Diethelm Reiner Kaminski

Die Drohung

 

Man ist ja hellhörig geworden in diesen unruhigen Zeiten. Diese ständigen Meldungen von geplanten oder ausgeführten, geglückten oder missglückten Terroranschlägen im Ausland wie bei uns. Man traut sich schon gar nicht mehr ohne gepanzertes Fahrzeug auf die Straße. Da ich mir aber kein gepanzertes Auto leisten kann, muss ich mich wohl oder übel trauen, denn ich habe niemanden, der für mich einkaufen oder zum Zahnarzt oder zur Post geht. Die Zeiten, da ich noch verträumt und in Gedanken versunken vor mich hintrottete, sind ein für alle Mal vorbei. Mein Blick ist geschärft für mögliche Gefahren. Keine herrenlose Tasche, keine verdächtige Person würde meinen prüfenden Augen entgehen. Mein Handy halte ich immer griffbereit, damit im Falle eines Falles keine kostbare Zeit verloren geht, wenn ich den Polizeinotruf wähle. Die Empfehlung der Polizei: Rufen Sie lieber einmal zu viel als einmal zu wenig bei uns an, habe ich so verinnerlicht, dass ich allmählich den Eindruck gewinne, dass die Beamten meine Wahrnehmungen gar nicht mehr ernst nehmen. Dennoch tue ich meine Pflicht und melde umgehend alles, was mir nicht ganz geheuer vorkommt. Ich möchte mir später keine Vorwürfe machen müssen, nicht alles versucht zu haben, um einen blutigen Anschlag zu verhindern.

Einen Volltreffer habe ich bisher noch nicht landen können, aber in mir ist die Gewissheit gereift, dass die Gefahr dort heranwächst, wo wir sie am wenigsten erwarten. Wir beäugen misstrauisch einen harmlosen Fremden, der sich in unsere Straße verirrt hat, und vergessen darüber, dass sich hinter der biederen Maske eines Nachbarn ein Topterrorist verbergen könnte. Weiß ich denn, wo der seine Urlaube verbringt? Vielleicht gar nicht auf Gran Canaria, wie er uns weismachen möchte, sondern in einem Ausbildungscamp in Afghanistan oder im Sudan.

Grundsätzlich kommt jeder infrage, da muss man wachsam bleiben und unermüdlich weiter beobachten. Gutgläubigkeit könnte sich bitter rächen. Es ist doch hinreichend bekannt, dass sogenannte Schläfer viele Jahre lang bewusst ein gutbürgerliches Leben in Vorstadtsiedlungen führen. Und dann eines Tages schlagen sie unerbittlich zu, um der Welt zu beweisen, dass die in ihre Ausbildung investierten Mittel gut angelegtes Geld waren.

Am wenigsten über den Weg traue ich diesem Werner Schluppke am Ende der Straße, kurz vor der Kreuzung, der hier schon wohnte, als ich noch gar nicht geboren war. Er kennt mich wohl, aber grüßen tut er nie. Welche Hinterhältigkeit. Er unterläuft die Erkenntnis, dass Schläfer sich betont freundlich gebärden, um keinerlei Verdacht zu schöpfen. Dieser Mann bildet sich ein, gerade durch seine Verschlossenheit unverdächtig zu wirken. Da dürfte er sich getäuscht haben. Nicht bei mir. Ich schieße heimlich Fotos von ihm, notiere, wann er wohin geht, lege Bewegungsbilder an und werte sie abends aus. Traurig genug, dass Bürger, die eigentlich was Besseres zu tun hätten, schon die Arbeit der Polizei übernehmen müssen, aber die kriegen ja ihre dicken Hintern nicht aus den Sesseln gehoben.

Ich nutze jede Gelegenheit, um in Werner Schluppkes Nähe zu kommen, um meine Beobachtungen zu verfeinern. Ich gehe hinter ihm her oder überhole ihn, wo immer ich kann.

Beult seine Tasche? Ist er bewaffnet? Was sagt er, wenn er sein Handy benutzt? Trifft er sich mit anderen Personen?

Am auffälligsten aber ist: Er spricht mit sich selbst! Erst dachte ich, er habe ein Headset und telefoniere, aber nein: Er murmelt ständig etwas vor sich hin. Auch wenn ich ihn überhole, spricht er weiter und nimmt keinerlei Notiz von mir. Erst beim neunten oder zehnten Überholmanöver kann ich verstehen, was er sagt: „Das habt ihr nun davon. Ihr werdet es noch bereuen.“

Eine Drohung, ganz klar, eine Todesdrohung. Dieser Mann, den ich ganz richtig in seinem Gewaltpotenzial eingeschätzt habe, plant etwas Schlimmes. Warum sonst sollten wir etwas bereuen müssen?

Eile ist angebracht. Ich darf keine Zeit verlieren. Womöglich hat der Schluppke seine Sprengweste schon angelegt und ist auf dem Weg zum Wochenmarkt, um sie dort zu zünden.

Ich wähle die Notrufnummer der Polizei und schildere einem laut schmatzenden Beamten meine Beobachtungen. Statt eine Großfahndung auszulösen, frühstückt der in aller Ruhe weiter. „Schluppke?“, sagt er schließlich. „Werner Schluppke? Den kennen wir zur Genüge. Der schickt uns laufend Bekennerschreiben.“

„Und warum verhaften Sie diesen gemeingefährlichen Serientäter dann nicht?“

„Weil er völlig harmlos ist. Und offenbar nicht ganz richtig im Kopf. Er teilt uns in regelmäßigen Abständen mit, dass er niemanden mehr grüßt. Das hätten die Nachbarn nun davon. Sollen wir ihn deswegen verhaften? Trotzdem einen schönen Tag noch, und halten Sie weiterhin die Augen offen.“

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