Barbara Lützner

Eine nicht alltägliche Hochzeit

Margit und Holger Seidel begehen heute ihren Hochzeitstag. Zu diesem Anlass gibt es nun schon seit dreiundzwanzig Jahren, so lange sind sie nämlich heute verheiratet, Rührei mit Schinken auf Brot, in gutem sächsisch gesagt, Eierbemmen und das hat auch seinen Grund. Ob Holger die Zeit vor der Hochzeit und die Hochzeit selbst auch noch so genau im Gedächtnis hat wie seine Frau, kann sie nicht mit Bestimmtheit sagen. Doch sie kann sich noch genau erinnern, was ihrer doch recht ungewöhnlichen Hochzeit vorausgegangen ist und wie der Tag endete. Alles begann mit einer Reise.....
Gerade noch im letzten Augenblick konnte Margit den Zug erreichen, der sie wieder nachhause bringen soll. Nachhause, war ich nicht die letzten acht Tage zuhause? denkt sie. Nein, das kleine Dorf in der Nähe von Neubrandenburg ist schon lange nicht mehr ihr zuhause, es ist ihre Heimat, dort wurde sie geboren und dort ist sie auch aufgewachsen. Aber zuhause ist sie seit über vier Jahrzehnten in Sachsen. Dort lebt sie mit ihrem Lebenspartner, ihrer halbwüchsigen Tochter, einige Freunde hat sie auch und in der heutigen Zeit besonders wichtig, auch ihre Arbeit. Entschlossen hievt sie ihre ziemlich gewichtige Reisetasche ins Abteil und sucht nach einem freien Platz, der möglichst am Fenster, aber nicht in der Nähe der Tür sein sollte. Das Abteil ist fast leer und sie findet rasch was sie sich vorgestellt hat, bugsiert ihre Reisetasche ins Gepäcknetz und lässt sich erst einmal auf den Platz fallen, den sie sich auserkoren hat. Danach streckt die Beine von sich, schließt ihre Augen und lässt die Zeit, die sie bei ihrer Mutter verbracht hat noch einmal kurz Revue passieren. Die Tage in ihrer Heimat sind für sie eher anstrengend, als erbauend. Dennoch, ab und zu, meistens zu familiären Anlässen, zieht es sie wieder dahin. Es ist nicht so sehr das große Mitteilungsbedürfnis ihrer Mutter, der Vater ist bereits seit Jahren tot, das sie jetzt so erschlagen erscheinen lassen, es ist ihre große Familie. Alle ihre fünf Geschwister sind längst aus den Kinderschuhen heraus, sind verheiratet und haben selbst Kinder. Um jedem gerecht zu werden muss sie jedes Mal, wenn sie in der Heimat ist, ein gewaltiges Pensum absolvieren. Und das geht ganz schön an die Substanz, schließlich wohnen nicht alle beisammen. Margit ist kein Mensch, der lange untätig sein kann. Die Bahnfahrt von Neubrandenburg nach Sachsen, das weiß sie aus Erfahrung, wird wieder eine gehörige Herausforderung werden. Ihre Mutter, die wie jede Mutter um ihr Kind besorgt ist, hat ihr in weiser Voraussicht einige bunte Zeitschriften mitgegeben. Aber lesen während der Fahrt geht für sie gar nicht, da müsste sie sich ganz gegen ihre Natur zu sehr konzentrieren und das fällt ihr so schon schwer. Ja, wenn der Zug schön gleichförmig dahin fahren würde, dann könnte sie sich vielleicht damit anfreunden, doch sobald der Zug ein wenig ruckelt, verliert sie die Zeile, die sie gerade liest aus dem Auge, und ständig, wie ein Erstklässler danach suchen zu müssen ist ihr einfach zu anstrengend. Sie vertreibt sich fürs erste die Zeit damit, aus dem Fenster zu sehen und vergleicht dabei die Landschaft des Nordens mit dem Erzgebirge. Man muss seine Heimat schon mögen, um sie in Konkurrenz zu Sachsens Wäldern und Bergen zu sehen. Es ist wahrhaftig eine eintönige Landschaft, die gerade unaufhörlich an ihrem Abteilfenster vorbei fliegt. Ja es ermüdet sie sogar hinauszustarren, obwohl es nichts Aufregendes zu sehen gibt. Ihre Augenlider sind so schwer geworden. Wenn sie jetzt ihrem Ruhebedürfnis nachgeben würde, wäre sie bestimmt gleich in Morpheus' Armen. Aber das verkneift sie sich lieber. Sie hat da so ihre die Befürchtungen. Man weiß ja nie, wer sich zu einem setzt. Von Sittenstrolchen, die ahnungslose Frauen belästigen und von Leuten, die sich an anderer Leute Sachen vergreifen wenn man schläft, davon hört und liest man ja immer wieder.
