Irene Beddies

Olivers Glückstag


 
Es schneite seit Stunden in dichten Flocken.
Oliver stand am Fenster und sah in das fallende Weiß, das im Lichtkegel der Straßenbeleuchtung in stetigem Fluss zur Erde fiel.
„Verdammt“, entfuhr es ihm, „wie soll ich morgen nach Bremen kommen?“
Im Geiste sah er dichte Autoschlangen die Autobahn entlang kriechen. Sicherlich war nur eine Fahrspur geräumt. Möglicherweise würde es Unfälle geben, die den Verkehr zum Erliegen brachten. Man kannte das ja von vergangenen Jahren.
Oliver ging missmutig zu Bett, stellte ohne nachzudenken den Wecker auf die gewohnte Zeit und schlief ein.
 
Das Rasseln des Weckers riss ihn aus dem Schlaf. Er erschrak. Für eine Fahrt im Schnee war er viel zu spät dran. Panikartig zog er sich an, brühte sich eine Tasse Nescafe. Dann lief er die Treppe hinunter.
Die Haustür ließ sich nicht öffnen. Durch den Spion sah er, dass eine Schneewehe vom Wind dort aufgetürmt worden war.
„Scheißkram“, schimpfte er. Sollte er die Baufirma PAULSEN wegen seiner voraussichtlich erheblichen Verspätung anrufen? Sie hatte ihn vor zwei Wochen zu einem Vorstellungsgespräch an diesem Vormittag gebeten. Es musste einen denkbar schlechten Eindruck machen, bei Schneefall zu verschlafen.
Was nun? Losfahren lohnte nicht mehr. Resigniert kehrte Oliver in die Küche zurück. Er briet sich zwei Spiegeleier mit reichlich Speck. Nun war ja alles egal. Den Tag hatte er sich von seinem Chef freigenommen, ohne von dem Vorstellungsgespräch bei der Konkurrenz etwas zu erwähnen. Er konnte also in aller Ruhe und mit Musik aus dem Radio frühstücken.
 
Danach zog er sich warm an, schnappte den Spaten im Flur zum Hintereingang und begab sich nach draußen.
Im Vorgarten des Nachbargrundstücks mühte sich Heinz ab, Schneekugeln für einen Schneemann zu rollen.
„Na, nicht in der Schule?“, fragte Oliver über den Zaun.
„Nee, wir haben drei Tage Schneeferien. Haben Sie das nicht im Radio gehört?“
„Na toll“, stellte Oliver fest. „Dann will ich mal.“
Er fing an, den Schnee vor seiner Eingangstür lustlos ein paar Meter weiter in den Garten zu schaufeln. Als der Haufen größer wurde, bemerkte er, dass Heinz interessiert zuschaute.
„Na, was guckst du so?“, fragte Oliver.
„Das könnte ein prima Iglu werden, in dem man ehrlich viel Platz hätte.“
Verdutzt sah Oliver in das aufgeregte Kindergesicht. Plötzlich fühlte er sich unternehmungslustig.
„Du meinst, wir könnten zusammen…“ „Au ja! Ich komme rüber!“, rief da schon Heinz und kletterte ungeniert über den Zaun.
„Zuerst müssen wir den Schnee aus der Mitte wieder rausnehmen“, erklärte er atemlos, „das ist dann unser Zimmer.“
„Na, dann mal los“, lachte Oliver, „ich hab noch eine Schaufel.“
Er holte sie und drückte sie Heinz in die Hand. Eine Zeit lang arbeiteten sie angestrengt und sehr stumm.
„Genug“, keuchte Heinz, „nun kommen die Seitenwände dran. Haben Sie einen Eimer und eine größere Schüssel?“
„Wozu?“ Oliver lehnte sich auf den Schaufelstiel.
„Ist doch klar. Brauchen wir für die Wände.“
„Wieso?“
„Die Eskimos bauen ihre Iglus doch aus Schneeblöcken. Hier können wir aber keine ausschneiden. Wir müssen sie selber machen!“
„Ach so. Du meinst, wir pressen den Schnee in die Behälter, klopfen ihn fest und dann stülpen wir ihn an die richtigen Stellen.“
„Klaro.  Haben Sie  Eimer und Schüssel? Oder meinetwegen auch zwei Schüsseln? Mit zwei dauert es länger.“
 
Oliver holte beschwingt einen Eimer ohne Henkel und eine große Plastikschüssel. Er war mit einem Mal genau so begeistert bei der Arbeit wie Heinz. Er pfiff ein Kinderlied. Heinz pfiff es ebenfalls. Ein helles und ein dunkleres Lachen lösten sich ab.
Der Schneehaufen vor der Eingangstür verschwand und auch viel Schnee vom Rasen im Vorgarten.
 
Am Mittag war der Iglu fertig. Beide waren äußerst zufrieden und tanzten um ihn herum. Oliver spürte, wie hungrig er geworden war.
„Soll ich uns ein paar Wurststullen machen, was meinst du?“, schlug er vor.
„Au ja“, jubelte Heinz, „mit Leberwurst! Wir können sie im Iglu essen.“
„Genau das war meine Idee“, schmunzelte Oliver und ging ins Haus.
 
In der Küche dudelte noch immer das Radio. Während er die Schnitten schmierte und Wasser für einen Früchtetee aufsetzte, kamen die Nachrichten.
„Zunächst die Schlagzeilen: Erhebliche Verkehrsbehinderungen im Norden, schwerer Autounfall auf der Bremer Autobahn zwischen…“ In diesem Moment pfiff der Wasserkessel. Oliver brühte den Tee auf. „…Familiendrama in Lübeck. Und hier noch eine Meldung aus der Wirtschaft: die Baufirma PAULSEN aus Bremen meldete soeben Insolvenz an.“
Oliver guckte ungläubig auf die Wurststulle, die er gerade auf den Teller legen wollte. „Firma PAULSEN insolvent“, murmelte er ungläubig. Langsam breitete sich  ein  Grinsen über sein Gesicht aus.
„Heute ist mein Glückstag!“



(c) I. Beddies


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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