Peter Kröger

Amerika





Er will etwas fühlen, aber er steht nur da.
In einer Ecke lehnt er an der Wand, watet durch Zimmerreste und wittert einen Lufthauch, der von ihm kommt, oder vielleicht ist es das blaue Sakko über seinem Arm, annähernd meerblau, wie er denkt. Auf schwankendem Grund steht er am schiefen Erkerfenster ohne Glas und Farbe; einfallendes Sonnenlicht trifft seine gefalteten Hände wie im Gebet. Feiner Staub wirbelt. Der Unterschied zwischen Sommer und Winter, überlegt er und stellt sich etwas vor, was keinen Sinn macht, vielleicht ein Geschäft, das nichts einbringt, vielleicht ein leeres Kapitel in einem Buch. Dann hebt er einen Holzsplitter vom Boden auf,  und sticht ihn in den Daumen. Rote Tropfen fallen auf Ärmel aus weißer Seide.
Mit einem Mal ein irres Lachen, das in ein Wiehern übergeht. Es liegt an diesem schiefen Erkerfenster, denkt er, das schiefe Erkerfenster hat mir den Rest gegeben und dieses irre Lachen ausgelöst. Dabei hatte jemand mitten in der Nacht mit erregter Stimme und um Fassung ringend  auf seinen  Anrufbeantworter gesprochen und behauptet, das Haus sei abgebrannt und bis auf schwarze Mauerreste und einzelne Glutnester sozusagen dem Erdboden gleichgemacht.
Er hat es nicht geglaubt, aber er hat sich am frühen Morgen in den Zug gesetzt und ist hingefahren, hergefahren, wie er widerwillig denkt, den ganzen Weg von Sylt, fünf Stunden, natürlich erster Klasse, nur um festzustellen, dass es sich wie vermutet um falschen Alarm handelt, den vorerst letzten, seitdem er fernab auf der Insel lebt und eine Heimstatt im Dorf gefunden hat, wie er fast immer sagt, fast nie sagt er Kampen, obwohl das der Dorfname ist, den auch die kennen, die nie dort gewesen sind, ein friedlicher Ort, ohne Frage, wenn nicht gerade nachts Telefone läuten und rechtschaffene Bürger verschrecken.
Regelmäßig neue Schauermärchen über den Steinbruch in Berlin. Vor einiger Zeit rief Sören in Kampen an, eindeutig Sören war es, der fragte, ob es wahr sei, dass Berlin versteigert wird, einschließlich Karpfenteich und Kiefernwäldchen, natürlich auch die leeren Garagen nebst verwittertem Pool und Gartenhaus und er, Bruder und Insulaner, angeblich beabsichtige, den höchstwahrscheinlich nicht unbeträchtlichen Erlös – immerhin handelt es sich um den Ortsteil Grunewald -  dem Tierschutzverein zu spenden, so Sören, ausgerechnet dem Tierschutzverein, wo sein Bruder doch für Hunde, Katzen, Kanarienvögel oder gar Meerschweinchen bekanntermaßen überhaupt nichts übrig habe, ebenso wenig übrigens wie für reiche Menschen, die auf arm machten aus Angst um ihr Vermögen, von einem aus Unkenntnis zu kalt oder zu warm gelagerten Spitzenbordeaux ganz zu schweigen. Ob es denn wirklich wahr sein könne, dass ein feinfühliger Mensch wie er, Benedikt, dieses Anwesen mit Geschichte so einfach dem nächstbesten Höchstbietenden in den Rachen zu werfen imstande sei. Oder ob es ihm, wenn es sich nur um eine Art von übler Nachrede handele, nicht doch ein Anliegen sei, auf dieses Gerede mit der gebotenen Schärfe, gegebenenfalls sogar mit einer öffentlichen Erklärung zu reagieren?
Höchstwahrscheinlich Höchstbietender, sagte Benedikt ins Telefon, wartete auf Sörens Was? und legte auf. Ein Gespräch mit Sören endet in einem Desaster, dachte er, es ist ein Ding der Unmöglichkeit, mit Sören vernünftig zu kommunizieren.