Sie döst nur ein wenig, aber plötzlich, als wäre etwas furchtbar Wichtiges in dem Beutel, den ihr die Mutter mitgegeben hat, greift sie nach ihm und zieht irgendeine Zeitschrift heraus. Sie hat die Mitte aufgeschlagen und blättert desinteressiert, so als wollte sie sie gleich wieder zur Seite legen, hin und her, bis sie die Seiten mit Klatsch und Tratsch über die Highsociety findet, ein Thema, das sie dann doch interessiert.
Aber kaum dass sie zu lesen begonnen hat, rutscht ihr die Zeile, die sie gerade studierte vor den Augen weg. Genervt blättert sie weiter und denkt, werde ich eben nur die Bilder ansehen, das kommt es nicht so aufs Detail an. Doch der Vorsatz ist vergessen, als sie auf den Ratgeberteil stößt, einem Ratgeber für vielerlei Lebensumstände. Und darin hat sie etwas entdeckt, was sie brennend interessiert. Und damit sie nicht wieder dreimal von vorn beginnen muss, hält sie die Zeitschrift krampfhaft in den Händen und beginnt die Überschrift zu lesen. Blöder Titel denkt sie, „Erben ohne Stolpersteine“, wer mag sich das wohl ausgedacht haben. Der Artikel verspricht Aufklärung über alles, was das Erben anbelangt. Margit denkt, das Thema ist für die meisten Leute so schon schwierig, aber wenn man aus Familienverhältnissen wie ihr Lebensgefährte Holger stammt, muss man mit verschärften Verstand bei der Sache sein. Plötzlich ist sie hellwach und konzentriert. Sie vertieft sich genau in diesen Beitrag mit einer Intensität, die sie bisher selbst nicht von sich gekannt hat. Manches muss sie zweimal lesen, dennoch, einiges von diesem, im gestelzten Amtsdeutsch gehaltenen Artikels hat sie nicht ganz verstanden. In solchen Fällen greift sie hin und wieder auf den Rat einer Freundin zurück. Doch in Anbetracht des Umstandes, dass sie auf Reisen ist, fällt das heute aus. Das Wesentliche hat sie jedoch begriffen. Demzufolge würden die Eltern ihres Freundes, als seine Erben in Betracht kommen, sollte ihm gegen jede Erwartung einmal etwas zustoßen und das auch nur deshalb, weil sie sich bisher nicht über eine Heirat einigen konnten.
