Peter Kröger

Eine ganz stille Nacht



Er hätte eine Tablette nehmen können und wäre eingeschlafen. Vielleicht wäre er dann im Traum wieder heimgekehrt zu Simone, und Simone hätte gesagt:
-         Horst, schau was du angerichtet hast
 oder
-         Es ekelt mich an, wie du dich gehen lässt
 oder
-          Glotz nicht so, ja, ich habe mit Georg geschlafen, das sollte dir zu denken geben.
Ohne Tablette sagte Simone all diese Dinge nicht, heute nicht und seit einem Jahr nicht, aber ohne Tablette lag Horst wach zur Geisterstunde, griff sich an sein schlaffes Glied und starrte gegen die Bücherwand.
In der düsteren Erdgeschosswohnung, die er angemietet hatte, weil keiner sie wollte, lebte Horst allein, und ein Sommertag war wie ein Wintertag und Morgen und Abend unterschieden sich nur durch die unterschiedliche Körnung des Dämmerlichts, das nur in der Nacht vom Schein der schwachen, gelblichen Straßenbeleuchtung abgelöst wurde.
Aber es gab die Bushaltestelle.
Wenn das einzige Fenster der Wohnung einen Spaltbreit geöffnet war, gekippt oder angelehnt, konnte Horst fast jedes Wort verstehen, das auf dem Gehweg gesprochen wurde, vorausgesetzt, es wurde nicht geflüstert, und kein Laster fuhr vorbei und störte mit lautem Motorgeräusch.
Und Horst wollte jedes Wort verstehen, an freien Tagen oder wenn er von seiner Arbeit als Beleuchter bei den Städtischen Bühnen nach Hause kam und sich dann hinter der vergilbten Gardine herumdrückte, mit einem Butterbrot oder einem geschälten Apfel in der Hand, um Gespräche zu belauschen, die er gelegentlich sogar in stichwortartigen Notizen festhielt, als Gedächtnisstütze, um in stillen Momenten, sehr stillen, alles noch einmal durchzugehen.
Sein Bett hatte Horst bald nach dem Einzug aus der hinteren Ecke seines quadratischen Zimmers rechts neben das Fenster gerückt und einen Stuhl auf die linke Seite gestellt, damit ein Zuhören in allen Lagen möglich war, im Stehen ebenso wie im Sitzen und Liegen.
Er konnte sich nicht erinnern, danach gesucht zu haben, aber es gab nun mal diesen Ort, daher interessierte sich Horst für das Leben an der Haltestelle, wenn man von wirklichem Leben sprechen konnte, denn schließlich handelte es sich nur um einen Umschlagplatz, geprägt vom Rhythmus an- und abfahrender Busse und von Menschen, die ausstiegen und verschwanden oder warteten und fort wollten, so, wie Simone immer auf dem Sprung gewesen war und immer nur gewartet hatte, dass jemand sie mitnahm, der anders als Horst war.
Manchmal wurde auch Horst hinter der Gardine zu einem Wartenden, der den nächsten Bus herbeisehnte, weil ein abgehörtes Gespräch sich träge hinschleppte, Floskeln sich immerzu wiederholten oder einfach niemand da war, der sprach.
Auch jetzt war nichts zu hören und Horst fühlte seinen gleichmäßigen Herzschlag. Er überlegte, was er heute angerichtet haben könnte, ob er schlampig gewesen war oder einem Menschen unrecht getan hatte. Vor noch gar nicht langer Zeit wäre dann ein strenger Tadel Simones die Folge gewesen. Doch alles war gut, auch wenn man nie ganz sicher sein konnte, dass alles gut war, aber er freute sich, an diesem, fast nur gefahrlos im Bett verbrachten freien Tag mit sich im  Reinen zu sein. Schließlich schob er mit einem behaglichen Gefühl Glied und Hoden in seinem Slip von der einen zur anderen Seite. Mit dem Nagel seines großen Zehs schälte er dabei ein halbkreisförmiges Stück Raufasertapete von der Wand und beschloss, irgendwann später dieses kleine Kunstwerk genauer zu begutachten.
