüffeln begann.
„Ich weiß ja, du hast ihn sehr lieb gehabt, aber du weißt doch, wie krank er war und wie froh er am Schluss war, als er loslassen konnte. Akzeptier das doch, Liebling.“
Monika strich Kerstin über ihr langes braunes Haar und löste damit einen Tränenstrom aus, der sie noch hilfloser machte.
„Weiß ich doch alles, Mama, aber ein paar Tage vor seinem Tod hatten wir doch diesen Streit.“
Als ihre Mutter sie fragend anblickte, ergänzte sie ungeduldig:
„wegen der Wohnung – weißt du doch. Weil ich einen Maler nehmen wollte und Papa doch dachte, er würde wieder auf die Beine kommen und wie sonst
immer alles selbst machen.“
Hilfesuchend blickte Kerstin ihre Mutter an.
„Wir haben uns furchtbar gezankt und er konnte doch gar nicht mehr wie sonst mit Schimpfen reagieren. Er hat mich nur angesehen und seinen Augen
waren so groß, wie ich sie nie vorher gesehen habe.“
Sie schluchzte nun völlig haltlos, so dass Monika, nachdem sie erst einmal mitgeweint hatte, sie energisch aus dem Schlafzimmer in die Küche zog.
„Ihr habt euch doch dauernd gestritten. Neben dem Wort „Streithammel“ im Lexikon hätte euer Foto stehen müssen! Jetzt aber erst mal Schluss für heute.
Das reicht. Wir trinken jetzt Kaffee und machen Montag weiter. Dieses Wochenende versuchen wir mal, alles zu vergessen.“
Leicht gesagt, schwer getan.
Montagnachmittag – es war grau und neblig, wie auch vor mehr als einem Jahr, als Gerd „losgelassen“ hatte, saßen sie wieder auf dem Fußboden vor dem
alten Schrank, der immer noch brechend voll war mit Prospekten, Katalogen und vielleicht sogar wichtigen Papieren, die darauf warteten, bewertet zu werden.
Müll oder Schublade.
„Guck mal, Mama, hier sind ja noch ein paar von Papas alten Schreibheften.“ Aufgeregt stapelte Kerstin einige zerdrückte, zerknitterte einfache linierte Schreibhefte
aufeinander.
„Papas ‚Tagebücher‘ – weißt du noch, Mama? Wir haben ihn doch immer aufgezogen, weil er da nur eingetragen hat, wenn ihn seine Kollegen mal wieder genervt haben
oder er einen über den Durst getrunken hat.“
Sie blätterte in dem neuesten Heft.
„Ganz so war es ja nun auch nicht“ protestierte Monika.
„Er hat schon das eine oder andere eingetragen, was ihn so bewegt hat. In den letzten Monaten wenigstens. Ich will es gar nicht lesen. Noch nicht jedenfalls.
Du kannst ja durchgucken. Wir heben sie dann auf.“
Energisch erhob sie sich.
„Ich mache Kaffee. Komm dann rüber ins Wohnzimmer und vergiss nicht, die Hefte in die Schublade zu legen.“
Es dauerte keine 10 Minuten, als sich Kerstin mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen an den gedeckten Kaffeetisch setzte.
„Du hattest ja so Recht, Mama. Hier, hör mal zu.“
Sie begann zu lesen.
„…mal wieder Zeit, ein paar Zeilen zu schreiben. Viel werden es ja nicht mehr werden. Aber – ich bin nicht mal traurig. Ich hatte eine gute Zeit mit meinen Frauen.
Wir hatten unsere kleinen Zankereien, aber immer konnte ich die Liebe fühlen. Auch jetzt gerade wieder, als meine Kleine mir die Leviten gelesen hat.
Sie hat ja Recht. Ich fühle mich wirklich schon zu schwach. Und lieber genieße ich die wenigen Momente noch, die mir bleiben.
Monika, Liebling, du wirst diese Hefte ja vielleicht erst später lesen. Sage meinen drei Mädchen, dass ich sie immer lieb gehabt habe und dass meine Gedanken –
die letzten sind es jetzt ja fast – immer ihnen und dir gegolten haben.“
Die letzten Zeilen waren verwischt und kaum zu lesen, aber Kerstin legte das Heft wie einen kostbaren Schatz zu den anderen.
„Was Papa sich für Mühe gemacht hat…Es ist ihm doch schon so schwergefallen, den Stift zu halten.“
Ja, dachte Monika, Mühe hat es gemacht, diese letzten Zeilen im Heft hinzuzufügen. Gut, dass ihre Schrift der ihres Mannes so ähnlich war und dass sie
seinen Kugelschreiber mit der charakteristischen hellblauen Mine aufgehoben hatte.
Gut, dass sie diese Lüge niedergeschrieben hatte, die gar keine Lüge war. Sie wusste, er hatte so – genau so empfunden.
Nur – auch zum Schreiben war er schon zu schwach. Und ihr würde diese kleine, diese weiße Lüge verziehen werden.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.11.2012.
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