Dass ihm etwas passieren könnte, daran hat sie noch nie gedacht. Aber sie weiß auch, dass das Schicksal schon so manchen einen bösen Streich gespielt hat. Auf alle Fälle möchte sie gewappnet sein. Deshalb wird sie alles in ihrer Macht stehende unternehmen, dass Holger's Eltern, bei allem was sie ihm angetan haben, keinen Reibach machen können. Die Geschichte ihres Lebensgefährten kennt sie zwar nur aus seinen und den Erzählungen seiner Großmutter, aber was sie erfahren hat, könnte mühelos viele Seiten einen Romans füllen. Holger, das zweite Kind seiner Eltern, ist von frühester Kindheit an bei seinen Großeltern aufgewachsen. Sie glaubten immer, ihr Bestes getan zu haben, doch mit den Jahren mussten sie sich eingestehen, das es schwierig wird einen Jungen zu bändigen, dem kein Baum zu hoch und kein Bach zu breit war und dem es oft auch noch an Respekt fehlt. Das war das erste Mal, dass er zu seinen Eltern zurück musste. Ob es nun das schlechte Gewissen der Großmutter oder die Art der Eltern mit ihrem Sohn umzugehen war, will keiner mehr so recht zu sagen wissen, aber nach kurzer Zeit wohnte er wieder bei den Großeltern. Beide Seiten hätten etwas Geduld aufbringen sollen, bevor ihn die Großmutter kurzer Hand und ohne dass die Eltern den geringsten Einspruch erhoben hätten, zurück holte. Fortan lebte er wieder in seiner gewohnten Umgebung und machte mal mehr, mal weniger Probleme. Doch die Probleme die ihnen mit einen pubertierenden Jugendlichen bevorstanden, waren nicht mit denen von früher zu vergleichen, sie wurden zunehmend zu einer unlösbaren Aufgabe für die bereits betagten Leute. Holger musste wieder, auch wenn es seinen Großeltern nicht leicht fiel, zu seinen Eltern zurück. Aber auch sie waren mit seinem unangepassten Verhalten überfordert, zudem hatten sie genug mit sich und ihren vier bereits im Haushalt lebenden Kindern zu tun. Ihr Sohn spürte sehr genau, dass er bei ihnen nur geduldet, aber nicht geliebt wurde. Seine Eltern blieben ihm fremd und seine Geschwister betrachteten ihn als Eindringling. Er stand ständig unter Druck. Und als er keinen anderen Ausweg sah entschied er aus dem Bauch heraus, egal ob es den Großeltern recht ist oder nicht, ich gehe einfach wieder zurück. Auch wenn den alten Leuten bewusst war, dass ihr Enkel bei seinen Eltern keine wunder-same Läuterung erfahren hat, so haben sie ihn wieder aufgenommen.
Seit Margit diesen Artikel über das Erben gelesen hat, ist sie der Meinung, Holger sollte ihn unbedingt auch lesen. Geregelte Angelegenheiten müssten schließlich auch in seinem Interesse sein, zumal er sich nach der Wende ein kleines Fuhrunternehmen aufgebaut hat. Er geht immer davon aus, dass er alt wie Methusalem wird, aber das Leben schreibt oft andere Geschichten.
Eigentlich wird er nicht gern mit solchen Piepelmannskram, so nennt er Dinge die ihn nicht so brennend interessieren, behelligt. Das kurze Wochenende, das ihm als selbstständiger Fuhrunternehmer, nach Erledigung des Papierkrams verbleibt, verbringt er lieber auf seiner kleinen Ranch, bei seinen Kaninchen und den Gänsen. Hier ist für einen Eigenbrötler wie ihn, der richtige Platz um etwas zu entspannen.