Die Haltestelle meldete sich.
Ein Scharren und Rascheln vor dem Fenster ließ Horst auf dem Bett herumfahren und, wie er es immer tat, eine Schätzung der Personenzahl vornehmen. Einer mochte es sein, oder auch zwei, da nach Horsts Erfahrung die Nervosität eines Menschen oft dann besonders groß war, wenn ein anderer sich betont ruhig verhielt. An einem Wochentag kam es zu dieser vorgerückten Stunde nicht häufig vor, dass jemand noch in die Innenstadt wollte, manchmal war es ein unternehmungslustiges Pärchen, manchmal ein einsames Nachtgewächs, dem die Tabletten ausgegangen waren, wie Horst vermutete.
Noch schätzungsweise zehn Minuten, drei Kilometer oder fünf Haltestellen, erst dann wird das nervöse Scharren enden, dachte Horst. Nach einem Jahr in der dunklen Erdgeschosswohnung witterte er förmlich einen herannahenden Bus. Wichen Horsts Voraussagen nennenswert vom wirklichen Geschehen ab, war die Ursache dafür regelmäßig entweder in widrigen Wetterverhältnissen, einem Stau oder anderen Unwägbarkeiten zu suchen: Womöglich trödelte der Fahrer, oder der Dienstplan wies Lücken auf, bei denen jede Intuition versagte.
Die Geräusche vor dem Fenster setzten einen Moment aus, waren dann aber wenig später wieder zu hören und verstärkten sich sogar. Horst hörte ein Seufzen.
Er liebte dieses Seufzen, das nahezu täglich in einer neuen Variante an sein Ohr drang. Und er verglich es mit den kaum hörbaren Klagelauten, die er regelmäßig von sich gegeben hatte, wenn Simones Peitschenhiebe knallten. Wieder und wieder, über all die Jahre, waren sein liederliches Wesen, seine Unbeweglichkeit und sein mangelndes Einfühlungsvermögen Gegenstand heftiger Kritik gewesen.
Simone, lass gut sein, hatte er oft, allerdings nur zaghaft, erwidert, was wiederum zu neuerlichen Vorwürfen führte. Simone war sich nicht einmal zu schade gewesen, auf wüste Beschimpfungen zurückzugreifen. Gern hatte sie scheinbar harmlos ausgeholt und sich beispielsweise über Horsts Leibesfülle lustig gemacht, um ihn dann schließlich als grenzdebilen Hornochsen abzukanzeln, eine Beleidigung, deren volle Bedeutung Horst erst ermessen konnte, nachdem er sich im gemeinsam angeschafften Brockhaus kundig gemacht hatte. Denn Simone benutzte nach dem Besuch der Abendschule und einer Umschulung zur Physiotherapeutin manchmal merkwürdige Worte, wenn sie die Wut auf ihren Lebensgefährten überkam.
Vergeblich hatten seine Skatfreunde Rolf, Jupp und Georg ihn zu entschlossener Gegenwehr ermutigt. Von Georg war ihm der Satz in Erinnerung geblieben: Wenn du dir alles gefallen lässt, wirst du zum Schluss noch einen Tritt dafür bekommen. Zeit, aufzustehen. Doch wofür sollte man aufstehen? Was für einen Sinn machte es, sich ins Kampfesgetümmel zu stürzen, wenn es gerade das war, was Simone wollte und es ihm, dem Friedfertigen, an Kampfeslust gebrach?
Der Bus kam, und das Scharren und Rascheln endete abrupt. Horst hörte, dass sich kurz nacheinander zwei Türen öffneten, ein Hinweis darauf, dass der Raschler vorne einstieg, während irgendjemand offensichtlich sein Fahrziel erreicht hatte und durch den hinteren Ausstieg den Bus verließ, ein Austausch von Menschenkindern, wie Horst dachte.
