Helga Edelsfeld

Morgen ist Weihnachten



Es ist der 23. Dezember und ein bitterkalter Wintertag. Der alte Mann geht langsam und etwas schwerfällig die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Er war einkaufen. Seine Tasche ist ziemlich schwer geworden und es bereitet ihm Mühe, sie bis in den 2.Stock zu tragen. Er denkt an seinen Sohn Sebastian, der ihn am Heiligen Abend  besuchen  wird. Für ihn hat er noch einige Extras, wie etwa eine Flasche Chianti Classico, Parmaschinken und dieses italienische Weißbrot, dessen Name er sich nicht und nicht merken kann, eingekauft.
 
Gedankenverloren sperrt er die Wohnungstüre auf, zieht Mantel und Schuhe aus und verstaut seine Einkäufe. “Hoffentlich habe ich nichts vergessen“, murmelt er leise. Sein Gedächtnis lässt ihn in letzter Zeit immer öfter im Stich. Auch mit der Orientierung will es manchmal nicht mehr so recht klappen. Der Lebensfaden ist halt schon dünn geworden und kann jederzeit reißen. Seine Gedanken gehen erneut auf Wanderschaft und kreisen wieder um seinen Sohn. Wegen eines dummen Streites hatten sie längere Zeit keinen Kontakt gehabt. Nun bot sich ihnen zum Glück Weihnachten als Gelegenheit, wieder zusammenzufinden. Trotz der Enttäuschung, dass sich sein Sohn so lange nicht bei ihm meldete, war er erleichtert, als dann endlich der erwartete Telefonanruf kam.
 
Während er zu einem gemütlichen Lehnstuhl am Fenster geht, fällt sein Blick auf die Anrichte. Dort steht  schon der Kuchen für den nächsten Tag bereit. Seine Nachbarin hat ihn gebacken und gleich noch einen Teller Weihnachtskekse dazugestellt. Sie ist eine nette junge Frau und wohnt mit ihrer kleinen Tochter in der gegenüberliegenden Wohnung. Er ist froh und dankbar über diese Nachbarschaftshilfe. Seine Frau ist schon vor vielen Jahren gestorben, da macht sich früher oder später die Einsamkeit breit. Der gute Kontakt zu den beiden hilft ihm aber, das Alleinsein leichter zu ertragen. Etwas müde geworden lehnt er sich im Sessel zurück und deckt sich mit einer Wolldecke zu.
 
Zur gleichen Zeit steht Sebastian in der kleinen Küche seiner 2-Zimmer-Wohnung .Er ist mit der Zubereitung einer Rindsuppe beschäftigt, wie sie früher immer am Weihnachtsabend zuhause auf den Tisch kam. Er weiß, dass er einiges gutzumachen hat und will daher seinen Vater mit der Suppe überraschen. „Ein schlechtes Gewissen ist wie ein bellender Hund. Es verursacht einen Dauerlärmpegel“, denkt er laut. Während die Suppe langsam köchelt, macht er es sich auf dem Sofa bequem.
 
Am nächsten Tag läutet Sebastian vergeblich an der Wohnungstüre seines Vaters. Schließlich sperrt er selbst die Wohnung mit dem Reserveschlüssel  auf und findet den alten Herrn im Lehnstuhl sitzend vor. Die Wolldecke ist zu Boden gerutscht. Als er ihn anspricht und an der  Schulter berührt, kommt keine Reaktion. Auch seine Hände sind eiskalt.
 
Sebastian ist verzweifelt. So hat er sich das Wiedersehen nicht vorgestellt. Er wollte seinem Vater doch noch Verschiedenes sagen und  jetzt hat er vielleicht gar keine Möglichkeit mehr. Da schreckt ihn ein schriller Klingelton auf. Es dauert eine Weile, bis er sich zurechtfindet und bemerkt, dass der Küchenwecker läutet. Er muss eingeschlafen sein. Erleichtert stellt er fest, nur schlecht geträumt zu haben. Offensichtlich haben sich seine Schuldgefühle im Traum zu Wort gemeldet. Nun will er aber keine Zeit mehr verlieren und beschließt, seinen Vater gleich zu besuchen.
 
Wenig später steht er klopfenden Herzens vor dessen Wohnung. Als sein Vater öffnet und er ihn gesund wiedersieht, fällt die Anspannung von ihm ab und ein warmes Glücksgefühl macht sich breit. „Vater!“ ruft er freudig und gleich darauf liegen sich Vater und Sohn in den Armen.
„Jetzt wird bestimmt alles gut, Weihnachten kann kommen! Der erste Stern ist gerade angezündet worden“, murmelt der alte Herr leise und wischt sich verstohlen die Tränen aus dem Gesicht.


Helga Edelsfeld

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.12.2012. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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