Weil Margit sowieso keine Ruhe geben wird, das ist so gewiss, wie das Amen in der Kir-che, bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Artikel zu lesen und am Ende ist er auch der Meinung, dass so einiges bedenkenswert wäre. Auch wenn beide sonst vielmals sehr unterschiedliche Meinungen vertreten, aber in allem was Holgers Eltern anbelangt sind sie sich einig. Die Früchte seiner Arbeit, sollen ihnen im Falle des Falles nicht zugute kom-men, dafür haben sie ihn zu stiefmütterlich behandelt. Dass Margit bereits eine Lösung hat, wie man das ganze sehr einfach aus der Welt schaffen könnte, sagt sie vorerst nicht. Genau ihre Lösung ist nämlich immer mal wieder ein Streitpunkt in ihrer Partnerschaft. Vor Jahren planten sie zu heiraten, doch dann musste sie erfahren, dass ihr Holger nicht so treu ist, wie sie immer glaubte. Dennoch haben sie eine Heirat nicht gänzlich ausgeschlossen, aber seitdem können sie einfach nicht unter einen Hut kommen. Ist sie bereit zu heiraten, hat er Vorbehalte, die ihrer Auffassung nach nur faule Ausreden sind, ist er zu diesem Schritt bereit, möchte sie nicht, weil er es mit Treue und Ehrlichkeit wieder einmal nicht so genau genommen hat. Aber egal, was gewesen ist und ob er heute wieder etwas dagegen haben könnte, sie wird ihm jetzt ihren Vorschlag unterbreiten. Eigentlich ist sie ein Mensch, der seine Meinung in der Regel, gerade heraus sagt, doch jetzt nimmt sie sich sehr zurück, ja sie wirkt fast schüchtern, als sie ihn fragt, was er davon hält, wenn sie heiraten würden. Gerade noch starrte Holger teilnahmslos auf seine Zeitschrift, doch plötzlich baut er sich wie ein Gorilla auf, der den Feind auf sich zukommen sieht. Margit zieht instinktiv den Kopf ein. Es wäre nämlich nicht das erste Mal dass er meint, seine männliche Überlegenheit mit einer Ohrfeige zum Ausdruck bringen zu müssen. Doch dieses Mal hat sie sich geirrt, er bleibt betont ruhig, geht mit einem Lächeln im Gesicht auf sie zu und sagt: „Tja Muttel wenn Du denkst, dass das die beste Lösung ist, dann werden wir eben heiraten.“ In diesem Moment ist ihr, als ob Ostern und Weihnachten auf den selben Tag fallen und sprachlos ist sie auch, obwohl ihr das äußerst selten passiert. Auch wenn sie seine Anrede „Muttel“ wie die Pest hasst, sie ist nicht seine Muttel, sie ist seine Frau, wenn auch ohne Trauschein, so wiegt ihr seine Zusage mehr, als sich auf seine kleine Provokation einzulassen. Wer weiß, wo das dann wieder hinführen würde. Sie will es einfach nicht glauben und vergewissert sich lieber noch einmal, ob er alles was er gesagt hat, auch wirklich so gemeint hat. Und er bestätigt ihr noch einmal, dass er sie heiraten möchte. Ja, er besiegelt sogar alles mit einem Kuss. Egal unter welchem Stern ihre Absicht auch geboren wurde, nachdem sie ihre Tochter in ihre Pläne eingeweiht haben, beginnen sie sofort mit der Planung ihres großen Tages. Margit hätte niemals erwartet, dass er so viel Initiative zeigt. Ein Paar Schuhe, er geht davon aus, dass sie ihr auch gefallen, besorgt er sich gleich am nächsten Wochenende. Nicht alles was er bisher selbst gekauft hat bekam ihre uneingeschränkte Zustimmung, aber die Schuhe sind tatsächlich nach ihrem Geschmack. Das macht ihm Mut, acht Tage später ist er wieder, aber dieses Mal mit Margit, unterwegs. Doch bei seiner schlaksigen Figur ist es ein mühseliges Unterfangen, einen passenden Anzug zu bekommen. Nachdem der Herrenausstatter im Ort, der alles führt, aber eher auf Bauchgrößen spezialisiert ist, nichts nach ihrem Geschmack und dem Anlass angemessen anzubieten hat, führt sie ihr Weg nach Chemnitz. Aber auch hier müssen sie nicht nur eine Boutique aufsuchen, um ihn passend einzukleiden und gegen ihre Erwartung lässt er alles geduldig über sich ergehen. Am Ende ist er für den großen Tag tadellos ausstaffiert, aber weder die Braut, noch ihre Tochter haben eine vage Vorstellung, was sie zu diesem Anlass tragen möchten. Sich mit einer Freundin beraten ist ausgeschlossen, schließlich soll die Hochzeit heimlich und ohne großes Tamtam stattfinden, selbst seine betagte Großmutter soll nicht eingeweiht werden.