Immer noch wiehernd wie ein Pferd wiederholt er jetzt am Erkerfenster in Gedanken Passagen dieses Telefonats. Den gedanklichen Schwung ausnutzend wagt er sich noch ein wenig weiter vor und erfindet Absurdes wie einen Gerüchtezuschlag, einen distinguierten Tierschutzverein und schließlich ein verwittertes, reiches Meerschweinchen. Dass er sich ohne Not, sondern lediglich mit einer hochgezogenen Augenbraue aufgemacht hat, und nach Berlin gereist ist, obwohl er keinen Moment an die Großbrandgeschichte geglaubt hat, muss am Tiefdruckgebiet über Sylt gelegen haben, an nicht enden wollenden Regenschauern im Hochsommer, sodass er eine plötzliche Reisestimmung empfunden hat, wie sie ihm sonst völlig fremd ist.  Also hat er sich  für das Naheliegende entschieden, nämlich nach New York zu fliegen und diese Reise mit einer kurzen Inspektion einer baufälligen Ruine in der Wernerstraße zu verbinden, die seit siebenundzwanzig Jahren nicht mehr bewohnt ist und zur Ruine verkommt, wie Sören nicht müde wird zu betonen: Benedikt, es verfällt.
Wenn alles abgebrannt wäre, hätte es ihm sein Berliner Verwalter Garbow, ein alter Freund der Familie, sowieso längst mitgeteilt, schon deswegen bestand keine Veranlassung, sich Sorgen zu machen, aber es kann nicht schaden, einen Blick auf alles zu werfen, mit diesem frischen Eindruck das Flugzeug nach New York zu besteigen und sich in der first class einen guten Bordeaux mit Beinfreiheit zu bestellen, wie er im Dorf sagt, in der Hoffnung, dass dieser Bordeaux mit angemessenen achtzehn bis neunzehn Grad den Geschmacksnerven keinen Schaden zufügt und seine von Sören so genannte Feinfühligkeit nicht mit knallenden Peitschenhieben malträtiert. Vom gütigen Garbow also kein Hinweis auf Brandschäden, so wie er in all den Jahren im persönlichen Umgang immer nur warmherzige oder beschwichtigende Worte gefunden hat und treu und gewissenhaft das tut, was getan werden muss. Wer Garbow kennt, mag ihn, denkt er.
Aber in Kampen nennt er die Wernerstraße mit einer gewissen Hingabe nur die Scheißwernerstraße und das Haus  das Scheißhaus in der Scheißwernerstraße, und manchmal denkt er daran, wie die langjährige Hausangestellte, Frau Peters, guter Geist und Gouvernante in einer Person, etwaigen Verschmutzungen oder Geruchsbelästigungen, aber auch Unordnung und Disziplinlosigkeit regelmäßig energisch entgegengetreten ist. Als er nach Kampen gezogen ist, hat er Frau Peters mit einem Bruttojahreseinkommen und einer kleinen Eigentumswohnung in Halensee abgefunden. Sören, der, auf welchen Wegen auch immer, davon erfuhr, sprach wutschnaubend von verschleudertem Vermögen. An einem herrlichen Morgen verließ ein Umzugswagen mit einigen wenigen Habseligkeiten die Wernerstraße in Richtung Sylt, während er zum Kurfürstendamm ins Hotel Kempinski fuhr, seine bestellte Suite bezog und sich ein Glas Champagner genehmigte, bevor er zu Sören in die Anstalt ging und so! sagte.
Mit kreisenden Schritten tritt er zurück in die Mitte des Raumes, dreht sich und lauscht. Draußen im wilden, hüfthohen Gras ein Flüstern. Die Schießscharte im Scheißhaus, denkt er mit Blick auf das Erkerfenster und glaubt draußen ein Huschen zu bemerken. Er legt an und sagt leise bumm!, aber der Schuss geht ins Leere.