Zwei Überraschungen auf einmal, stellte er mit nachdenklicher Miene fest und starrte wieder auf das Bücherregal. Denn anscheinend hatte der Einsteiger doch allein an der Haltestelle gestanden, dabei war sich Horst nahezu sicher gewesen, ja, er hatte es gespürt, dass noch jemand auf dem Gehweg vor dem Fenster wartete. Die zweite Überraschung bestand darin, dass es zu dieser späten Stunde jemandem in den Sinn gekommen war, aus der Vorstadt bis zum Rand der Innenstadt zu fahren, aber eben nur bis zum Rand, denn die Innenstadt war noch gut zwei Kilometer entfernt, und das Viertel ein öder Ort, wo nichts geschah, was von Interesse war, für niemanden außer Horst, den Lauscher.
Er dachte wieder an Georg, den Draufgänger, den Strategen. Er mochte ihn, er verehrte ihn geradezu, der Teufelskerl schaffte es, kühn und verwegen und doch auf elegante Art einen Grand ohne vier oder einen nicht ganz dichten Null Ouvert glücklich nach Hause zu schaukeln.
Dass  Georg mit Simone Sex gehabt, den Geschlechtsakt vollzogen hatte, wie Horst dachte, oder, wie Simone einmal sagte, ganz lieb gewesen war, - er hatte es zur Kenntnis genommen, nicht verärgert aber mit einem gewissen Bedauern, weil er als Spezialist für Licht und Schatten die Leuchtkraft dieser Verbindung vermisste, den Mangel an Möglichkeiten zu erkennen glaubte und eine Perspektive bestritt, da noch nicht einmal ein Waffenstillstand zwischen den beiden vorstellbar war. Georg ließ sich als Kerl mit Grundsätzen sicher nicht die Butter vom Brot nehmen, es war rätselhaft, wie  ein Zusammenspiel mit der zänkischen und unbelehrbaren Simone möglich sein sollte, wenn ihre Wutattacken Georgs entschlossene Gegenwehr herausforderten.
Doch wenn Simones detailreiche Darstellung der Wahrheit entsprach, war es auf dem Wohnzimmerfußboden gleich bei den Brockhausbänden zu einem Liebesspiel voller Leidenschaft und gegenseitiger Hingabe gekommen bei dem das Paar vortrefflich harmoniert hatte.
Horst dachte daran, wie er mit wohlgesetzten Worten aber doch eine Spur zu unbekümmert während der wöchentlichen Skatrunde die noch nicht offizielle aber sich allmählich anbahnende Beziehung von Georg und Simone angesprochen hatte, mit der Absicht, wie er zum Auftakt verkündete, den Ball flach halten zu wollen. Jedoch war bei ihm der Eindruck entstanden, dass Georgs verlorenes, eigentlich todsicheres Pik-Hand-Spiel auf seine, Horsts, Kappe ging und die Spielergebnisse des Abends nicht wie sonst die wahren Kräfteverhältnisse wiederspiegelten.
Wenig später war Horst ausgezogen, und seitdem, soweit er wusste, lebte Simone mit Georg in trauter Eintracht, und es gab keine Skatrunde mehr, auch nicht mit Jupp und Rolf, die Horsts bedächtige Art, wie sie untereinander sagten, ein wenig unheimlich fanden.
Vor dem Fenster wurde gesprochen.
Die dritte Überraschung, dachte Horst und schaute zur vergilbten Gardine, die sich im matten Licht der Straßenbeleuchtung durch einen kaum spürbaren Lufthauch lautlos bewegte.
Er hatte keine Schritte gehört, keine herannahenden, allerdings auch keine, die sich entfernten, aber es wurde gesprochen, gedämpft zwar, doch trotzdem unüberhörbar, also traf sich Vorstadt mit Haltestelle, und Horst sprach leise in die Dunkelheit des Zimmers die Worte:  Also waren es doch zwei gewesen, und jetzt sind es wieder zwei. Dann dachte er: Es reden Mann und Frau. Und gleich danach: Eine Frau, die gewartet hat und ein Mann, der mit dem Bus gekommen ist und jetzt neben ihr steht. Dann hörte er sein eigenes Flüstern, erschrak und verstummte.