Nachdem Margit unzählige Modejournale durchstöbert hat und bereits drauf und dran ist, sie in die Ecke zu werfen, stößt sie plötzlich auf ein Kostüm, das ihren Vorstellungen entsprechen würde. Sie ist erleichtert, denn die Zeit drängt, das Aufgebot ist nämlich bereits bestellt. Während sie sich um den Stoff und um eine gute Schneiderin bemüht, hat Angela, ihre Tochter, bereits ihre Wahl getroffen. Ehe sie ihre Mutter wieder zu beeinflussen versucht, hat sie es vorgezogen, die Sache mit der Garderobe lieber für sich allein zu entschieden. Hineinreden lässt sie sich von niemanden so gern. Mit dem großen Tag von Margit und Holger,der mit strahlendem Sonnenschein beginnt, komme ich zu dem Teil, der für den Leser in manchen Passagen oft unglaubwürdig erscheinen muss, trotzdem ist es eine wahre Geschichte. Die Aufregung hat alle Beteiligten bereits beizeiten aus den Federn getrieben. An ein Frühstück ist nicht zu denken, niemand bekommt einen Bissen hinunter. Nach einer ausgiebigen Dusche beginnt die Braut sich herzurichten. Sich zu schminken ist für sie keine echte Herausforderung und auch ihr Haar hat sie rasch nach ihren Vorstellungen gestylt. Um ihrem Werk Halt zu verleihen versprüht sie einen guten Teil ihres Haarsprays. Sie hört erst damit auf, als sie ihre Tochter erinnert, dass auch sie so noch ein wenig benötigt. Die Prozedur des Ankleidens jedoch, geht an niemanden spurlos vorüber. Holger kommt mit seinem Schlips nicht ins Geschick und die Schuhe, die bisher perfekt saßen, kneifen plötzlich auch. Aber auch Margit hat ihre Probleme, sie ist der Meinung, seit gestern zugenommen zu haben, der Reißverschluss am Rock will sich einfach nicht schließen lassen und die Jacke wirft ihrer Meinung nach Falten über der Brust. Aber auch die Tochter hat ihre Probleme, auf die aber im Moment niemand eingeht. Sie behauptet, sie sähe total Scheiße aus und ist bereits den Tränen nah. Als das Tohuwabohu mit seinem nicht unerheblichen Lärmpegel die Nerven aller Anwesenden bis aufs Äußerste gereizt hat, ruft die Braut, die vor Erregung ein puterrotes Gesicht bekommen hat, in ihrem mecklenburgischen Dialekt Ruuheeee, maaann!!
Sofort herrscht absolute Stille. Weder Braut noch Bräutigam, auch nicht deren Tochter, keiner möchte es darauf ankommen lassen, dass die Hochzeit vielleicht noch an solchen „Kleinigkeiten“ scheitert. Jeder richtet, was ihm bisher unmöglich erschien und stellt sich danach Margit's kritischen Augen. Sie zupft, als ob es auf ihren letzten Handgriff tatsächlich ankommen würde, ein wenig hier und ein wenig dort und als sie ihr Möglichstes getan hat, damit der Hochzeitsstaat ihrer Angehörigen nicht hinter ihrem zurücksteht, ermahnt sie sie, sich doch bitte zu beeilen, die Zeit ließe sich schließlich nicht anhalten.
Natürlich hat sie recht, denn geheiratet wird nicht im Ort, sondern wie es sich bei einer heimlichen Trauung vermuten lässt, auswärts. Bei normalen Verhältnissen hätten sie eine gute halbe Stunde zu fahren. Doch das ist noch nicht alles, was zu bedenken ist. Parkplätze, das weiß auch der letzte Träumer, die gibt es nicht wie Sand am Meer und erst durch die halbe Stadt laufen zu müssen, um sich dann im Rathaus trauen zu lassen, ist nicht das, was Margit sich vorgestellt hat. Eine gute Stunde hat sie für alles eingeplant, doch nun bekommt sie Zweifel, ob das in dieser Zeit zu schaffen ist. Wenn sie nur daran denkt, mit ihren ungewohnt hochhackigen Schuhen vom Auto bis ins Rathaus stöckeln zu müssen, verursacht ihr das jetzt schon erhebliche Bauchschmerzen. Um zum Standesamt, in der benachbarten Kreisstadt zu gelangen, benötigen sie kein Taxi, sie lassen sich vom Bräutigam chauffieren. Holger hat seinen Pkw, den er sonst immer etwas stiefmütterlich behandelt, tadellos auf Vordermann gebracht, sodass seine Braut und seine Tochter keinerlei Bedenken haben müssen, sie könnten sich ihren Hochzeitsstaat ruinieren. Margit ist das natürlich nicht entgangen, trotzdem streicht sie heimlich über die Beifahrertür und wirft anschließend einen prüfenden Blick auf ihre Fingerspitzen. Geschafft, endlich sitzen alle im Auto, die Fahrt kann beginnen. Bevor sie auf die Hauptstraße abbiegen, rattern sie über ihre mit Schlaglöchern übersäte Dorfstraße. Doch heute sind alle so sehr mit der bevorstehenden Trauung beschäftigt dass sie sich nicht, wie sonst immer üblich, über ihren desolaten Zustand auslassen. Ihren Wohnort haben sie bereits vor einigen Minuten hinter sich gelassen, als Margit neben sich fasst und entsetzt feststellt, der Brautstrauß steht noch zuhause, im Keller. Holger hatte sie zwar gebeten, ihn daran zu erinnern, doch auch sie heiratet und auch sie hat nur den einen Kopf. In den letzten Tagen kam sie sich sowieso schon vor als wäre sie die Schaltzentrale für alles, was mit der Hochzeit zusammenhängt. Und heute an ihrem großen Tag, von dem man in Büchern immer schreibt, er wäre der schönste Tag im Leben einer Frau, vergisst Holger die Blumen und sie soll wieder die Schuld tragen. Dieser Vorfall bringt sie auf einen Gedanken, den sie lieber nicht gehabt hätte. Sie befürchtet nämlich, er könnte auch noch die Ringe vergessen haben. Sie sind am Ziel. Wie durch ein Wunder ist auch ein Parkplatz in der Nähe des Rathauses frei und sie steigen aus. Noch immer quält sie der Gedanke an die Ringe und gerade als sie danach fragen möchte, spurtet Holger mit unbekanntem Ziel davon.