In Kampen, meint sein Nachbar Lemmerhirt, ein Hamburger Industrieller und befreundeter Freigeist, den er scherzhaft seinen Zimmergenossen nennt, in Kampen wohnt man, wenn sich die emotionalen Ausnahmezustände des Lebens allmählich verflüchtigt haben und reiner Kontemplation gewichen sind. Wahre Worte. Und doch weiß er, dass starke Gefühle, oder genauer, die Erinnerungen an starke Gefühle bei seinem Umzug eine Rolle gespielt haben, wie auch der zu einem starken Verlangen sich verdichtende Gedanke an einen langsamen Verfall des Scheißhauses in der Scheißwernerstraße eine Rolle gespielt hat, ein Wunsch, den er, mehr oder weniger verklausuliert, nur dem verschwiegenen Herrn Garbow mitgeteilt hat, der die Aufforderung zum Nichtstun mit einigem Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm aber in den Folgejahren pflichtschuldigst umsetzte, indem er bis zum heutigen Tage in seinem, des Eigentümers, Namen alles unterlässt, was über das baupolizeilich Notwendige hinausgeht. Von Kampen aus telefoniert er höchstens zweimal jährlich mit Garbow, immer in einem freundlich-distanziertem Ton, und vergisst nie, neben dem monatlichen Scheck für geleistete beziehungsweise unterlassene Dienste eine Weihnachtspostkarte zu schicken, im vergangenen Jahr mit folgendem Wortlaut:

Lieber Herr Garbow,
gut Ding will Weile haben. Mag diese Weisheit auch etwas verstaubt und phantasielos daherkommen, so ist sie doch unbestritten die Grundlage nachhaltigen Tuns. In diesem Sinne danke ich für Ihre Arbeit und wünsche Frohe Weihnachten und ein gesundes, erfolgreiches neues Jahr. Grüßen Sie bitte Frau Peters.
Ihr Benedikt Stein

Zielen, treffen wollen. Der Schuss, der ins Leere geht. Wozu eine Schießscharte sonst gut ist, denkt er. Er starrt auf bröselnden Putz an den Wänden und verrottete Dielenreste. Wohin fällt er, wenn der Boden unter ihm nachgibt? In Sörens Zimmer, er fiele mitten in Sörens Zimmer, und wenn die Dielen auch dort nachgäben, läge er im großen Empfangszimmer mit zerschmetterten Gliedern und verpasste das Flugzeug nach New York und stürbe, ohne Barbara wiedergesehen zu haben im Battery Park, auf einer Parkbank, mit Blick auf den Fährableger nach Ellis Island, der Einwandererinsel, jedes Jahr im Sommer, wenn Barbara seiner Einladung nach Kampen wieder nicht folgt und ihn stattdessen ihrerseits nach Manhattan bittet: Sei so gut, Väterchen. Ich kann dein Kampen nicht leiden. Aber dich ertrage ich.
Sie kann Kampen nicht leiden, denkt er, aber ich mag die Parkbank im Battery Park. Plötzlich will er Frau Peters treffen, die er seit siebenundzwanzig Jahren weder gesprochen noch gesehen hat. Er verlässt die Butze, das Scheißhaus, über schwankende Treppen, liest im Vorbeigehen das Schild Betreten verboten! Einsturzgefahr! und schlendert am Kiefernwäldchen, an Pool und Gartenhaus vorbei. In das leere Karpfenteichbecken wirft er eine Scherbe, erwartet das klirrende Geräusch und ist enttäuscht, als er es hört. Über Bismarck- und Hubertusallee erreicht er mit seiner kleinen Reisetasche den Kurfürstendamm. Nach einer Weile biegt er ab und bleibt bald vor einem gepflegten weißen Altbau stehen. Er findet eine Klingel mit dem Namen Peters und läutet. Dann hört er eine Stimme, die er nicht kennt. Frau Peters? Schon lange nicht mehr. Ich bin ihr Sohn. Und wer sind Sie?
