Jürgen Berndt-Lüders

"Wann kommt dein Mann?"




Das Wartezimmer des Facharztes war brechend voll. Fritz musste warten, da blieb ihm nichts Anderes übrig. Dabei wollte er doch nur einen Bericht abholen, eine Art Diagnose, die Doktor Ludwig nach einer Vorsorge-Untersuchung für ihn erstellt hatte.
 
Ihm gegenüber saß die übliche, bunte Mischung aus wenigen alten Männern und Frauen, einigen um die Fünfzig und jungen Müttern mit ihren Kindern, die sich um das Spielzeug balgten, was sie aus einer Kiste holten. Fritz passte voll dazwischen. An ihm war nichts Besonderes, weder im positiven noch im negativen Sinne. Einfach Durchschnitt war er, mit durchschnittlichem Leben, und wahrscheinlich würde er auch durchschnittlich sterben, wenn nicht sogar an Hautkrebs...
 
Schräg links von ihm saß eine Frau Anfang fünfzig. Für einen Moment vergaß er die Angst vor der Diagnose, und sein Hirn verriet ihm, dass dies genau die Frau war, nach der er während der letzten Jahre gesucht hatte: Mittelgroß, etwas struppiges, kaum zu bändigendes Haar, lebendige, etwas slawisch-schräg angesetzte  Augen. Sie las in einer Frauenzeitschrift, und ihre Gesichtszüge berichteten genau über das, was sie da las.
 
Manchmal zuckte etwas Spott über ihre Mundwinkel, mal lächelte sie mitfühlend und manchmal zog sie abschätzend die Mundwinkel nach unten. Irgendwann schien sie von der Zeitschrift die Nase voll zu haben, und sie warf sie mit gekonntem Dreher der rechten Hand auf den Stapel zurück.
 
Ihr Kopf suchte nach einer neuen Ablenkung und blieb an Fritz hängen, wohl weil er sie nach wie vor anstarrte. Sie nahm seine Bewunderung zur Kenntnis und lächelte. Ihre Züge verrieten Stolz und Verständnis, aber wohl kaum Begeisterung über Fritz, dazu war er zu durchschnittlich.
 
„Frau Wagner, bitte“, rief der Arzt in das Wartezimmer. Eine Frau erhob sich und folgte ihm.
 
„Geht aber langsam“, murmelte Fritz, dem sein Attest wieder einfiel. War sein dunkler Fleck in der Armbeuge nun gutartig oder gar... Nein, nur nicht dran denken.
 
„Langsam, ja“, hakte die Göttin ein, die er bewundert hatte. „Aber das bedeutet doch, dass er sich Mühe gibt.“
 
Fritz nickte. Eine schöne Stimme hatte sie. Nicht so dieses Krächzen mancher US-Frauen. Unangenehme Stimmen konnten ihn glatt davon abhalten, sich für eine zu begeistern.
 
Er begeisterte sich für sie. Klar, aber sie war zu jung für ihn. Fünfzehn, zwanzig Jahre, das war zuviel, da hatte er keine Chance. Also bewundern, anbeten ja, aber mehr...  Das musste er sich aus dem Kopf schlagen.
 
„Frau Wunderlich“, rief der Arzt, und seine Göttin entschwand.
 
„Mein Attest“, rief Fritz, und der Doktor drehte sich um und gab per Zeichensprache zu verstehen, dass er es bringen würde.
 
Zehn Minuten vergingen. Sein Blick irrte ziellos über die Reihe der Wartenden, und endlich kam der Doktor mit Frau Wunderlich im Schlepptau und drückte ihm das Attest in die Hand. Während sich Frau Wunderlich umständlich den Mantel überzog, warf Fritz einen ersten Blick auf das Schriftstück. Längst hatte er alle möglichen Diagnosen im Internet studiert, und schnell stellte er fest, dass der Fleck gutartig war.
 
Zusammen verließen sie die Praxis. Schon auf der Treppe fragte sie ihn, wie denn die Diagnose ausgefallen sei.
 
„Woher wissen Sie...“
 
„Ihre Mimik spricht Bände“, rief sie und lachte.
 
„So wie Ihre“, revanchierte er sich.
 
Sie traten auf die Straße.
 
„Eigentlich hätte ich gar keinen Mantel anziehen müssen.“
 
„Warum?“
 
„Weil ich da oben wohne, da, wo der Weihnachtsstern im Fenster blinkt.“
 
Fritz schaute nur halb interessiert hinauf. Sein Herz war froh, dass er nichts Ernsthaftes hatte.
 
Sie holte tief Luft. „Kommen Sie doch mit rauf. Auf einen Kaffee oder zwei.“
 
Kälte stieg in ihm auf. Klar, er hatte sie bewundert, sie war eine tolle Frau, aber nun war die Situation eine andere. Jetzt ging es konkret ans Eingemachte. Nun hatte er Farbe zu bekennen. Wollte er das?
 
Er sah sich im Geiste mit ihr die Treppe hinauf steigen, die Wohnung betreten, er sah das Mobiliar, das nicht seins war, das die Umgebung eines anderen Mannes bedeutete, dem er nichts weg nehmen wollte, weil auch er, Fritz, nichts weg genommen haben wollte.
 
„Wann kommt dein Mann?“, fragte Fritz trocken.
 
„Du Dummer“, rief sie und tat so, als wolle sie ihm mit dem Zeigefinger auf sie Nase tippen. „Du dummer, lieber Kerl  du“, rief sie. „Ich bin seit zwei Jahren Witwe, und außerdem schleppe ich dich nicht ab, wenn ich dich auf einen Kaffee einlade. Ich will dich einfach kennen lernen.“
 
Wie ein Trottel kam sich Fritz vor, als er ihr hinterher stolperte, das Attest immer noch in der Hand.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.11.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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