Sie wollten um jeden Preis Aufsehen vermeiden, doch einige Passanten haben das entsetzte Gesicht der Braut gesehen und beginnen zu tuscheln. Eine Dame lässt sogar die Bemerkung verlauten, der Bräutigam hätte kalte Füße bekommen, und würde abhauen. Auch wenn die Worte kaum für Margit gedacht waren, so hat sie sie doch vernommen, und hat plötzlich ein ziemlich unangenehmes Gefühl im Bauch. Er wird doch nicht wirklich, denkt sie. Doch genau in diesem Augenblick ist er wieder zurück und zaubert hinter seinem Rücken einen Strauß Blumen hervor. Margit genügt ein Blick um zu erkennen, beim Floristen hat er den nicht gekauft. Doch darauf kommt es nun auch nicht mehr an. Sie haben gleich einen Termin im Standesamt, für Befindlichkeiten und Diskussionen ist einfach keine Zeit, und auch nicht der rechte Ort, so in aller Öffentlichkeit.
Aber trotzdem kann sie sich nur schlecht beruhigen, denn auch ihre Befürchtungen was ihre Schuhe anbelangt, haben sich im vollen Umfang bestätigt. Mit schmerzenden Füßen und ohne dass sie Holger, wie es sich für einen Bräutigam gehört hätte untergehakt hat, tippelt sie ihrer Trauung entgegen. Dabei hatte sie sich so sehr gewünscht, dass er ihr wenigstens heute seinen Arm anbietet und nicht wieder wie ihr persönlicher Wegbereiter vor ihr her rennt. Aber da sie ihn schon seit Jahren kennt, ist ihr auch nicht entgangen, dass er in vielen Dingen sehr auf sich und seine Befindlichkeiten fixiert ist. Trotzdem, auch wenn er ein paar Macken hat, die man besser nicht hätte, liebt sie ihn. Sie stehen bereits vor dem Zimmer, in dem die Trauung vollzogen werden soll. Drinnen wird es unruhig. Die Tür geht auf und Margit's Traum von ihrer eigenen Hochzeit, den sie als Teenager oft geträumt hat, läuft unmittelbar an ihr vorüber. Ein junges Paar, die Braut ganz in weiß gekleidet, der Bräutigam wie es früher üblich war in Frack und Zylinder, verlassen mit ihren Gästen den Raum. Sie sieht ihnen lange nach und ihr Gesicht spricht Bände.
Nun kommt für sie die Stunde der Wahrheit, jetzt gibt es kein Zurück mehr, denn der Standesbeamte kommt bereits auf sie zu und heißt sie herzlich willkommen. Dann erläutert er, wie die das Prozedere ablaufen wird. Unter anderem erklärt er, sie möchten bitte sobald die Musik einsetzt, Arm in Arm zu ihren Plätzen schreiten und sich danach auf seine Aufforderung hin, auf die für sie vorgesehenen Sessel setzen. Danach würde die eigentliche Zeremonie stattfinden. Bevor der Standesbeamte wieder hinter der massiven Tür des Hochzeitszimmers verschwindet, bittet er um die Ringe, um die letzten Vorbereitungen treffen zu können.