Niemals würde er direkt ans Fenster treten und nachsehen, ob seine Mutmaßungen zutrafen, das ganze Jahr über hatte er nur gelauscht und es vorgezogen, sich eine Vorstellung von dem zu machen, was er hörte. Ein verstohlener, schräger Seitenblick durch den schmalen Spalt zwischen Gardine und Fenster wäre in seinen Augen nicht nur indiskret, sondern auch nicht zielführend gewesen, wie Simone gesagt hätte, denn was für Horst in seiner Einsamkeit mehr und mehr zählte, waren die Menschen, wie er sie sich als Träger von Worten und Geräuschen inmitten von Licht und Schatten konstruierte, als Teil eines absurden Theaterstücks.
Aber  was sie sagten, wollte er in sich aufnehmen, hier an der Haltestelle, gute Worte oder wenigstens böse, Worte, die zu ihm sprachen und seine Vorstellung beflügelten, für einen Tagtraum ohne Tabletten, in dieser Nacht, bald der vierhundertsten, seit Simone die Uhr aufgezogen hatte, ja, so hatte sie sich verabschiedet: Ich habe die Uhr aufgezogen, Horst. Du weißt, sie war stehengeblieben.
Zuerst hatte die Frau geredet, ernst und mit klarer Stimme.
-         Ich habe nicht geglaubt, dass du kommst, sagte sie.
-         Na ja, du hast mir allerdings etwas kurzfristig Bescheid gegeben, so wie früher, und die Nummer mit dem Bus ist etwas merkwürdig, antwortete der Mann mit leicht gequältem Unterton.
Horst suchte seinen Notizblock auf dem Nachttisch, fand ihn, und legte ihn gleich wieder weg. Im Dunkeln konnte er nicht schreiben und Licht hinter der Gardine hätte leicht alles verderben können. Er konzentrierte sich und krallte sich mit der rechten Hand in seinem Schamhaar fest.
Frau und Mann schwiegen eine Weile, bis er den Gesprächsfaden wieder aufnahm.
-         Ich muss sagen, dass dieser Ort als Treffpunkt etwas ungewöhnlich ist, findest du nicht?
-         Er liegt genau in der Mitte zwischen unseren Wohnungen, wenn du nicht umgezogen bist. Ich habe es ausgemessen.
-         Du warst immer für Dramatik. Es ist wie in alten Zeiten. Oder ist es eine ganz abgedrehte Art von Korrektheit? Vielleicht wären wir noch zusammen, wenn du nicht ständig irgendetwas inszeniert hättest. Jetzt stehen wir hier nachts an einer Haltestelle, wo man noch nicht mal sitzen kann.
-         Das wusste ich nicht.
-         Das wusstest du nicht.
-         Das mit dem Sitzen.
Wieder schwiegen beide. Horst dachte an Simone, die nie geschwiegen hatte, sondern zu jeder Zeit Breitseiten abfeuerte, wenn sich eine Gelegenheit bot, und Gelegenheiten boten sich immer. Zum Schluss hatte sie mit Georg geschossen.
-         Was machen wir hier? Warum hast du mich herbestellt? Bea, worum geht es? Mir ist kalt.
Der junge Mann scheint schnell ungeduldig zu werden, dachte Horst. 
-         Was wir hier machen? Was haben wir acht Jahre gemacht,  Robert?
-         Darüber wolltest du sprechen? Wir sind seit drei Jahren nicht mehr zusammen, wir sehen uns noch alle Jubeljahre, wir hatten eine schöne Zeit, finde ich, aber zum Schluss war es anstrengend, Bea. Wolltest du das nochmal durchkauen? An diesem Ort? Das ist jetzt nicht dein Ernst.