Erschüttert greift er zu seinem Mobiltelefon und versucht, Garbow anrufen, warum, weiß er nicht. Doch Garbow scheint nicht erreichbar zu sein, manchmal ist Garbow wie vom Erdboden verschluckt, denkt er. Kurz darauf wieder ein Anruf von Sören, der fragt, ob definitiv auszuschließen sei, dass das Haus versteigert werde, er wisse es aus sicherer Quelle und möchte jetzt endlich eine ehrliche Antwort, schließlich seien sie Geschwister, wenn auch das Haus fraglos ihm, Benedikt, gehöre, und er, der Bruder, finanziell abgefunden sei, aber heute bereue er, das Geld genommen zu haben.  Das einstmals so prächtige ihnen zugefallende Anwesen habe Benedikt ohne Not aufgegeben und wolle es doch gar nicht mehr wirklich besitzen. Kampen, versteigt sich Sören schließlich, sei doch alles, was Benedikt noch interessiere, ein Ort, wo nur Geisteskranke wohnen oder Verbrecher von der übelsten, nämlich der feinen Sorte oder handele es sich auch hier bloß wieder um ein Gerücht, das man getrost vergessen könne? Es sei zum Mäusemelken, eine Verrücktheit, eine Qual. Dann weint er. Im Hintergrund eine sanfte Stimme, unverkennbar Garbow, in der Anstalt dominieren sanfte Stimmen, denkt Benedikt, das Mobiltelefon in der Hand, Garbow, der Kümmerer. Ihr Bruder, Herr Stein?, hört er. Sie sollten sich schonen.
Aber Sören weiß nicht, wovon die Rede ist. Bruder? Was für ein Bruder?  fragt er zurück.
Manchmal vergisst man, dass Sören wahnsinnig ist, denkt Benedikt. Die alten Herrschaften Stein haben es nie vergessen und ihren jüngeren Sohn im ersten Stock des Scheißhauses weggesperrt und ruhig gestellt und beinahe unsichtbar gemacht. Noch fünf Jahre zuvor wäre ganz anders mit ihm verfahren worden, aber so wurde Frau Peters mit der Pflege beauftragt, und ich bin, sobald ich konnte, auf und davon nach Amerika und habe ein Kind gezeugt mit einer Frau, an die ich mich nicht erinnern kann, aber die es gegeben haben muss, ein Kind, das in der neuen Welt blieb, als ich zurück ging, zurückgehen musste, weil es nur noch ein Haus ohne Bewohner gab und Sören in einer Einrichtung, die eine Anstalt ist, dahindämmerte und bis heute dahindämmert, als ein großes Erbe zu verwalten war und eine Vergangenheit, die nicht vergehen wollte und Barbara alt genug war, um ihr eigenes Leben zu leben, ich wage kaum, denkt er, mich daran zu erinnern, dass ihre erste große Liebe auch noch wie Sören aussah, und das in New York, wo die Vielfalt groß ist und niemand so aussehen muss wie ein anderer.
Ich lege jetzt auf, Sören, sagt Benedikt. Ich fahre nach Amerika. – Das ist schön, flüstert Sören, vielleicht, weil Garbow es nicht hören soll, aber pass auf. Amerika ist groß. Man unterschätzt es immer.
Am Kurfürstendamm winkt Benedikt ein Taxi heran, das ihn zurück in die Wernerstraße fährt. Dem Fahrer sagt er: Ein kurzer Weg. Aber besser als nichts. Ich muss etwas erledigen und bin in Eile. Er überhört die Antwort: Wenn Sie es sagen. Wenig später zahlt er und vergisst das Trinkgeld.
Im Flugzeug glaubt Benedikt einen leuchtenden Punkt und eine dünne Rauchfahne auf dem Boden zu erkennen. Aber von hier kann ich es unmöglich sehen, denkt er und lehnt sich zurück. Der perfekt temperierte Pauillac entlockt ihm ein Lächeln. Schutt und Asche, sagt er und prostet der Stewardess zu, die ihn an etwas in Kampen erinnert oder New York. Dann liest er einen Bericht über den freien Fall der Börse und schläft ein. Nach einem langen Flug küsst er Barbaras Haar auf der Parkbank und erzählt vom Meer und Spaziergängen auf der Uwedüne. Wenn du es für dich behalten kannst, endet sein Vortrag, verrate ich dir noch eine Geschichte von zwei Zimmern und einem Haus. Zuerst will ich etwas fühlen. Doch ich stehe nur da.
Du mit deinen Benedikt-Geschichten, Brüderchen, sagt Barbara und überprüft die Möglichkeiten. Lass mich raten: Kampen. Amerika. Sie zögert. Wieder dieser Benedikt und seine Tochter? Dann winkt sie dem wartenden Lemmerhirt und geht.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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