Die Braut vergewissert sich, ob ihr Bräutigam auch alles behalten hat, was der Standesbeamte eben erwähnt hat. Er nickt, doch am liebsten würde er antworten, ja Muttel. Es geht ihm nämlich auf die Nerven, wenn sie ihn wie einen kleinen Jungen behandelt.
Die besagte Musik setzt ein. Margit wartet darauf, dass ihr Holger seinen Arm anbietet, doch er stürzt, ohne sich um sie zu bemühen auf einen der Sessel zu. Ihr fehlen die Worte, hat er ihr doch gerade noch bestätigt, dass er den Ablauf kennt. Begleitet von ihrer Tochter geht sie den Weg, den sie eigentlich mit ihrem Bräutigam gehen sollte. Das Verhalten ist für sie ein Eklat. Aber egal wie Mutter und Tochter im Moment zumute ist, sie werden ihn nicht mehr ändern, daran haben sich bereits ganz andere die Zähne ausgebissen.
Die Musik sollte das Paar auch auf die Zeremonie einstimmen, ob sie ihren Zweck erfüllt hat, ist nach diesem Auftakt fraglich. Doch jetzt sitzen Braut und Bräutigam, artig wie Erstklässler, jeder auf dem ihm zugedachten Sessel und lauschen andächtig den Worten des Standesbeamten, als hätten sie von dem was er gerade sagt, noch nie etwas gehört. Als er von Liebe, Treue und gegenseitiger Achtung spricht, versucht Margit einen Blick von ihrem Holger zu erhaschen, denn damit hat er es nicht immer so genau genommen. Er weiß genau was sie denkt, als sich ihre Blicke treffen, sie hofft nämlich, dass das seine Eskapaden endlich der Vergangenheit angehören werden. Eben war sie noch mit diesen Gedanken beschäftigt, doch als sie den Namen ihrer Tochter vernimmt ist sie wieder hellwach, gerade zur richtigen Zeit, denn Angela wird ihnen nun die Eheringe anstecken. Nachdem das geschehen ist und sie die Eheurkunde unterzeichnet haben ist nun vollbracht, was sie seit vielen Jahren nicht in die Reihe bringen konnten.
Es ist Mittagszeit als sie das Rathaus verlassen, eigentlich eine gute Gelegenheit essen zu gehen. Margit und Angela sind immer für ein gutes Essen zu haben, doch vorher möchte die Braut, dass sie sich für die Nachwelt beim Fotograf verewigen lassen. Sie legt ihren Blumenstrauß auf dem Rücksitz ihres Autos ab, um die Dokumente ihrer Heirat zu verstauen. Anschließend begeben sie sich zum Fotograf. Einige Meter vor dem Fotostudio bemerkt Margit, dass sie den Blumenstrauß vergessen hat. In Anbetracht ihrer schmerzenden Füße bittet sie ihren Mann die Blumen zu holen. Aber er meint doch allen Ernstes, das wäre überflüssiger Schnickschnack, es würde auch ohne Blumen gehen. Als seine Frau dennoch darauf besteht brummt er in seinen Bart: „Was sie an den Füßen trägst, sind ja auch keine Schuhe, sondern mittelalterliche Folterinstrumente sonst wären ihr die paar Schritte bis zum Auto nicht zu viel.“Sie hat das gehört und wirft ihm den ersten bösen Blick in ihrer Ehe zu. Um des lieben Friedens willen geht er zurück und holt, worauf seine Frau auf keinen Fall verzichten möchte.