-          Es geht um ein Detail.
-         Oh, Bea. Wir sind also hier, genau in der Mitte, um Detailfragen unserer Beziehung zu klären, oder was es auch immer sein mag. Originell.
-         Originell?
-          Ich wäre nicht gekommen, wenn ich gewusst hätte, dass du.. -
-         Ja?
-         Detailfragen klären willst. Wir sind nicht mehr zusammem. Bea, bitte mach es nicht so schrecklich spannend, und stell endlich deine Frage. Gib mir eine Chance. Es nervt, sich an zugigen Haltestellen mitten in der Nacht mit unaussprechlichen Dingen zu befassen. Sagte ich schon, dass ich friere? Du weißt, dass ich schnell zu Eis erstarre, extrem schnell, auch jetzt im Sommer. Quäl mich nicht.
Dieser Robert, dachte Horst, kein Durchhaltevermögen. Dabei sind Detailfragen so wichtig. – Horst schaute auf die matt glänzenden Buchrücken der Brockhausbände im Regal. Simone hatte nach der Trennung Großzügigkeit walten lassen: Wenn du es schaffst, in einer Woche auszuziehen, kannst du die Lexika mitnehmen, Horst. Wie dieser Robert wohl beim Skat aussehen würde? Mit Georg zusammen gegen Robert. Ein Fest. Georg der Fuchs schnibbelt ihm sogar noch eine Zehn raus, jede Wette. Ein Fest. Aber nun sag schon, Bea, er friert.
Aber von Bea war nichts zu hören.
-         Quäl mich nicht, wiederholte Robert, du rufst mich nach langer Zeit an, du bestellst mich hierher. Es war eine sogenannte gütliche Trennung, ich darf dich daran erinnern, du hattest keine finanziellen Einbußen, alles ist einvernehmlich geschehen, und jetzt dieser Auftritt. Ich nehme den nächsten Bus zurück. Taxen kommen hier leider nie vorbei.
-         Das stimmt wohl.
-         Das stimmt wohl. Soviel Aufwand für diesen Zirkus? Ich gehe auf die andere Seite, Bea. Hoffentlich bin ich hier gleich weg.
-         Es wird schon klappen, Robert.
-         Ich hoffe, Bea, ich hoffe.
Horst hörte Schritte, die sich entfernten. Zwei oder drei Autos fuhren vorbei und ließen die immer wieder einsetzende Stille jedes Mal ein wenig drückender erscheinen. Horst hörte ihn erst spät, dann hielt der Bus Richtung Vorstadt für einen kurzen Moment an der Haltestelle gegenüber und fuhr sofort weiter.
Jetzt ist Ruhe, dachte Horst. Ein merkwürdiges Treffen. Sie wird gleich Richtung City fahren, von der Mitte des Weges zur Mitte der Stadt. Sie wollte ihm irgendetwas sagen. Simone hätte es gesagt. Robert und Bea.
Ich werde sie fragen. Vielleicht sagt sie es mir, aber vielleicht ruft sie die Polizei. Simone wäre sicher ausgetickt und hätte ihm beleidigende Fremdworte an den Kopf geworfen.
Aber sie war nicht Simone. Sondern Bea.
Er stand auf und schaltete das Licht an. Was hätte Georg getan? Hätte er in den Pott geschaut, zwei Karten gedrückt oder sich für ein Handspiel entschieden? Die Wahrheit war: Georg war seit einem Jahr mit Simone zusammen.
Horst zog die Gardine beiseite und öffnete das angelehnte Fenster. Er sah Bea in nicht mehr als zwei Metern Entfernung. Sie hatte sich zu ihm umgedreht und sein verlegenes Lächeln wahrgenommen.
-         Dürfte ich Sie kurz stören, junge Frau?
Horst begann sofort, beschwichtigend mit den Armen zu rudern. Beas Augen weiteten sich. Der lächerliche Anblick von Horst in seinem zerknitterten, weißen Unterhemd, das er notdürftig in bunte Shorts gestopft hatte, milderte allmählich ihr Entsetzen.
-         Bitte?
Ein Handspiel, entschied Horst, also ein Wagnis. Aber es gab keine andere Möglichkeit. Und, immerhin, ein Handspiel zählte mehr.
-         Nun, ich muss bekennen, ich habe ihre Unterhaltung belauscht. Ich konnte nicht schlafen, wissen Sie, und da ergeben sich solche Dinge manchmal, wenn man hier unten wohnt, auf Ohrhöhe sozuagen.
-         Aha.
-         Ich weiß, eine Ungezogenheit. Ich hätte weghören sollen, aber da ich nun mal hingehört habe, will ich jetzt auch noch eine Frage stellen, der Vollständigkeit halber, sozusagen. Sie müssen natürlich nicht antworten.
-         Schön.
-         Die Frage liegt nahe.  Es ging um ein Detail, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Worüber wollten Sie sprechen mit - Robert? Sie brauchen nicht zu antworten.
Horst spürte die kühle Luft und hörte in der Ferne den herannahenden Bus.
-         Endlich jemand, der es wirklich wissen will. Sie lachte. Ich wollte ihm etwas sagen. Seit Jahren schon versuche ich es.
-         Ach.
-         Ich habe es nie geschafft, ich weiß nicht, warum. Vor dem Spiegel kann ich es ohne Probleme. Aber wenn ich vor ihm stehe.. Was ich ihm sagen wollte, war ganz einfach. Eigentlich. Ich wollte sagen: Du warst eine Fehlbesetzung. Aber es klappt nicht. Es war der letzte Versuch. Für einen solchen Befreiungsschlag fehlt mir offensichtlich das Gen.
Horst schwieg und schaute an Bea vorbei ins Leere.
-         Das war es schon, sagte Bea. Jetzt sind Sie sicher enttäuscht. Eine Abrechnung, ein Abschied. Und beides gelingt nicht. Mehr habe ich nicht zu bieten.
Sie lachte wieder. Horst ließ die Arme sinken.
-          Sie waren sehr freundlich, sagte er, merkwürdig gestelzt. Es war -  er überlegte – es hat mich – er lächelte -gefreut.
Sie deutete eine Verbeugung an.
 
Horst hatte den Eindruck, dass Bea den Bus geradezu enterte, indem sie mit einem großen Satz hineinsprang und mit einer beherzten Drehung um eine Haltestange auf einem freien Einzelplatz hinter dem Fahrer niedersank. Ohne noch einmal in seine Richtung zu schauen, fuhr sie davon.
Horst stand noch eine Weile da. Für einen Moment erwog er ernsthaft einen Blick in den Brockhaus, um die Bedeutung des Begriffs gütliche Trennung nachzuschlagen. G oder t? Aber er löschte das Licht, ging zum Schreibtisch und öffnete eine flache Schublade. Scheiße, ja, eine Fehlbesetzung, dachte er und ergriff einen revolverähnlichen Gegenstand. Dann schlich er zum Fenster zurück und drückte ab. Eine Leuchtrakete stieg in den Himmel und verpuffte in luftiger Höhe als funkelnder Sternchenregen. Die Bushaltestelle war für einen Moment in helles Licht getaucht, das die dumpfe Straßenbeleuchtung überstrahlte.
Horst schloss das Fenster.
Als er auf dem Bett lag, schloss er die Augen. Contra, dachte er, Contra und Re und vergaß vor lauter Müdigkeit, sich ins Schamhaar zu greifen. Der Anfang eines großen Romans von Marcel Proust ging ihm durch den Kopf, aber war es wirklich dieser Proust gewesen? Auf jeden Fall ein Geschenk von Simone zu seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag vor einunddreißig Jahren, als alles begann.
Kurz bevor er erwachte, träumte er von einer dunklen Bühne, über die ein Hase lief.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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