Hätte Holger gewusst was nun auf sie zukommt, hätte er ganz gewiss nicht eingewilligt, sich fotografieren zu lassen. Kurz hinsetzen und bitte recht freundlich, so hat er sich das vorgestellt, aber sie möchten keine Passbilder sondern Hochzeitsbilder. Das setzt schön künstlerische Ambitionen voraus. Für ihn hat es sogar den Anschein, dazu sind auch noch akrobatische Verrenkungen nötig, denn der gute Mann hat bereits damit begonnen, sie wie Animationspuppen zurechtzurücken. Endlich ist für ihn alles perfekt und er schießt das erste Foto, doch ehe er sie in mehreren verschiedenen Posen abgelichtet hat, schmerzen den Akteuren sämtliche Glieder. Außerdem ist eine halbe Ewigkeit ist vergangen, ehe sie das Fotostudio wieder verlassen können. Margit mahnt: „Wenn wir noch zu Mittag essen wollen, müssen wir uns beeilen.“ Das geht Holger etwas gegen den Strich. Er hat ihre Finanzen kurz überschlagen, und mal ganz davon abgesehen davon, was sie noch beim noch Fotograf hinblättern müssen, sieht es nicht so rosig aus. Und weil er bei seiner Meinung bleibt, so üppig hätten sie es nun wirklich nicht, auch noch essen zu gehen, überredet er seine frisch Angetraute davon abzusehen und statt dessen heimzufahren. Unterwegs könnten sie ein frisches Brot besorgen und zuhause eine ordentliche Portion Rührei mit Schinken zubereiten. Dann setzt er noch eins drauf und schlägt vor, weil sie sowieso nach Mecklenburg zum Geburtstag ihres Bruders fahren wollten, könnten sie das doch gleich heute in Angriff nehmen, schließlich hätten sie ein paar Tage Urlaub. Damit hat er Margit völlig überrollt, aber sie hat heute keine Nerven mehr, um ihm etwas entgegenzusetzen oder mit ihm zu diskutieren, denn recht ist ihr das gar nicht. Zuhause angekommen bindet sie sich wortlos ihre Schürze um, geht zum Herd und bereitet Rühreier mit Schinken zu und kurz darauf geht die Reise in den Norden.
Die Fahrt zieht sich dahin. Ihre Tochter schläft, doch ihre Mutter ist hellwach, denn sie hört seit einiger Zeit seltsame Geräusche, die irgendwo aus dem Motorraum ihres Autos kommen. Ihre Bedenken, das Auto könnte den Geist aufgeben sind nicht von der Hand zu weisen, auch Holger ist das nicht entgangen, aber um seine Frauen nicht zu beunruhigen schweigt er lieber. Als sie vierzig Kilometer vor ihrem Ziel sind, dreht sich plötzlich kein Rad mehr. Holger sucht krampfhaft nach der Ursache, doch so sehr er sich auch bemüht, er kann nichts finden. Verdammte Scheiße denkt er, noch so ein finanzieller Tiefschlag. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als den Abschleppdienst zu rufen. Und der lässt mächtig auf sich warten. Die letzten Kilometer legen sie in einem Taxi zurück. Es ist bereits nach einundzwanzig Uhr, als sie bei Margit's Bruder eintreffen. Die frisch Vermählten merken sofort, dass sie ungelegen kommen, denn heute hat er noch keine Gäste erwartet, seine große Feier soll erst am Samstag steigen. Blöde Idee denkt Margit, wären wir lieber erst am Samstag gefahren. Ihrem Bruder und seiner Frau ist es unangenehm, dass sie nur im begrenzten Maß für das leibliche Wohl ihrer Gäste sorgen können.Doch  Margit versucht die Situation zu retten indem sie vorschlägt, in die Dorfkneipe zu gehen. „Dorfkneipe“ sagt ihr Bruder und verschluckt sich fast dabei, „Das war einmal, die ist schon seit Jahren dicht.“ Damit ist guter Rat teuer. Aber achdem sie den ganzen Tag noch nichts gegessen haben, hängt ihnen der Magen bereits bis in die Kniekehlen. Holger hat plötzlich einen Geistesblitz, denn ar fast sich kurz andie Strirn, geht in den Flur und kommt kurz darauf mit einem Brot und einer großen Tupperdose zurück, packt sie auf den Tisch und lädt alle zu Margit's köstlichen Eierbemmen ein. „Siehste Muttel,“ kommentiert er : „ Es war doch zu etwas gut, dass wir nicht essen gegangen sind, so müssen wir wenigstens nicht hungrig ins Bett gehen.“
Stunden später liegt die Braut neben ihrem Bräutigam, der längst schläft und denkt, man sagt immer, die Hochzeit wäre der schönste Tag im Leben einer Frau, aber wenn sie darüber nachdenkt, sie hat schon schönere erlebt.
























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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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